- Profile der Prototypen werden per Hand geschnitzt
- Erfahrung und Fingerspitzengefühl sind Erfolgsgaranten
- 25 Millionen Versuchskilometer pro Jahr
Der silbergraue BMW rast aus Richtung der untergehenden Sonne heran. Die Scheinwerfer sind aufgeblendet. Scharf und dunkel heben sich die Konturen der bayerischen Limousine gegen den feuerroten Himmel ab. Mit exakt 100 Kilometern pro Stunde passiert sie die Zielmarke. Der Fahrer greift das Lenkrad fester und tritt das Bremspedal durch. Die Räder blockieren im schnellen Stakkato der ABS-Anlage. Kleine Rauchwolken dringen aus den Radkästen. Von nun an zählt die umfangreiche Bordelektronik jeden Zentimeter Bremsweg. Von der Bremsmarkierung bis zum Stillstand der Reifen errechnet der Computer eine Strecke von 36 Metern - rund vier Meter weniger als Vergleichsmessungen mit dem Vorgängermodell ergaben.
Als der Testpilot das Ergebnis vom Display abliest, weiß er, dass die Entwicklungsarbeiten am neuen Reifen einen großen Schritt voran gekommen sind. Er lenkt den BMW in die Wartezone des Versuchsgeländes. Punktgenaues Bremsen ist die eine Hälfte des Jobs, Reifenwechseln die andere - zum x-ten und letzten Mal an diesem Tag. Der Aufwand hat sich gelohnt. Ein weiterer Punkt aus dem Pflichtenheft in dem alle Ziele aufgeführt sind, die das Projektteam am Ende der Entwicklung erreicht haben will, ist erfüllt.
Dafür haben diverse Techniker und Chemiker zuvor ihr Know-how zusammengetragen, Lösungsansätze für das Überwinden von Zielkonflikten entwickelt und daraus optimierte Konturkonzepte abgeleitet. Anschließend entstanden daraus die ersten Profilvarianten. Aber erst auf der Teststrecke schlägt nach Materialtests im Labor und zahlreichen Computer-Simulationen die Stunde der Wahrheit. Erst jetzt zeigt sich, was die neuen Ideen wert sind. Denn obwohl im Bereich der Reifenentwicklung schon sehr viele Schritte über virtuelle Simulationen abgewickelt werden, gibt es für die Original-Messdaten und die subjektiven Beurteilungen der Testfahrer mit ihrer langjährigen Erfahrung keinen gleichwertigen Ersatz. So stehen bei jeder Produktneuentwicklung stets diverse Tests mit unterschiedlichen Profilen an, um die Stärkenund Schwächen der einzelnen Muster herauszuarbeiten.
Das Besondere an dieser frühen Testphase ist, dass noch keine Produkte aus der Vulkanisationsform zur Verfügung stehen. Stattdessen werden die Fahrzeuge mit Prototypen ausgestattet, deren Profile per Hand oder vom Roboter geschnitzt wurden. Rund sechs Stunden benötigt ein Reifenschnitzer für einen Sommerreifen, komplizierte Winterprofile dauern länger - manchmal bis zu 40 Stunden. Das ist zwar sehr aufwändig, aber immer noch viel günstiger als die Herstellung via Reifenform. Und das, obwohl bis zu 800 auf diese Weise hergestellte Reifen im Rahmen einer Neuentwicklung benötigt werden.
Die besten Profile werden ausgewählt, weiter optimiert und immer wieder getestet, bis sich schließlich das eine Profil durchsetzt, das später in Serie gehen soll. Und erst dann kann die erste Reifenform produziert werden.
Im Wesentlichen finden die Reifentests von Continental auf dem Contidrom statt. Die konzerneigene Teststrecke in Jeversen, einem kleinen Ort in der Südheide, ist die Mutter aller Konzern-Teststrecken. Sie wurde bereits 1967 in Betrieb genommen und seit dem kontinuierlich modernisiert, um den stetig steigenden Anforderungen an Reifen- und Fahrzeugversuche Rechnung zu tragen. Heute gehört das Contidrom zu den modernsten Teststrecken weltweit und wird deshalb von vielen Kunden in der Automobilindustrie als Referenz betrachtet.
Auf einer Gesamtfläche von 160 Hektar bietet das Testgelände alle erdenklichen Möglichkeiten der Reifenerprobung. Auf rund zehn Kilometern Strecke mit unterschiedlichsten, teils vollständig bewässerbaren, Fahrbahnoberflächen werden Geschwindigkeiten bis zu 250 Kilometer pro Stunde erzielt. Hinzu kommen Strecken, die zur Erprobung von Fahrwerkselementen dienen. Rund 60 Mitarbeiter sorgen permanent für einen reibungslosen Ablauf - darunter Testfahrer, Monteure, Techniker, Ingenieure, Datenverarbeiter und Feuerwehrleute.
Bei der Wahl der Fahrzeuge gehen die Tester zielgerichtet vor. Ein wichtiges Auswahlkriterium ist ein möglichst neutrales Fahrwerk, das sich auch im Grenzbereich gutmütig verhält. Denn die Messwerte sollen das Reifenverhalten unabhängig von Fahrwerkeinflüssen unverfälscht und reproduzierbar wiedergeben. Um zufällige Einflüsse auszuschließen, wird jeder Einzeltest mehrmals wiederholt. Dutzende Sätze à 4 Reifen müssen pro Test und Reifentyp dafür herhalten. Ein nicht unbeträchtlicher Aufwand, wenn man bedenkt, dass jeder einzelne dieser Reifen zuvor auch noch rund 500 Kilometer lang eingefahren wird.
Insgesamt gliedern sich die Prüfungen im Rahmen der Fahrversuche in zwei Bereiche: die subjektiven Beurteilungen und die Standardprüfungen (objektiv). Subjektiv beurteilen erfahrene Fahrer das Handlingverhalten des Reifens auf nasser und trockener Fahrbahn, den Komfort sowie die Reifengeräusche. Die Standardprüfungen erfassen einen Großteil der Leistungseigenschaften des Reifens, die messbar sind.
Dazu gehören:
- das Nassgriffverhalten auf feuchter Fahrbahn (geradeaus und in Kurven),
- das Bremsverhalten auf trockenen Fahrbahnoberflächen,
- das Aquaplaningverhalten bei Geradeausfahrt und in Kurven,
- diverse Wintertauglichkeitstests und
- die Abwerfsicherheit des Reifens.
Beide Testansätze werden benötigt, um eine vollständige Bewertung eines neuen Reifens erstellen zu können. Wie gut sich die Verfahren ergänzen, wird beispielsweise beim Vergleich der Bewertung des Reifen-/Fahrbahngeräusches deutlich: Im Labor und auf der Geräuschmessstrecke des Contidroms gemessene Werte zeigen zwar, dass ein Reifen die gesetzlichen Vorgaben bestens einhält - die subjektive Einschätzung des Versuchsfahrers kann jedoch ein gegenteiliges Bild ergeben. Ob ein Reifen unangenehme, für den Fahrer nervende Reifen-/Fahrbahngeräusche entwickelt, kann mit objektiven Messmethoden nicht vollständig ermittelt werden. Der persönliche Eindruck, das Gehör und die Erfahrung des Testfahrers sind hierfür unverzichtbar. Andere Reifeneigenschaften können dagegen nur objektiv oder nur subjektiv bewertet werden. So ist der Bremsweg eines Fahrzeuges immer ein objektives Messergebnis. Beim Handling dagegen können trotz gleicher Rundenzeiten unterschiedliche Ergebnisse herausgefahren werden: So ist es wichtig, dass ein Reifen einen breiten Grenzbereich besitzt, damit dem Fahrer Zeit zur Reaktion bleibt. Ein Reifen, der einen schmaleren Grenzbereich hat, mag bei den Rundenzeiten vorne liegen und dennoch eine schlechtere Bewertung des Testfahrers bekommen.
Der Aufwand für diese Versuchsfahrten ist trotz standardisierter Verfahren immens - insbesondere für Winterreifen. Denn dazu gehören zusätzlich weit mehr als 60.000 Einzelmessungen pro Jahr der Übung "Anfahren auf Schnee". Knapp 800 Kilometer kommen zusammen, wenn man die einzelnen Bremswege beim "Bremsen aus 100 km/h bis zum Stillstand" zusammen rechnet. Um die Seitenführung der einzelnen Testreifen-Modelle zu beurteilen, werden 18.000 Kurven auf Eis und Schnee gefahren - rund 700 Kilometer weit.
Kein Wunder, dass sich der zeitliche Rahmen über viele Monate, manchmal gar über Jahre, erstreckt. Da bleibt es nicht aus, dass widrige Witterungsbedingungen die Fortsetzung von Erprobungsreihen auf dem Contidrom unmöglich machen. Auch unter solchen Umständen darf der Reifenversuch mit seinem stets eng gesteckten Zeitplan nicht ins Stocken geraten. Die Crew steigt in solchen Fällen ins Flugzeug und verlegt das Testprogramm komplett auf eine andere Strecke (immer begleitet von einem Teil der rund 25 Tonnen Reifen, Testgeräte und Testwagen). Und die liegt notfalls auf einem anderen Kontinent. Zu diesem Zweck unterhält Continental ähnliche Testgelände unter anderem in Spanien und Asien.
Damit die Arbeit reibungslos fortgesetzt werden kann und weil die Ingenieure für die Bewertung der einzelnen Entwicklungsschritte reproduzierbare Messverfahren benötigen, müssen die Bedingungen mit denen auf dem Contidrom übereinstimmen. Die Teststrecken des Continental-Konzerns weisen deshalb weltweit nahezu identische Fahrbahnbeschaffenheiten auf. Insgesamt legen neue Reifenmodelle vor dem eigentlichen Produktionsstart jährlich rund 25 Millionen Testkilometer zurück - das entspricht beeindruckenden 625 Erdumrundungen. Zuviel Aufwand? Mitnichten. Auf dem Weg von der Idee zum Produkt sind Reifentests zwar nur ein kleiner Ausschnitt - aber ein besonders wichtiger. Und obwohl die Berufsbezeichnung Testfahrer für viele nach einem großen Abenteuer klingen mag: sie selbst empfinden ihren Job in aller Bescheidenheit überwiegend als unspektakulär. Stattdessen sind sie davon überzeugt, dass auch durchschnittliche Autofahrer die Leistungsunterschiede zweier unterschiedlicher Modelle in der Praxis nachvollziehen könnten. Vielleicht weniger die Handlingeigenschaften auf trockener Fahrbahn, aber sicherlich die typischen Nässeeigenschaften: Bremsverhalten, Nasshandling und Aufschwimm-Geschwindigkeit. Wer beim Neukauf von einem Premium-Reifen zu einem Pneu minderer Qualität wechselt, wird dies erfahrungsgemäß vor allem bei Nässe schon in der ersten Kurve spüren.