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Kinderregelleistungen in der Grundsicherung sind plausibel und sachgerecht

(lifePR) (Berlin, )
Zur am heutigen Dienstag in Karlsruhe stattfindenden mündlichen Verhandlung im Rahmen der verfassungsrechtlichen Prüfung der Kinderregelsätze in der Grundsicherung für Arbeitsuchende erklärt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf Basis des Vortrags von Detlef Scheele, Staatssekretär im BMAS:

Bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung der Regelleistung geht es aus Sicht der Bundesregierung auch um die gesellschaftspolitische und kontrovers diskutierte Frage, in welchem Umfang denjenigen Unterstützung zukommt, die zu wenig Einkommen haben, um ihren Lebensunterhalt selbst vollständig decken zu können. Die Bundesregierung ist sich dieser Tatsache und der daraus resultierenden Verantwortung bewusst. Deshalb hat sie bereits und wird sie auch in Zukunft den Umfang der Fürsorgeleistungen überprüfen und fortentwickeln. Damit reagiert sie auf geänderte gesellschaftliche Wertvorstellungen und Verhaltensweisen und greift neue wissenschaftliche Methoden zur Bedarfsermittlung auf.

Die Bundesregierung erachtet die Regelleistungen für Erwachsene und Kinder als ausreichend. Maßgeblich dafür sind im Kern vier Gründe:

Erstens:
Bedarfe lassen sich nicht ausschließlich mathematisch berechnen ¿ sie bedürfen immer auch Wertentscheidungen. Das gilt insbesondere für Kindesbedarfe. Deutlich wird das wertende Element am Beispiel des Rauchens: Unter Berücksichtigung der Risiken des Rauchens wäre es sicherlich vertretbar gewesen, wenn der Gesetzgeber die Konsumausgaben für das Rauchen als nicht bedarfsrelevant angesehen hätte. Gleichwohl hat er es als Bestandteil des gesellschaftlich üblichen Verhaltens in die Bedarfsermittlung mit der Hälfte der Ausgaben für Tabakkonsum als regelsatzrelevant einbezogen. Strikte Gegner des Rauchens würden Ausgaben für Tabak wahrscheinlich gar nicht berücksichtigen, Raucher dagegen zu 100%. Jede dieser Bewertungen des Tabakkonsums ist nachvollziehbar. Und jede dieser Entscheidungen würde im Rahmen des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers liegen.

Diese und zahlreiche weitere Wertentscheidungen sind in die Festsetzung der heutigen Bedarfe eingeflossen. Zu diesen Wertentscheidungen gehört auch die Frage, welches von mehreren wissenschaftlich anerkannten Verfahren zur Bedarfsermittlung herangezogen wird. Der Gesetzgeber entschied sich, den Regelbedarf anhand der Verbrauchsausgaben von Einpersonenhaushalten im Niedrigeinkommensbereich zu ermitteln(sog. Statistikmodell). Diese Daten basieren auf der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes.

Zu den Grundentscheidungen des Gesetzgebers gehört auch die Frage, nach welcher Methode der Regelbedarf von Kindern bestimmt wird. Während der Bedarf von alleinlebenden Erwachsenen relativ leicht aus deren Verbrauchsausgaben zu ermitteln ist, stellt sich dies für Kinder deutlich schwieriger dar: Kinder leben nicht alleine, sie leben in Familien. Sie führen kein eigenes Haushaltsbuch. Familienausgaben lassen sich nicht in allen Fällen eindeutig dem Kind zuordnen. Familienausgaben lassen sich auch nicht einfach durch die Zahl der Personen teilen: Jeder weiß, dass z.B. kleine Kinder weniger Nahrungsmittel zu sich nehmen als Eltern.

Kurzum: Der Bedarf eines Kindes ist ¿ anders als der alleinlebender Erwachsener ¿ über die Verbrauchsausgaben nur zu ermitteln, indem der familiäre Zusammenhang, in dem die Kinder leben, berücksichtigt wird.

Zweitens:
Andere wissenschaftliche Methoden zur Bedarfsermittlung wurden vom Gesetzgeber aufgrund ihrer Schwächen verworfen.

Um einen isolierten Kindesbedarf zu ermitteln, könnten die Haushaltsausgaben von Familien mit und ohne Kindern miteinander verglichen werden. Die Differenz in den Haushaltsausgaben beider Familientypen müsste der Kindesbedarf sein. Diese Differenzmethode hat jedoch einen entscheidenden Nachteil: Es ist bekannt, dass Eltern mit geringen Einkommen ihren eigenen Verbrauch zu Gunsten ihrer Kinder einschränken. Dieser Verzicht zeigt sich nicht bei den Gesamthaushaltsausgaben der Familie mit Kind. Folge wäre, dass aus der Differenz zwischen den Gesamtausgaben eines Paares mit und ohne Kind ein zu geringer Kindesbedarf ermittelt würde.

Aus diesem Grund hält die Bundesregierung die Differenzmethode für ungeeignet, um den Kindesbedarf zu ermitteln.

Zur Berücksichtigung des familiären Zusammenhangs, in dem Kinder leben, gehört auch die Erkenntnis, dass die Verbrauchsausgaben pro Kind von der Größe der Familie und der Zahl der Kinder abhängt: Jeder, der Kinder hat, weiß, dass nicht nur in Familien mit geringem Einkommen bestimmte Gegenstände an das zweit- und drittgeborene Kind weitergegeben werden. Bei Nahrungsmitteln sind Familienpackungen günstiger als Singleportionen.

Der Gesetzgeber, der die Bedarfe aus den Verbrauchsausgaben ableitet, hätte daher den Bedarf eines zweit- oder drittgeborenen Kindes geringer festsetzen können, als den Bedarf des erstgeborenen Kindes. Anknüpfend an die Tradition der früheren Sozialhilfe und in Kenntnis der Tatsache, dass damit für zweit- und drittgeborene Kinder eine - bezüglich des zusätzlichen Bedarfs - im Vergleich zum ersten Kind relativ höhere Leistung gezahlt wird, entschied er sich jedoch gleichwohl dafür, bei Kindern lediglich nach Altersgruppen zu unterscheiden.

Dass ein solches Vorgehen nicht selbstverständlich ist, verdeutlicht ein Blick ins europäische Ausland. Ein Vergleich der europäischen Fürsorgesysteme ist wegen der gegebenenfalls gewährten weiteren staatlichen Leistungen immer nur bedingt aussagekräftig. Er zeigt aber: In vielen europäischen Ländern wird der Einspareffekt pro zusätzlichem Kind in der Familie berücksichtigt.

Die Länder, die den Kindesbedarf altersabhängig ausgestalten, haben unterschiedliche und unterschiedlich viele Altersstufen. Während in Schweden sieben Altersstufen bestehen, gibt es in Norwegen ¿ ebenso wie inzwischen in Deutschland ¿ drei Altersstufen. Die OECD-Skala geht dagegen von nur zwei Altersstufen aus.

Betrachtet man ein drittes haushaltsangehöriges Kind im Alter von 13 Jahren, so liegt der Kindesbedarf gemessen am Regelbedarf eines Alleinstehenden in den untersuchten europäischen Ländern zwischen 20% und 86%.

Drittens:
Das Fürsorgesystem muss zukunftsoffen ausgestaltet sein. Zur Vielzahl normativ wertender Prozesse bei der Festlegung von Bedarfen gehört auch die Grundentscheidung, wie stark geänderte Wertvorstellungen in der Gesellschaft bei der Bedarfsbemessung berücksichtigt werden sollen.

Noch vor wenigen Jahren war in der Sozialhilfe streitig, ob zu den angemessenen Lebensverhältnissen eines Hilfebedürftigen ein Schwarz-Weiß- oder Farbfernsehgerät gehört. Heute mag sich die Frage bei Mobiltelefonen, morgen bei energieeffizienten Kühlschränken stellen.

Wenn die Gesellschaft diejenigen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, an veränderten Lebensgewohnheiten der Mehrheit der Bevölkerung teilhaben lassen möchte, muss sie bereit sein, die einmal getroffenen Wertentscheidungen regelmäßig zu überprüfen.

Das bis 1989 geltende Warenkorbsystem führte immer wieder zu Diskussionen, welche Gegenstände in welchem Umfang existenzsichernd zu berücksichtigen sind. Demgegenüber hat das Statistikmodell den Vorteil, dass es sich an den Verbrauchsgewohnheiten und am Verbrauchsniveau einer vergleichbaren Bevölkerungsgruppe orientiert, nämlich an den Beziehern von geringen Einkommen, die nicht hilfebedürftig sind. In diesen Verbrauchsausgaben finden geänderte Lebensgewohnheiten und Wohlstandsveränderungen unmittelbar ihren Niederschlag.

Der Gesetzgeber und die Bundesregierung haben so unmittelbar die Möglichkeit, geänderte Lebensgewohnheiten bei einer Bedarfsfestsetzung zu berücksichtigen.

Viertens:
Das Existenzminimum zu gewährleisten ist Aufgabe des Bundes, aber auch der Länder und der Kommunen. Das Grundgesetz verpflichtet alle Staatsgewalt, die Grundrechte zu achten. Der Verfassungsauftrag, allen Bürgerinnen und Bürgern ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, richtet sich damit gleichermaßen an den Bund, wie auch an die Länder und Kommunen.

Das Leistungsrecht der Grundsicherung für Arbeitsuchende hat zwar die Funktion, allen Bürgerinnen und Bürgern ein angemessenes Lebensniveau zu gewährleisten und Teilhabechancen zu eröffnen; allerdings baut es auf diejenigen Leistungen auf, die bereits in anderen Systemen der sozialen Sicherung geregelt sind oder dort geregelt werden müssten.

Kommunen erbringen zum Beispiel Leistungen der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe, an der sich auch die Länder beteiligen. Die Länder haben zudem die Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Bildung, die eine angemessene Teilhabe am Leben in der Gesellschaft erst ermöglicht. Der Bund trägt die Verantwortung dafür, dass durch die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung die entsprechenden Risiken weitgehend abgedeckt werden.

Die Aufzählung zeigt, dass die existenzsichernde Funktion der Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht isoliert vom Umfang und der Existenz anderer Leistungen beurteilt werden kann. Sie ist nicht und kann nicht das Auffangsystem für diejenigen sozialen Sicherungssysteme sein, die nicht hinreichend ausgestaltet sind: Der Jugendhilfeträger hat ¿ genauso wie der Grundsicherungsträger ¿ seine Hausaufgaben zu erledigen und den existenzsichernden Bedarf in seinem Bereich zu sichern. Der Landesgesetzgeber hat sicherzustellen, dass der Schulbesuch nicht daran scheitert, dass sich die Eltern die Fahrtkosten zur Schule nicht leisten können.

Gerade der Bedarf von schulpflichtigen Kindern ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Bundesregierung und der Gesetzgeber ernsthaft darum bemüht sind, die Methodik der Kindesbedarfsermittlung fortzuentwickeln.

Eine Sonderauswertung der EVS 2003 im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales durch das Statistische Bundesamt im Jahr 2008 hat vom Grundsatz her die Bemessung der Höhe der abgeleiteten Regelsätze für Kinder nach der geltenden Regelsatzverordnung bestätigt. Dazu wurde die ausdifferenzierte Studie ¿Kosten eines Kindes¿ herangezogen, um mit Hilfe der Verteilungsschlüssel für die kinderspezifischen Ausgaben von Familien Kinderregelsätze zu ermitteln.

Es zeigte sich aber, dass bei einer stärkeren Altersdifferenzierung ¿ drei statt zwei Altersstufen bei Kindern ¿ der Bedarf eines Kindes in der Altersgruppe von 0 bis 5 Jahren erheblich von der Altersgruppe der 6- bis 13-Jährigen unterscheidet. Für Kinder zwischen 6 und 13 Jahren lag der regelsatzrelevante Verbrauch um 33 ¿ höher als der damalige Regelsatz. Für Kinder von 0 bis 5 Jahren dagegen um etwa 16 ¿ und Kinder ab 14 Jahren um etwa 18 ¿ niedriger als bei den damals jeweils geltenden Regelsätzen.

Der Gesetzgeber entschied sich daher zum 1. Juli 2009, die dritte Altersstufe für Kinder einzuführen und den Status quo für Kinder 0 bis zu 5 Jahren und ab 14 Jahren entgegen der Ergebnisse der Sonderauswertung zu beizubehalten. Damit stellt sich der Kinderregelbedarf zwar derzeit weiterhin als prozentual abgeleiteter Bedarf dar; in Wirklichkeit handelt es aber um die Ermittlung eines kinderspezifischen Regelbedarfs.

Bei der Diskussion über die Höhe der Regelleistung wird zudem häufig ein wichtiger Punkt vergessen. Der Dritte Armuts- und Reichtumsbericht zeigt: Die Chance, ein existenzsicherndes Einkommen aus eigener Arbeit zu erzielen, ist und bleibt der Königsweg, um Armut zu bekämpfen.

Das belegen Zahlen aus dem Bericht eindrucksvoll: In einem Haushalt, in dem kein Elternteil erwerbstätig ist, beträgt die Armutsrisikoquote der Kinder 48 Prozent. Ist nur ein Elternteil in Vollzeit erwerbstätig, verringert sich die Armutsgefährdung der Kinder auf 8 Prozent. Arbeiten alle im Haushalt lebenden erwachsenen Personen in Vollzeit, so beträgt das Risiko der Kinder, arm zu sein, nur noch 4 Prozent.

Von 48 Prozent auf 4 Prozent Armutsgefährdung allein dadurch, dass die Eltern in Vollzeit arbeiten. Daraus leitet sich der zweite Auftrag der Grundsicherung für Arbeitsuchende ab, der gleichrangig neben der Existenzsicherung steht: Wir müssen Menschen in Arbeit bringen, damit sie sich anerkannt fühlen und ihren Lebensunterhalt sichern können.
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