Etwa 60 Millionen Menschen befinden sich derzeit laut UN-Flüchtlingsrat weltweit auf der Flucht. In Deutschland hat sich in 2015 bisher knapp 1 Million von ihnen registriert – eine enorme Herausforderung, die viele Menschen verunsichert. Auch in Wandlitz war die Verunsicherung groß, nachdem die Einrichtung eines Flüchtlingsheims beschlossen wurde. Doch aus anfänglicher Ablehnung wurde schnell ein freundschaftliches Miteinander. Wie das gelang, erzählt Mathis Oberhof in einer Lesung aus seinem Buch „Refugees Welcome“.
Mathis Oberhof, geboren 1950, war von 2012 bis 2013 Koordinator des Runden Tisches Wandlitz, der die Willkommenskultur für Flüchtlinge organisierte. Für diese Arbeit wurde er mit verschiedenen Ehrungen ausgezeichnet, zuletzt mit der Ehrenmedaille des Landes Brandenburg.
5 Fragen an Mathis Oberhof
Die aktuelle Flüchtlingssituation stellt Deutschland vor eine große Herausforderung. Viele Menschen zweifeln daran, dass Kanzlerin Angela Merkels Worte „Wir schaffen das!“ wirklich umsetzbar sind. Wie sehen Sie die Situation?
Nach 3 Jahren Flüchtlingshilfen Wandlitz bin ich der festen Überzeugung, dass wir das nicht nur schaffen müssen, sondern, dass wir das auch schaffen können. Und ich gehe einen Schritt weiter, dass es diesem Land gut tun wird, wie wir es gemeinsam mit den Newcomern verändern. Offener, toleranter, pluralistischer, in Richtung einer "Globalisierung der Herzen" und auch, in den Worten von Angela Merkel: neben „deutsche Gründlichkeit“ einen Riesenschritt vorwärts in Richtung „deutsche Flexibilität“.
Ihr Buch „Refguees Welcome“ soll Mut machen statt zu verunsichern. Empfinden Sie die aktuell geführte Flüchtlingsdebatte als zu negativ?
Na, es ist ja nicht so, dass sich für mich nicht auch unbeantwortete Fragen stellen. Aber es kann doch jetzt nicht darum gehen, immer nur neue Probleme aufzulisten, sondern Lösungen. Und da leisten die ca. 2000 Willkommensinitiativen, die in den letzten Monaten entstanden sind Unglaubliches. Ja, ich finde die Debatte derzeit zu negativ, weil von dem Wirken dieser kreativen, sich selbst steuernden Graswurzelinitiativen (trotz aller Fortschritte) noch viel zu wenig in die öffentliche Meinung gerät. Dem soll mein Buch abhelfen!
So schrecklich es ist, dass wir derzeit mehrmals in der Woche einen Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft erleben. In all diesen Orten gibt es meist auch Willkommensinitiativen. Für einen Brandanschlag brauche ich einen Verbrecher, 5 l Benzin und ein Streichholz. Für die Willkommensinitiative brauche ich 50-100 Menschen, die monatelang (in Wandlitz und anderswo oft schon jahrelang) einen Großteil ihrer Freizeit spenden für fantasievolle, ausdauernde, empathische Integrationsinitiativen. Die Brandanschläge machen Angst, die Willkommens-Kultur macht Mut - diesen Aspekt in den Vordergrund zu stellen, ist das Hauptziel meines Mutmacherbuches!
In ihrem Buch erzählen Sie, wie die gelebte Willkommens-Kultur einiger engagierter Wandlitzer zu einem Stimmungswandel in der ganzen Stadt geführt hat. Was hat Sie dazu bewegt, sich aktiv den Gegnern des Flüchtlingsheims entgegenzustellen und sich für die Flüchtlinge vor Ort einzusetzen?
Als ich auf der größten Bürgerversammlung seit der Wende, die gegen die Einrichtung eines Flüchtlingsheims gerichtet war vor 3 Jahren das Wort ergriff, habe ich mir nichts gedacht, sondern einfach meinem Herzen gefolgt , und ich habe schon gar nicht geglaubt, dass so eine großartige Welle der Solidarität und Kreativität in unserem Provinzstädtchen über uns hereinbricht.
Von meiner Mutter, die aus Ostpreußen flüchten musste und meinem Vater, dessen Schwester von den Nazis im Rahmen der Euthanasie-Operation ermordet wurde, im Geist der Toleranz, des Pluralismus und des Widerstands gegen jede neue Spielart der Diktatur erzogen, hatte ich mir einfach nur vorgenommen, um Solidarität für die Flüchtlinge zu werben. Dass dann so viele Menschen nach einer zunächst scheußlich verlaufenen Versammlung sich in so vielen verschiedenen Bereichen engagieren würden, ob Deutschunterricht, ob Ausflüge mit Kindern, ob Integration Sportvereine oder die Fahrradwerkstatt, ob Begegnungsfeste oder die Öffentlichkeitsarbeit in den sozialen Medien, das hätte ich nie zu hoffen gewagt. Das war die direkte Reaktion auf den Schock der Ausländerfeindlichkeit einer kleinen Minderheit. Eine Minderheit allerdings, die so laut und aggressiv auftrat, dass man zunächst glauben konnte, es sei die Mehrheit.
Wie ist die Situation in Wandlitz heute?
Vor 3 Jahren ging es um 50 Flüchtlinge, heute sind es knapp 300. Und es würde mich nicht wundern, wenn es am Ende des nächsten Jahres 600 sind. Bei 23.000 Einwohnern! Kein Wandlitzer muss den Gürtel irgendwie enger schnallen! Integration wird immer normaler. Nicht mehr nur Bürgerbegegnungsfeste zwischen den Flüchtlingen und den Einheimischen, sondern selbstverständliche Beteiligung der Flüchtlinge an den Adventsmärkten, an den Stadtteilfesten, in den Sportvereinen, in den Schulen sowieso, in den Kirchengemeinden. In Wandlitz spürt man kaum mehr „Angst vor Ausländern“. Deshalb brauchen Ausländer keine Angst mehr vor den Wandlitzern haben. Und das ist der Hintergrund, warum wir heute in Wandlitz eine No-Go-Area für Neonazis geworden sind.
Sie sind überzeugt, dass die Erfolgsgeschichte von Wandlitz sich auch an anderen Orten wiederholen kann. Was braucht es damit das auch gelingt?
Ich war immer der Meinung, dass die Wandlitzerinnen und Wandlitzer nicht anders ticken wie die Oldenburger, die Greifswalder, die Passauer oder die Menschen aus Ludwigshafen.
Wer unseren Adressen-Anhang des Buches studiert, kann sich davon überzeugen, dass das, was vor 3 Jahren noch singulär als der "Wandel von Wandlitz“ bezeichnet wurde, heute in ganz, ganz vielen Ortschaften, Städten und Dörfern Realität ist und wird. Ich sage nicht, dass es leicht ist, aber ich bin der festen Überzeugung, es lohnt sich. Und weil "aller Anfang schwer ist“, hier 5 Vorschläge für den einfachen und schnellen Einstieg, ganz individuell und ganz persönlich zu handeln nach dem Motto „Refugees Welcome – Willkommen Fremde in meiner Stadt, in unserer Umgebung! 3. März 2016 | 19.30 Uhr | Stadthalle Chemnitz | Kleiner Saal
Tickets ab 5,00 € erhalten Sie im Ticket-Service MARKT 1, Tel. 0371 4508-722 sowie unter www.stadthalle-chemnitz.de