Unter den Fachreferenten, den präsentierenden Leitern der DGIHV-Sektionen und dem Publikum vor Ort herrschte der einheitliche Tenor, dass Patientenversorgung in der Hilfsmittelbranche interdisziplinär abgestimmt werden muss. Mit dem Ziel der effektiven und sicheren Behandlung sei es elementar, transparente Behandlungspfade zu diskutieren, festzulegen und kritisch auszuwerten. Bestehende und neue wissenschaftliche Auswertungen müssten herangezogen werden, um diese Behandlungsalgorithmen auf den Prüfstand zu stellen. Nur damit ließen sich Unsicherheiten der Behandelnden und Kostenträger vermeiden sowie kostenträchtige Reibungsverluste ausschließen. Nur einheitliche Qualitätsstandards würden – so der Konsens – die enge Abstimmung zwischen Politik, Krankenkassen, Hilfsmittelherstellern sowie Ärzten und Orthopädie(schuh)technikern ermöglichen. „Dieses Festlegen von Behandlungspfaden in der Hilfsmittelversorgung ist überfällig, wird aber erfreulicherweise über die in der DGIHV vereinten, verschiedenen Interessensgruppen aus Medizin, Handwerk und Herstellern aktuell mit großem Schwung bearbeitet“, so Mittelmeier.
Die Frage der Einsatzmöglichkeiten von Telekommunikation in der Hilfsmittelversorgung stellte Prof. Dr. Neeltje van den Berg in ihrem Fachvortrag „Nutzung von Telemedizin und eHealth bei der Implementation regionaler, sektorübergreifender Versorgungspfade“ dar. Als Bereichsleiterin des Greifswalder Institutes für Community Medicine für innovative Konzepte und regionale Versorgung sprach sie über den Einsatz von Telemedizin in der pädiatrischen Versorgung. Van den Berg präsentierte aus einer Studie neue Wege zum telemedizinischen Triage-Verfahren bei Kindern, das heißt, der Notfall-Beurteilung über Telekommunikation. Am Beispiel der zunehmenden Versorgungsprobleme im ländlichen Raum zeigte sie auf, wie sicher Spezialisten, hier universitäre Kinderärzte, über Telekommunikation kindliche Notfälle beurteilen konnten, die ihnen vom Hausarzt angetragen wurden: In 68 % aller Fälle konnten die Tele-Spezialisten die Triage-Dringlichkeitsstufe gleich einschätzen wie die am Patienten arbeitenden Ärzte , während in den übrigen Fällen die Dringlichkeit der Behandlung über- oder unterschätzt wurde und somit die Wertigkeit des Tele-Systems aufgezeigt werden konnte. „Die telemedizinische Kontaktaufnahme bietet insbesondere für ländliche Regionen viele Chancen. Es ist aber noch ein mühsamer Weg: Wir müssen uns weiter der technischen und organisatorischen Implementation sowie rechtlichen Fragen widmen“, resümiert van den Berg in ihrer Evaluation. „Die Technik muss einheitlich gestaltet und einfach sein.“
Die Frage nach dem Weg der „Europäisierung in der Hilfsmittelversorgung“ beantwortete Xavier Berteele, Vorsitzender des Verwaltungsrates der Belgischen Berufsvereinigung für Orthopädietechnik (BBTO∙UPBTO). Er kritisierte in seinem Vortrag sprachliche Unzugänglichkeiten der europäischen Medizinprodukteverordnung MDR und beschrieb die große Sorge belgischer Betriebe vor dem zusätzlichen Arbeitsaufwand und den Mehrkosten, die in den Versorgungsalltag integriert werden müssen. Anstatt zu resignieren, habe der BBTO als positiven Effekt der MDR seine europäische Zusammenarbeit intensiviert – unter anderem mit der DGIHV. Berteele unterstützt die Bestrebungen der DGIHV zur Einführung von Standardverfahren in der Hilfsmittelversorgung und fordert europäische Qualitätsstandards, transparente Preiskalkulationen sowie evidenzbasierte Studien. Aufwand und entsprechende Mehrkosten durch die neuen MDR-Regelungen seien laut Berteele für die Betriebe bisher keineswegs abgedeckt.
Es folgten die kompakten Berichte aus den DGIHV-Sektionen. Aufgrund ihrer Aktualität standen die Ergebnisse der Arbeitsgruppe (AG) Fuß und Schuh im Gesprächsfokus. Michael Möller, technischer Chair der AG Fuß und Schuh, fand deutliche Worte: „Digitalisierung wird ad absurdum geführt, wenn Patientinnen und Patienten ein Versorgungskonzept für Fußfehlstellungen aus dem 19. Jahrhundert als digitale Innovation verkauft wird. Die Trennschärfe zwischen Chancen und Irrwegen der Digitalisierung geht verloren, sodass wir hier auch als Fachgesellschaft einen deutlichen Auftrag haben. Digitale Versorgungskonzepte müssen sich in geltende Qualitätsstandards einfügen und diese durch neue innovative Konzepte weiterentwickeln. Bei der Unterschreitung gesetzlicher Mindeststandards, wie etwa der Hilfsmittelrichtlinie oder Medical Device Regulation (MDR) wird eine rote Linie überschritten.“ Fachärztliche Verordnung und fachgerechte Fertigung sowie Anpassung seien unverzichtbar. Daher schlug Möller vor, nicht nur Druck auf Krankenkassen und Politik auszuüben, sondern auch für wirklich innovative Konzepte ein DGIHV-Gütesiegel zu erarbeiten. Eine qualitätsgesicherte Patientenversorgung müsse Vorgaben aus Politik, von den Krankenkassen und die Erfahrungen aus der Praxis in Einklang bringen. Möller stellte zudem die Vorstellung des Kompendiums „Fuß und Schuh“ auf der kommenden OTWorld 2022 in Leipzig in Aussicht.
Die neugegründete AG Elektrostimulierende Hilfsmittel, die vom technischen Chair Lutz Klasen in Berlin präsentiert wurde, hat ebenso ein breites Feld von Medizinprodukten einschließlich innovativer digital armierter Hilfsmittel zu bearbeiten. In Neuroorthopädie, Sensomotorik, Neuroorthetik und Neurorehabilitation seien laut Klasen die Entwicklung und Erfassung von Indikations-, Therapie- und Qualitätsstandards besonders anspruchsvoll. Er freue sich über die fachliche Unterstützung durch seinen Chair-Kollegen Prof. Dr. Timo Kirschstein, Physiologe und Neurologe aus der Universitätsmedizin Rostock.
In der abschließenden Diskussion wurde deutlich, wie wichtig in der Hilfsmittelversorgung als unverzichtbare Säule des Gesundheitssystems Abstimmungsprozesse, interdisziplinäre Zusammenarbeit und zielgerichtete Implementierung neuer digitaler Technologien sind.