Die tunesische Regierung habe "beide Seiten zu vertreten". Marzouki, der nach der Revolution 2011 zum Übergangspräsidenten Tunesiens gewählt worden war, gehört der als gemäßigt links geltenden Partei "Kongress für die Republik" an.
Politische Gruppierungen behinderten den friedlichen Wandel Tunesiens. Marzouki: "Diese wollen nicht, dass der Prozess erfolgreich und friedlich umgesetzt wird. Sie wollen keine Wahlen und möchten Chaos provozieren." Der Politiker nannte "militarisierte Gruppen, Dschihadis, Teile der Salafisten". Auch auf der anderen Seite gebe es "säkulare Extremisten, die keinen friedlichen Wandel wollen. Aus ideologischen Gründen, weil sie den Islamismus verteufeln. Sie wollen nicht hören, dass Tunesien ein muslimisches Land ist."
Die Ermordung des säkularen Oppositionspolitikers Chokri Belaid habe ihn schockiert: "Wir waren in Tunesien sehr stolz auf unsere friedliche Revolution und den Übergang zur Demokratie. Ich hatte das Gefühl, betrogen worden zu sein, betrogen von Seiten der islamischen Extremisten, den Dschihadis." Der tunesische Präsident kritisierte erneut die Säkularen: "Manchmal fühle ich mich auch betrogen von den Extremisten der anderen Seite, die ein falsches Bild von Tunesien als ein Land voller Aufruhr verbreiten, das die Presse im Westen beeinflusst. Dieses Bild entspricht nicht der Realität."
Grundsätzlich sieht Marzouki sein Land auf einem guten Weg. "Wir haben einen Konsens bezüglich der neuen Verfassung erreicht, die wahrscheinlich in zwei Monaten stehen wird. Zwischen Oktober und Dezember wird es Wahlen geben. (...) In Portugal brauchte dieser Prozess mehr als acht Jahre, in Spanien mehr als drei. Tunesien wird seinen Wandel innerhalb von zwei Jahren vollzogen haben." Das sei beachtlich für ein Land "ohne Erfahrung mit demokratischen Prozessen".
Eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation erfordert Marzouki zufolge mehr Zeit: "Wir können keine Wunder vollbringen. Die Situation ist extrem angespannt, denn die Leute erwarten alles auf einmal. Sobald das Land stabiler ist, können wir mehr Investoren anziehen." Von Deutschland könne Tunesien etwas über die Bedeutung des Konsenses lernen: "Denn Deutschland versteht, was Konsens bedeutet, nicht nur politisch, sondern auch sozialpolitisch und ökonomisch gesehen, etwa mit Gewerkschaften."