Der Bundesrat darf Ende März auf keinen Fall der Einführung einer Zwangsausbildung in einer allgemeinmedizinischen Praxis zustimmen. Die vorgelegte Änderung der ärztlichen Approbationsordnung (ÄAppO) sieht nach einer Idee nordrhein-westfälischer Allgemeinärzte unter anderem vor, dass alle Studenten anstelle eines Fachs ihrer Wahl (Wahltertial) im Praktischen Jahr eine Pflichtzeit in einer allgemeinmedizinischen Praxis absolvieren müssen. Mit dieser Maßnahme sollen mehr Studenten animiert werden, nach ihrem Studium die Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin zu wählen. Damit wird das Problem der hausärztlichen Unterversorgung auf dem Rücken der fachärztlichen Bereiche entschärft, obwohl auch diese mit zu wenig Personal ausgestattet sind. Das eigentliche Problem besteht darin, dass in Deutschland insgesamt zu wenig Mediziner ausgebildet werden. Als Alternative zum Zwangstertial wäre ein verpflichtendes Praktikum (Pflichtfamulatur) in einer Allgemeinarztpraxis zu einem früheren Zeitpunkt des Studiums ausreichend.
"Die Abschaffung des Wahltertials wäre eine Katastrophe. Sogar die Ausbildung von zukünftigen Allgemeinmedizinern wird dadurch leiden, weil sie keinen Einblick mehr in weitere wichtige Fachgebiete neben der Inneren Medizin, der Chirurgie und der Allgemeinmedizin erhalten", sagt Prof. Dr. med. Dr. h.c. Wolfgang H. Oertel, 1. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Zusätzlich würden sich die Nachwuchsprobleme in den anderen medizinischen Fächern deutlich verschärfen, denn viele Studenten entscheiden sich für die Fachdisziplin, in der sie ihr Wahltertial am Ende ihres Studiums abgeleistet haben. Aufgabe des Medizinstudiums ist es, das Fach in seiner ganzen Breite darzustellen.
Der Mangel an Fachärzten wird sich verschärfen
"Gerade das sich rasant entwickelnde Gebiet der Neurologie, das als eines der wenigen medizinischen Disziplinen noch den Patienten in seiner Gesamtheit betrachtet, erfordert eine ständig zunehmende Zahl an Fachärzten, um mit den steigenden Patientenzahlen den wachsenden Bedarf abzudecken. Entsprechend gibt es schon heute ein massives Nach-wuchsproblem", so Professor Oertel weiter. Die Neurologie vergibt jedes Jahr gut 400 Neuzulassungen, benötigt aber bis zu 200 weitere Fachärzte pro Jahr. Jeder Neurologe muss jedes Jahr mehr Patienten versorgen, weil einerseits die alternde Bevölkerung eine höhere Versorgungsdichte in der Neurologie erforderlich macht und andererseits innovative Behandlungen zur Verfügung stehen. Wer einen Termin bei einem niedergelassenen Neurologen braucht, muss meistens viele Wochen oder sogar mehrere Monate warten. Gleichzeitig kann die Hälfte aller Kliniken offene Stellen nicht mehr besetzen.
Neurologen sind Spezialisten für das Gehirn und das Nervensystem, versorgen Menschen mit Schlaganfall, Alzheimer-Demenz, Parkinson-Krankheit und anderen Bewegungsstörungen, Multiple Sklerose, Epilepsien, Hirntumoren, Muskel und Nervenerkrankungen sowie Schmerz, Schwindel oder Schlafstörungen. Mittlerweile ist jeder dritte Notfall in Kliniken neurologisch zu behandeln. Das Gehirn und die Nerven spielen eine so zentrale Rolle im menschlichen Körper, sodass Neurologen exzellente Kenntnisse der Inneren Medizin, der Psychiatrie, der Notfallmedizin, der Wirbelsäulen-Orthopädie, der Neurochirurgie, der HNO-Kunde u.a.m. mitbringen müssen. Die Neurologie hat sich in den vergangenen zwei Dekaden von einer kleinen Fachdisziplin zu einem universellen medizinischen Bereich und damit zu einer tragenden Säule in der medizinischen Versorgung entwickelt.
Nachwuchsarbeit um Jahre zurückgeworfen
Das Wahltertial in der Neurologie nimmt den Studenten die Angst vor der Komplexität neurologischer Erkrankungen - sie lernen, dass sie mit geschultem klinischem Blick und diagnostischen Verfahren ganz unmittelbar helfen können: schnell diagnostizieren, meistens direkt am Krankenbett, massive Schäden beheben oder chronische Erkrankungen lindern. Ähnliches gilt für andere Fächer, die bislang im PJ gewählt werden konnten. "Es wäre eine Sünde an unseren Studenten und an der Bevölkerung, wenn eine Fachdisziplin wie die der Hausärzte und Allgemeinmediziner ihre Eigeninteressen hier alleine durchdrückt", so Professor Oertel.
Nur im Wahltertial können die Studenten ein anderes Fach in seiner ganzen Tiefe kennenlernen, um sich dann für eine eventuelle universitäre Laufbahn zu entscheiden. Schon jetzt gibt es einen massiven Mangel auch für den universitären Nachwuchs mit all seinen Konsequenzen für den Wissenschaftsstandort Deutschland.
Mit eigenen, aufwändigen Nachwuchsprogrammen versucht die Neurologie, ihr Fachgebiet den Studenten nahezubringen. DGN, BDN und BVDN haben vor drei Jahren die Jungen Neurologen ins Leben gerufen. Hier bilden Fachärzte gemeinsam mit Assistenzärzten und Studenten Netzwerke, die die Attraktivität des Faches für junge Menschen erhöht. Alle diese Bemühungen werden durch die Vorlage der Bundesländer nun zurückgeworfen oder gar obsolet. Das Wahltertial ist eine äußerst wichtige Rekrutierungsphase für zukünftige Fachärzte, die auch von den Studenten gewünscht wird.
"Der hier vorgelegte Antrag ist keine simple Änderung der Approbationsordnung, sondern stellt einen massiven Einschnitt in das empfindliche Gefüge der vom Nachwuchsmangel betroffenen medizinischen Fachdisziplinen dar, der unkalkulierbare Folgen nach sich ziehen wird. Darüber hinaus bedeutet die Abschaffung des Wahltertials eine Beschneidung der Wahl- und Studienfreiheit von Medizinstudenten und zudem eine Qualitätsminderung der Ausbildung, da viele Hausarztpraxen gar nicht auf diese Ausbildung eingestellt sind", sagt Dr. med. Helge Hellriegel, Assistenzarzt aus Kiel und Sprecher der Jungen Neurologen.
Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie schließt sich den Protesten des NAV-Virchowbundes, des Bundesverbands der Medizinstudierenden in Deutschland, der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, dem Berufsverband der Internisten, der Deutschen Gesellschaft für Dermatologie, der Deutschen Gesellschaft für Urologie und dem Berufsverband der Urologen, der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie und anderen an, die sich ebenfalls deutlich gegen die Abschaffung des Wahltertials ausgesprochen haben.