„Alle Leinen los“ erzählt also die wahre Geschichte eines Abenteuers, das zwei unschuldige Rentner und ihren hageren Hund durch England, Belgien und Frankreich und auf hohe See hinaus führt. Die drei steigen über meterhohe Brecher in der Nordsee, werden von der furchtbaren Rhône malträtiert und kämpfen in der Camargue ums nackte Überleben. Sie zittern vor Vandalen und wandelnden Toten, Außerirdischen und Superdeppen, Kanalkiebitzen und Killerfischen.
Terry Darlington entführt seine Leser an Bord eines klassischen englischen Narrowboats, einer stählernen, mit Jahrmarktlettern und Blumenkübeln dekorierten Zigarre, die nicht nur wegen ihrer grotesken Maße von sieben mal sechzig Fuß kaum unter Kontrolle zu halten ist. Sondern auch, weil ihr Kapitän so rein gar nichts von Bootstechnik und Steuerkunst versteht. Und weil an der Pinne der Phyllis May stets höchste Konzentration gefordert ist: „Um ein englisches Hausboot zu steuern, stehst du am Heck, schaust am Dach entlang nach vorn und hältst zwischen deinen Pobacken einen Besenstiel aus Messing, der mit dem Ruder verschraubt ist. Jedes Gekräusel der Wellen spürst du bis in deine Zahnwurzeln. Ein Moment der Unaufmerksamkeit, und schon krachen sechzehn Tonnen Stahl und Geschirr in die Landschaft. Wenn du ein anderes Hausboot triffst, prallst du ab, und wenn du eine dieser Glasfaseryachten erwischt, fährst du einfach hindurch, ohne dass ein Laut zu hören wäre.“
„Alle Leinen los“ gerät zum urkomischen und lyrischen Plädoyer für den wahren Sinn des Reisens – nicht möglichst schnell irgendwo ankommen, sondern in Seelenruhe in die Welt eintauchen. „Ach, das bemitleidenswerte, erdverwachsene Gesindel, wie es durch das Straßengewirr vagabundiert – für mich die silbern glitzernde Fernstraße, das echte Zigeunerleben: mein Begleiter der Reiher, der einsame Wächter der Bäche und Flüsse, meine Anhängerschar die Enten, mein Garten die weiten Täler, mein Zeichenzimmer der Tresen im Navigation Inn“, schreibt Terry Darlington gleich im ersten Kapitel: Und so tuckert die Phyllis May mit maximal sechs Knoten durchs Grüne, unter Brücken hinweg, durch Hinterhöfe der Städte. Die Darlingtons laden zur nächtlichen Karnickeljagd in Oxfordshire, machen ihren historischen Kahn im London der Banker fest, erleben in Flandern und Lyon grausige Geschichte aufs Neue, werfen ein Seil um den Fuß des Eiffelturms, geraten im Burgund unter Kontrolle feindlich gesinnter Lebensformen, steuern die Saône hinab von Weingut zu Weingut, werden von der hinterhältigen Rhône überwältigt, tunken ihre Bugspitze ins Mittelmeer und kühlen im Midi ihren Mut an deutschen Freizeitkapitänen.
Terry Darlington zeigt uns die vielen unentdeckten Seiten von Frankreich: die Kanäle unterhalb von Paris, die himmlische Yonne, die verbotenen Wege ans Mittelmeer. Er lässt uns teilhaben an seltsamen und heiteren Begegnungen mit den Briten, Belgiern und Franzosen, die kein normaler Tourist zu sehen bekommt: Dichter und Hafenmeister, Trinker und Trolle, Gelehrte und Verrückte – denn ein jeder will die Menschen von dem bemalten Boot kennen lernen. Und vor allem ihren hageren Hund…
Illustrationen von Christopher Corr sowie Terry Darlingtons höchst effektiver Sprachkurs „Französisch in 15 Minuten“ runden diese Reiseerzählung ab, die trotz aller Lacher stets auch eine Mahnung bleibt, nicht leichtfertig zu vergessen – weder die Gräuel des Zweiten Weltkriegs noch die traditionellen Werte von Liebe, Familie, Natur und jambischem Versmaß.
Die drei Protagonisten:
Terry Darlington ist während des Zweiten Weltkriegs im walisischen Pembroke Dock aufgewachsen – zwischen einem Stützpunkt für Flugboote vom Typ Short Sunderland und einer Erdölraffinerie. Er überlebte und zog nach Staffordshire, wo er das international tätige Marktforschungsunternehmen Research Associates und den Laufverein Stone Master Marathoners gründete. Wie so viele Waliser ist Terry Darlington äußerst redselig und zutraulich, mit zwei linken Händen ausgestattet und dazu verpflichtet, täglich im Pub herumzulungern. Er liebt Bootfahren, hat aber nicht den blassesten Schimmer davon.
Monica Darlington stammt aus Radnorshire. Ihr Vater war Gärtner und ihre Mutter Hausmädchen, aber vielleicht war es auch genau andersherum. Monica hat mit Auszeichnung Französisch studiert, dreißig Marathonläufe absolviert und kann im Gegensatz zu Ehemann Terry verdammt weit springen. Erst seit sich ihre drei Kinder fortgepflanzt haben, sind letzte Zweifel ausgeräumt, ob sie und Terry derselben Spezies angehören. Monica liebt Bootfahren, hat aber nicht den blassesten Schimmer davon.
Jim, der Hund und wahre Held der Geschichte, heißt eigentlich Brynula Great Expectations und entstammt einer langen Ahnenreihe von Whippets, die ähnlich lächerliche Namen trugen. Wenn er will, läuft er mit vierzig Meilen pro Stunde. Aber er ist feige, er stiehlt, er kann sich nicht benehmen. Und er hasst Bootfahren.
Die Darlingtons im Internet: www.narrowdog.com
Der Illustrator:
Christopher Corr, Jahrgang 1955, studierte Grafikdesign in Manchester und Illustration am Royal College of Art in London. 2002 erhielt er den renommierten AOI Silver Award. Er lebt und arbeitet als Künstler und Illustrator in London. Mehr unter: www.christophercorr.com
Bereits in dieser Reihe erschienen:
ISBN 978-3-936973-05-1 / Tim Moore: Alpenpässe und Anchovis. Eine exzentrische Tour de France
ISBN 978-3-936973-13-6 / Felix Göpel: Mit dem Fahrrad zur WM. Von Kreuzberg nach Korea
ISBN 978-3-936973-18-1 / Tim Moore: Zwei Esel auf dem Jakobsweg
ISBN 978-3-936973-28-0 / Tim Moore: Null Punkte. Ein bisschen Scheitern beim Eurovision Song Contest