Befördert durch eine 2009 veröffentlichte Übersichtsarbeit zum Thema Botulinum-Toxin1 (BT), wurde in den Berichten behauptet, die erkrankten Personen hätten sich durch Übertragung von Tier zu Mensch mit „chronischem Botulismus“ angesteckt.2 In dieser Publikation von Dressler et al. wird von vier Personen berichtet, die zum Zeitpunkt des Auftretens ihrer Symptome in einem landwirtschaftlichen Betrieb in Schleswig-Holstein gearbeitet hatten, dessen Rinderbestand von „chronischem Botulismus“ betroffen war. Die Autoren diagnostizierten anhand der Symptome und bei Fehlen anderer Ursachen erstmals das Vorliegen eines „chronischen Botulismus“ beim Menschen und sprechen von einem „neuen Krankheitsbild“. Als mögliche Ursache der Symptome nennen sie entweder eine intestinale Besiedlung mit dem BT-produzierenden Bakterium Clostridium botulinum oder eine „kontinuierliche exogene Zufuhr von BT“.
Wesentliche Kriterien für einen kausalen Zusammenhang fehlen
Vor diesem Hintergrund betont die DGN, dass bisher in keinem einzigen Fall das Vorliegen eines „humanen chronischen Botulismus“ durch eine Erregerübertragung belegt ist. „Es wurden Analogien aus der Veterinärmedizin zur Humanmedizin gezogen, wenngleich in unabhängigen stichprobenartigen Stuhluntersuchungen der beiden humanen Patienten in verschiedenen Laboren, unter anderem im Robert Koch-Institut, kein Hinweis auf Botulinum-Neurotoxin oder das Bakterium Clostridium botulinum im Stuhl gefunden wurde“, kommentiert der federführende Autor des Kapitels „Botulismus“ der fünften Auflage der DGN-Leitlinien3, Prof. Dr. Erich Schmutzhard von der Universitätsklinik für Neurologie in Innsbruck. Derzeit sind wesentliche Kriterien für einen kausalen Zusammenhang (z.B. Kohärenz, Konsistenz, Spezifität, Stärke des Zusammenhangs) zwischen dem postulierten Krankheitsbild und einer Toxiko-Infektion aufgrund einer Besiedlung mit Clostridium botulinum bzw. einer kontinuierlichen exogenen Zufuhr von Botulinumtoxin nicht erfüllt.
Die entsprechende, von allen Koautoren mitgetragenen und nach Begutachtung freigegebenen Passage der neuesten DGN-Leitlinien lautet: „Das Syndrom eines humanen chronischen Botulismus bei Menschen, die in der Landwirtschaft tätig sind, wird postuliert, ohne dass bisher ein eindeutiger Beweis für seine Existenz gelungen ist.“ Ob das Krankheitsbild des „chronischen Botulismus“, das in der Veterinärmedizin seit mehr als zehn Jahren kontrovers diskutiert wird, auch bei Menschen, die in der Landwirtschaft in engem Rinder- bzw. Tierkontakt stehen, tatsächlich existiert und damit eine gesundheitspolitische Relevanz hätte, ist derzeit noch nicht bekannt.
Quellen
1. Dressler, Saberi, 2009 Botulinum Toxin: vom Medikament zum Toxin. Fortschr Neurol Psychiat 77, Suppl. 1.
2. Z.B. Sendung „Report Mainz“ (SWR) vom 11.10.2010: „Botulismus: Die verharmloste Krankheit“ oder Frontal 21 vom 31.01.2012: „Fleisch kranker Tiere im Handel“.
3. On file. Erscheint im Herbst 2012 im Thieme Verlag.