Die Verordnungszahlen von ADHS-Medikamenten sind in den vergangenen zehn Jahren um fast 200 Prozent gestiegen. Experten gehen aber davon aus, dass viele Kinder diese Mittel zu Unrecht erhalten. Werden Kinder in Deutschland vorschnell als "hyperaktiv" bezeichnet?
Glaeske: Ich glaube, dass hier mehrere gesellschaftliche und medizinische Aspekte zusammenkommen. Zum einen findet die psychische Störung ADHS auch in der Medizin mehr und mehr Beachtung, es könnte also durchaus sein, dass eine frühere Unterversorgung von Kindern mit ADHS heute durch unterschiedliche Therapiemöglichkeiten ausgeglichen wird. Allerdings möchte ich in diesem Zusammenhang hinterfragen, ob die offenbar bevorzugte Therapie mit Arzneimitteln in all diesen Fällen die richtige ist. Gleichzeitig scheint es aus meiner Sicht aber auch viele Fälle von Über- und Fehlversorgung zu geben, wenn Kinder, die oft lebhaft oder unkonzentriert sind, vorschnell und ohne adäquate Diagnostik mit Ritalin und Co. behandelt werden.
Ist das Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssymptom eine erfundene Krankheit, um unbequeme Kinder medikamentös ruhig zu stellen?
Glaeske: Nein, ich glaube nicht, dass ADHS eine erfundene Krankheit ist. Ich glaube aber, dass die Grenzen dieser psychischen Störung bei Kindern nicht eng genug gezogen werden. Die Diagnostik des ADHS ist schwierig und zeitaufwendig. Nicht immer wird dieser Diagnoseprozess kompetent und qualifiziert, z.B. von Kinder- und Jugendpsychiatern, durchgeführt. Und dann kommt es eben zu Fehldiagnosen und falschen Einschätzungen der Kinder mit der Folge, dass tatsächlich unbequeme und irgendwie auffällige Kinder ruhiggestellt werden - Pillen für den Störenfried!
Machen diese Mittel abhängig? Welche Nebenwirkungen sind bekannt?
Glaeske: Psychopharmaka zur Behandlung von ADHS sind stark wirksame Arzneimittel. Sie dürfen nur angewendet werden, wenn auf Grund der Diagnose und der nicht erfolgreichen Versuche mit anderen Behandlungsmöglichkeiten eine medikamentöse Therapie gerechtfertigt erscheint. Nutzen und Risiken dieser Therapie müssen sehr sorgfältig in jedem Einzelfall abgewogen werden. Bisher ist bei der Behandlung mit von Kindern und Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr mit dem am häufigsten eingesetzten Wirkstoff Methlyphenidat kein Fall von Abhängigkeit bekannt geworden. Bei mehr als zehn Prozent der Kinder und Jugendlich kommt es aber zu Einschlafstörungen, erhöhter Reizbarkeit, Übelkeit, Weinerlichkeit und Appetitlosigkeit, die auch zur Gewichtsabnahme führen kann. Bei dem Mittel Strattera (Wirkstoff Atomoxetin) kann es auch zu Übelkeit, Erbrechen und vermindertem Appetit kommen. Wenn Herzrasen, Absenkung des Blutdrucks, Aggressivität oder Feindseligkeit sowie Selbsttötungsgedanken (bei 1 von 200 Kindern) auftreten, sollte dringend der behandelnde Arzt oder die behandelnde Ärztin aufgesucht werden.
Woran können Eltern erkennen, dass ihr Kind tatsächlich ADHS hat? Was sonst kann die Ursache für dieses Verhalten sein?
Glaeske: Eltern können allenfalls bestimmte Handlungsweisen oder Aspekte im Zusammenleben mit ihren Kindern beschreiben, die Diagnose gehört aber auf alle Fälle in die Hände klinisch erfahrener Kinder- und Jugendpsychiater oder speziell geschulter Kinderärzte. Denn auffällig lebhafte Kinder sind noch lange keine ADHS-Kinder! Die Eltern bekommen möglicherweise durch die Reaktion in Alltagssituationen oder bei Belastungen, beim Hausaufgabenmachen, bei einer besonders ausgeprägten Ablenkbarkeit Hinweise, die auf ADHS hindeuten können. Allerdings muss auch das Verhalten der Eltern selbst in Betracht gezogen werden. Kinder und Jugendliche, die einem pausenlosen Lärm-, Fernseh- oder Video-"Terror" ausgeliefert sind, mit denen wenig unternommen wird und denen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, geben möglicherweise über ihr Verhalten auch Signale an die Umwelt ab, dass sie sich mehr Beachtung wünschen.
Wie sieht die optimale Therapie bei ADHS aus?
Glaeske: Es gibt Leitlinien, nach denen behandelt werden sollte. Wenn die Diagnose qualifiziert und kompetent gestellt wurde, kommen zunächst pädagogische sowie eine mindestens sechsmonatige Verhaltens- oder Psychotherapie in Betracht. Wenn diese Maßnahmen nicht wirksam waren, um die Beschwerden ausreichend zu verbessern und zu befürchten ist, dass die Verhaltensstörungen den Lebensweg des Kindes nachhaltig beeinträchtigen werden, kann auch eine medikamentöse Therapie erwogen werden. Unter diesen Bedingungen sind Mittel mit Methylphenidat (Ritalin, Concerta, Equasym, Medikinet oder Methylphenidat-Generika) als geeignet bewertet. Diese kommen in rund 90 Prozent der Behandlungsfälle zu Anwendung. In 10 Prozent wird auch das Mittel Strattera verordnet. Bei diesem Mittel ist aber die wissenschaftliche Literatur noch längst nicht so umfangreich wie bei Methylphenidat, es gilt daher nur als eingeschränkt geeignet.
Hintergrundinformationen und das ungekürzte Interview finden Sie unter: http://www.bkk-mobil-oil.de/...