Vor rund zehn Wochen eröffnete die BARMER Krankenkasse für ihre rund acht Millionen Versicherten die Möglichkeit der „eVersorgung“ mit medizinischen Einlagen. Als Kooperationspartner hatte sich das Start-up Meevo/craftsoles angeboten, hinter dem Großinvestoren stehen. Mit Millionen an Werbegeldern sollte eine „Neue Sanitätshauskultur“ geschaffen, der Markt für Hilfsmittel neu gedacht werden. Erster Schritt hierbei: Orthopädische Einlagen, die unter dem Siegel „Krankenkassen geprüft“ an Versicherte abgegeben werden. Das Manager-Magazin berichtete unter dem Titel „Die digitale Rollator-Revolution“ über das Konzept der Online-Versorgung. Das Start-up selbst sprach von einem Meilenstein der Gesundheitsversorgung.
Warnungen medizinischer Fachgesellschaften
Was dabei als „innovatives und digitales Versorgungskonzept“ präsentiert wurde, birgt allerdings erhebliche Risiken für die Gesundheit und hat sämtliche orthopädische Fachgesellschaften zu einer Stellungnahme veranlasst – darunter die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC). Nach Auskunft dieser medizinischen Fachgesellschaften ist diese durch die BARMER angebotene Versorgung ohne Fachkontrolle „hoch fehleranfällig und birgt die Gefahr einer Fehlversorgung oder gar einer sekundären gesundheitlichen Schädigung in sich“. Durch die Selbstvermessung der Versicherten mittels eines zwei-dimensionalen Abdrucks sei „das therapeutische Ziel (Rückfußaufrichtung, Druckumverteilung) nicht zu definieren, da relevante Informationen (z.B. Flexibilität der Fehlstellung) fehlen.“
Zudem kommen die Fachgesellschaften in ihrer Stellungnahme zu dem Urteil, dass dieses Versorgungskonzept ohne fachmännische Begleitung den im Hilfsmittelverzeichnis festgeschriebenen Mindestanforderungen widerspreche. Und eine Versorgung gesetzlich Versicherter darf jenseits der Mindestanforderungen des Hilfsmittelverzeichnisses nicht erfolgen. Zuletzt sah sich die Arbeitsgemeinschaft (AG) Diabetischer Fuß e.V. in der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) dazu gezwungen, auf die Gefahren der „eVersorgung“ von Fußproblemen hinzuweisen.
Mehr als zwei Monate setzte eine der größten Krankenkassen ihre Versicherten diesem Risiko aus. Nun hat sie aufgrund einer Beanstandung der höchsten Aufsichtsbehörde, des Bundesamts für Soziale Sicherung, sowie aufgrund des rechtlichen Drucks zahlreicher Abmahnungen den „Feldversuch“ bis auf unabsehbare Zeit ausgesetzt.
Bestätigung der Rechtsauffassung
„Wir sind sehr froh, dass die höchste Aufsichtsbehörde offensichtlich unserer Rechtsauffassung gefolgt ist. Allerdings ist es erschreckend, dass eine der größten bundesweiten gesetzlichen Krankenkassen bereit ist, ihre Versicherten einem solchen Risiko überhaupt auszusetzen. Hier wurden gesundheitliche Schäden bewusst in Kauf genommen“, kommentiert BIV-OT-Präsident Alf Reuter. „Bei dieser laienhaften Versorgung per Versand und mit Selbstvermessung durch die Versicherten ging es nicht um innovative Versorgungskonzepte, schon gar nicht um digitalen Fortschritt. Es ging nur um Eines: Kostensenkung um jeden Preis. Dass man acht Millionen Versicherte in einen solchen ‚digitalen’ Feldversuch schicken kann, muss Konsequenzen haben.“ Zudem sei dies bereits der zweite Fall, in dem die Vertreter der Leistungserbringer – in diesem Fall in der ARGE* zusammengeschlossen – die Versicherten vor ihrer eigenen Krankenkasse hätten schützen müssen, so Reuter. „Grundlage dieses rechtswi drigen Vorgehens seitens der Krankenkassen waren jeweils Einzelverträge. Wir sehen uns daher auch in unserer Forderung nach Leitverträgen gestützt.“
„Wir sehen die Aussetzung der Online-Versorgung als klare Bestätigung unserer Rechtsauffassung. Aufgrund der zahlreichen massiven Rechtsverstöße kam es zu der Aussetzung des Versorgungskonzeptes auf unbestimmte Zeit. Diese Entscheidung kann als erster Schritt als positives Ergebnis eines geschlossenen Auftretens aller betroffenen Leistungserbringer sowie ihrer Organisationen gesehen werden. Die BARMER stand unter einem erheblichen Entlastungsdruck, der sich nun kanalisiert hat. Aufgrund der dennoch unbefriedigenden Einlassung und rechtlich unpräzisen Kommunikation der BARMER dürfte die Angelegenheit allerdings noch nicht vollends ausgestanden sein. Wir gehen daher davon aus, dass es auch zu schnellen Entscheidungen in der Rechtsprechung kommen wird“, erklärt Rechtsanwalt Nico Stephan, der derzeit die Klagen verschiedener Betriebe vor dem Sozialgericht koordiniert.
Hintergrundinformation: Die Produktgruppe Einlagen (PG 08) steht laut drittem Mehrkostenbericht* des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) im Hinblick auf die Zahl der Versorgungsfälle weiterhin an erster Stelle. Demnach wurden im betrachteten Untersuchungszeitrum zwischen 1. Januar bis 31. Dezember 2020 ca. 4,4 Millionen Versicherte mit Einlagen versorgt. Nach Angaben des GKV-Spitzenverbands betrugen die Leistungsausgaben für diese Produktgruppe etwa 482 Millionen Euro.
(Quelle: „Dritter Bericht des GKV-Spitzenverbandes über die Entwicklung der Mehrkostenvereinbarungen für Versorgungen mit Hilfsmittelleistungen gemäß § 302 Absatz 5 SGB V
Die Stellungnahme u. a. vom DGOOC zum Vorgehen der BARMER finden Sie hier.
Die Stellungnahme von der DDG finden Sie hier.
Mehr Informationen zur Online-Versorgung mit Einlagen finden Sie hier.
*In der ARGE PG 08 Online-Einlagen TK/Barmer haben sich folgende Verbände zusammengeschlossen: BIV-OT, CURA-SAN, EGROH GmbH, Deutsche Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung e.V. (DGIHV), IETEC Orthopädische Einlagen, Innungsverband für Orthopädie-Schuhtechnik Nordrhein-Westfalen, Landesinnung Bayern für Orthopädie-Schuhtechnik, Landesinnung Hessen für Orthopädieschuhtechnik, Landesinnung für Orthopädie-Schuhtechnik Niedersachsen und Bremen, ORTHEG Einkaufsgenossenschaft für Orthopädie-Technik, RehaVital Gesundheitsservice GmbH, Sanitätshaus Aktuell AG, Reha-Service-Ring und Zentralverband für Orthopädie-Schuhtechnik ZVOS.