Seit dem Erdbeben gibt es in Tanias Nachbarschaft kein fließendes Wasser mehr. Tania, das älteste von vier Kindern, ist seitdem dafür verantwortlich, Wasser für die Familie zu besorgen. Das bedeutet, regelmäßig einen halben Kilometer entlang einer einsamen, vom Bäumen gesäumten Straße zu laufen. Am 7. Februar, zwischen halb sechs und sechs Uhr abends, als Tania gerade von der Wasserquelle zurück kommt, spürt sie plötzlich eine kalte Klinge in ihrem Nacken. Sie dreht sich um - und lächelt. Sie denkt, es sei ein Scherz, als sie den Mann wiedererkennt: Es ist der Freund ihrer Freundin. Tania grüßt ihn, und ist überrascht, als er nicht von seiner bedrohlichen Haltung ablässt. Stattdessen presst er die Machete weiter gegen ihren Hals. "Wenn du dich bewegst, oder schreist, dann werde ich dich in Stücke hacken", sagt er zu ihr.
Niemand kam zu Hilfe
Schockiert schaut sie ein zweites Mal in das Gesicht des Mannes, der sie schon so oft auf seinem Motorrad nach Hause gefahren hatte. Sie wundert sich, was in seinem Kopf vorgeht. "Ich möchte es machen, und ich möchte es mit dir machen. Du lässt mich, oder ich töte dich!", befiehlt er. Sie schaut sich um, aber es ist niemand zu sehen, der ihr zur Hilfe eilen kann. "Er zog mir mein Oberteil aus und band meine Handgelenke damit zusammen. Er hörte nicht auf, mich mit der flachen Seite seiner Machete zu schlagen. Bis ich zusammenbrach." Sie hält für einen Moment inne, ihre Augen sind voller Tränen. Ihre Lippen bibbern und sie hebt ihren Kopf, um ihre Tränen zu stoppen. "Ich weiß nicht mehr, was danach geschehen ist. Ich will es nicht mehr wissen. Nachdem er aufgestanden war, löste er die Knoten. Unter der Bedrohung seiner Machete zwang er mich, zu gehen. Um mich herum war es dunkel, also machte ich einen Sprung, um zu entkommen. Schlussendlich schaffte ich es, nach Hilfe zu schreien."
Da Tania nicht nach Hause kommt, zieht ihre Mutter los, sie will ihre Tochter suchen. "Ich bin in die Arme meiner Mutter gefallen, und habe ihr erzählt, was geschehen war", sagt Tania. Noch am selben Abend laufen beide zur Polizeistation und machen dort eine Aussage. "Der Polizeichef hat mich mehrere Male gebeten, nicht zu lügen. Ich sollte mir sicher sein, ob der Kerl mich wirklich vergewaltigt hatte. Nach meiner Aussage empfahl er mir, mich nicht zu waschen und am nächsten Morgen so schnell wie möglich zu einem Krankenhaus zu laufen. Dort solle ich einige Tests machen lassen, die wichtig seien, um den Täter zu überführen," erinnert sich Tania. "Er gratulierte mir überschwänglich dazu, eine Anzeige gegen meinen Vergewaltiger erstatten zu wollen."
Die Eltern waren verärgert
"Danach musste ich beschämt nach Hause zurückkehren und mich meinen verärgerten Eltern stellen. Denn sie waren überrascht, kein Blut in meiner Unterhose gefunden zu haben. Mein Vater begann mich anzuschreien und warf mir vor, meine Unschuld schon vor der Vergewaltigung verloren zu haben. Das war alles, was ihm in diesem Moment wichtig war." Tania erzählt weiter: "Diese Nacht war ein richtiger Albtraum. Ich musste den Horror immer wieder durchleben. Und zusätzlich musste ich die Erfahrung machen, von den wenigen Menschen, die mich eigentlich in einer so schweren Zeit unterstützen sollten, zurückgewiesen zu werden. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, spürte ich die Schneide der Machete in meinem Nacken, den heißen Atem meines Vergewaltigers, und sein Gewicht auf meinem Körper." Selbstzweifel packten sie: "Ich wollte mich selbst töten. Ich fühlte mich so schuldig! Warum habe ich nur diesen Weg genommen? Warum bin ich auf seine Grüße eingegangen? Ich hätte sein wahres Ich erkennen und ihn ignorieren müssen. Vielleicht habe ich ihn dazu ermutigt, in dem ich nett zu ihm gewesen bin?"
In dieser Nacht macht Tania kein Auge zu. Ihre Eltern auch nicht. Später erkennen sie, dass sie mit ihrem Verhalten ihrer Tochter nicht dabei helfen würden, die Peinigung und Schmach zu überleben. Die Mutter braucht Zeit, sich in die Lage ihrer Tochter zu versetzen und zu verstehen, was Tania durchmachen muss. Die Eltern begleiten sie, erst ins Krankenhaus, und dann zum Richter, um eine Anzeige zu erstatten. "Der Arzt, die Schwestern, jeder war sehr nett zu mir. Aber die Medizin! Das war eine andere Sache." Einen Monat lang muss Tania Medizin gegen eine mögliche Schwangerschaft und gegen jegliche Geschlechtskrankheit, die sie sich von ihrem Angreifer hätte holen können, einnehmen. Sie hat Übelkeit und Schwächeanfälle. Aber sie bleibt gesund.
Geld gegen Schande
Das Schwerste aber ist der Besuch der Eltern ihres Vergewaltigers. Sie kamen vorbei und boten ihr Geld - im Gegenzug sollte Tania den Richter beschwichtigen, gnädig mit ihrem Sohn zu sein. "Sie sagten, er wäre zu jung fürs Gefängnis. Sie gingen sogar soweit, mir zu befehlen, ich solle dem Richter erklären, es wäre nicht die Schuld ihres Sohnes gewesen", sagt sie mit bitterer Ironie in ihrer Stimme. "Ich brauchte Zeit und die Unterstützung meiner Eltern, um zu verstehen, dass ich keine Schuld an dem Vorfall hatte. Ich dachte, ich wäre ein Einzelfall gewesen, aber im Krankenhaus waren noch viele andere Mädchen. Einige waren sogar jünger als ich, andere waren erwachsene Frauen."
Tania erzählt weiter: "In diesem Moment begriff ich, warum der Polizeibeamte mich dazu aufgefordert hatte, Anzeige zu erstatten. Ich verspürte Zorn gegenüber den Frauen, die schon vor mir vergewaltigt worden waren, aber sich nicht bei der Polizei gemeldet hatten. Wegen ihnen hätte ich mein Leben verlieren können. Wegen ihnen wurde mir ein Teil meiner Jungend und meine Unschuld gestohlen."
Schweigen verdammt andere
Tania wird Anzeige erstatten und vor Gericht ziehen, um sicherzustellen, dass kein anderes Mädchen jemals Opfer dieses Mannes wird. "Und das Geld, welches mir seine Eltern geboten haben? Na ja, sie können ja mal damit versuchen, die Zeit zurückzudrehen, um die Vergewaltigung zu verhindern", erklärt die junge Künstlerin. "Jedes Mal, wenn eine vergewaltigte Frau schweigt und sich einschüchtern lässt, verdammt sie eine Schwester, eine Cousine, eine Freundin - mich - dazu, dass selbe Schicksal zu teilen. Sie lässt damit ein Monster frei auf der Straße rumlaufen. Ich möchte, dass meine Aussage ihnen hilft zu verstehen, dass sie nicht alleine sind, und dass sie sich noch mehr in Gefahr begeben, wenn sie nicht zur Polizei gehen."
Tania ist Teil eines Kulturclubs, der sich seit dem Erdbeben am 12. Januar zu einem kleinen Unternehmen entwickelt hat. Sie hat dort eine Arbeitsstelle gefunden und verdient genug, um ihrer Familie auszuhelfen. Ihr Peiniger wurde verhaftet. Seitdem fühlt sie sich befreit von der Angst, die sie jedes Mal erzittern ließ, wenn sie alleine war. Trotz dieses Vorfalls hat sie den Kontakt zu ihren männlichen Klassenkameraden und Freunden nicht aufgegeben. Und sie hat sich ihren Stolz und ihre Würde bewahrt.
CARE leistet medizinische und psychologische Hilfe für misshandelte Frauen in Haiti.
Um die Sicherheit der Frauen in den Camps zu gewährleisten, haben CARE-Mitarbeiter geschützte Notunterkünfte sowie separate Latrinen und Waschgelegenheiten errichtet. Zusammen mit lokalen Partnerorganisationen wurden dort Medikamente zur Sofortbehandlung von vergewaltigten Frauen bereit gestellt. In allen Nothilfemaßnahmen in Haiti wird der besondere Bedarf und Schutz von Frauen integriert und umgesetzt.
In der ersten Hälfte des Jahres 2009 hat die Organisation SOFA (Solidarity Fanm Ayisyèn -Haitian Women's Solidarity) 136 Fälle von Vergewaltigung in vier Departments (West, Southeast, Artibonite, Grande' Anse) dokumentiert. Davon waren 68 Fälle Vergewaltigungen von Minderjährigen, drei haben in Schwangerschaften geendet, vier wurden von Wiederholungstätern verübt, 17 waren Gruppenvergewaltigungen, und fünf Fälle waren versuchte Vergewaltigungen.
* Der Name des Opfers wurde aus Diskretionsgründen geändert.