"Undifferenziert von einem bedrohlichen Akademikermangel zu sprechen, erscheint unbegründet, auch wenn in bestimmten technisch und naturwissenschaftlich geprägten Beschäftigungsbereichen heute schon hochqualifiziertes Personal fehlt", stellt Manfred Kremer, Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung fest. "Hochschulabsolventenquoten junger Geburtenjahrgänge allein sind noch kein geeignetes Maß, um die technologische Leistungsfähigkeit eines Landes zu beurteilen und diesbezüglich sinnvolle Politikempfehlungen abzuleiten." Zweckmäßiger, so die Ergebnisse der BIBB-Analyse, ist die Betrachtung des Akademikeranteils in der Erwerbsbevölkerung. Dieser wiederum ist unter Einbeziehung von Besonderheiten der jeweiligen nationalen Bildungs- und Arbeitsmarktstruktur zu interpretieren. Im Gegensatz zu den Absolventenquoten bleibt der Akademikeranteil unter den 25 bis 64-Jährigen in Deutschland mit 24 Prozent nur leicht hinter dem OECD-Mittel von 27 Prozent zurück.
Von einer Unterversorgung des deutschen Arbeitsmarkts mit Akademikerinnen und Akademikern über alle Beschäftigungsbereiche hinweg kann aktuell noch keine Rede sein. Der Anteil der 25 bis 64-Jährigen mit tertiärem Bildungsabschluss liegt leicht über dem Anteil der gleichen Altersgruppe in Beschäftigungen mit hohen Anforderungen, welcher gut 20 Prozent beträgt (siehe Abbildung). Zwar fällt dieser Überschuss geringer als in anderen Ländern aus, dies kann aber damit erklärt werden, dass das deutsche Bildungssystem entsprechend ausgebildetes Personal auch durch berufsbildende Aus- und Weiterbildungsgänge zur Verfügung stellt. "In Deutschland werden Kompetenzen, die in Ländern ohne ein ausgebautes Berufsbildungssystem an Hochschulen vermittelt werden, vielfach durch berufliche Aus- und Weiterbildung erworben", betont Kremer. Um die freien Stellen mit hohen Anforderungen konkurrieren nicht nur Akademiker, sondern auch viele gut ausgebildete Fachkräfte, die sich entsprechend weiterqualifiziert haben. Betrachtet man das Verhältnis der hochqualifizierten 25-64jährigen und der Personen in Beschäftigungen mit hohem Anforderungen, so lässt dies eher den Schluss zu, dass in Deutschland Bildung und Beschäftigung besser aufeinander abgestimmt sind als in anderen OECD-Ländern.
Die Sorge um einen kurzfristigen Akademikermangel in Deutschland lässt sich somit auf Grundlage der BIBB-Analyse eindeutig relativieren. Gleichwohl muss in Deutschland auch weiterhin die Ausbildung hochqualifizierter Fachkräfte gefördert werden. Kremer: "Dazu sollte aber nicht nur das Hochschulstudium attraktiver werden, sondern auch die anspruchsvolle berufliche Fortbildung ausgeweitet und die Durchlässigkeit zwischen diesen Bildungsbereichen verbessert werden. So könnten auch bereits Erwerbstätige bedarfsgerecht höher qualifiziert werden."
Um künftig einen Mangel an hochqualifizierten Fachkräften zu vermeiden, empfehlen die BIBB-Experten ferner für effiziente Rahmenbedingungen im Bildungssystem zu sorgen. Zum Beispiel wäre es wünschenswert, durch differenziertere Prognosen die Informationslage zur Entwicklung von Angebot und Nachfrage nach Absolventen bestimmter Ausbildungsgänge und Fachrichtungen zu verbessern. Außerdem sollten die Unternehmen die Möglichkeit stärker nutzen, das Fachkräfteangebot durch Kooperationen mit Bildungseinrichtungen oder Stipendien zu beeinflussen und die Bereitschaft junger Menschen für anspruchsvolle akademische und berufsbildende Qualifizierungswege zu wecken.
Den Artikel in der Ausgabe 2/2009 der "Zeitschrift Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis" finden Sie zum kostenlosen Download unter www.bibb.de/...