Kongress in Präsenz bedeutete bei den Ergotherapeut:innen bislang: drei vollgepackte Tage mit mehreren, parallel stattfindenden Vorträgen, Workshops und weiteren, meist interaktiven Formaten. Dass aus einer abgespeckten, ‚light‘-Version schlussendlich eine Abfolge von Highlights werden kann, hat der DVE jetzt bewiesen. Wer am Kongresstag selbst keine Zeit hatte, live dabei zu sein, kann dies bis 11. November 2021 auf www.dve.info/kongress nachholen. Was erwartet die zeitversetzten Besucher? Andreas Pfeiffer, Vorstandsvorsitzender des DVE (Deutscher Verband Ergotherapie e.V.), nutzt zunächst die Gelegenheit, sich öffentlich bei allen für Care-Pakete, Hilfsangebote und mehr zu bedanken. Ebenso bedankt er sich bei den Macher:innen und Organisator:innen des online-Kongresses und bei den treuesten Wegbegleiter:innen unter den Ausstellenden, die auch in dieser herausfordernden Zeit durch ihre Teilnahme das Stattfinden des Ergotherapie-Kongresses ermöglicht haben. Und last but not least richtet er seinen Dank an alle Mitglieder des DVE, deren Anzahl einen weiteren Anstieg erfahren hat. Mit mittlerweile über 13.000 Mitgliedern ist der DVE so groß und stark wie nie zuvor.
Unglaublich Viele unterdrückt, erniedrigt, kleingehalten
Der Vortrag von Sami Omar ‚Rassismus. Macht. Kritik.‘ spiegelt einerseits den Zeitgeist wider, andererseits hat er eine Bedeutung für die ergotherapeutische Arbeit. Omars Exkurs in die Historie verdeutlicht, welche psychischen Verletzungen Persons of Color seit jeher erfahren. Dennoch ist keinesfalls Belehrung oder Schuldzuweisung in seinem Vortrag zu spüren. Vielmehr geht es darum, Erkenntnisse zu gewinnen – auch die, dass das meiste durch Zuschreibung passiert. Weiße, sagt der Referent, können nicht wissen, wie es sich anfühlt, rassistisch behandelt zu werden. Aus seiner Sicht gilt die Deutungshoheit. Nur Betroffene selbst – und das deckt sich mit ergotherapeutischen Grundsätzen – können und dürfen sagen, wie es ihnen geht. Als nachvollziehbar besten Weg zur Veränderung sieht Omar den persönlichen Entwicklungsprozess, sprich die eigene Positionierung zu überprüfen, Kenntnis von der Betroffenheit des Anderen zu erlangen, durch Sich-in-Bezug-setzen zu erkennen: inwieweit kann man selbst Teil des Problems und wie Teil der Lösung sein.
Auf der Suche nach … der beruflichen Identität
Therapieberufe tragen wesentlich zur Gesundung der Bevölkerung bei. Mit dieser Ausgangsthese und einem klaren Ziel der eigenen Arbeit untermauern Annette Probst und Julia Schirmer die Bedeutung ihres Vortrags ebenso wie die Bemühungen um die Novellierung der Berufsgesetze. Die Grundsteine für die Erneuerung sind geschaffen, an erster Stelle durch die Ausarbeitung des DVE-Kompetenzprofils, aber ebenso durch erfolgte und anstehende Anpassungen im Bereich der (Aus-)Bildung. Die längst überfällige Entscheidung von Seiten der Politik hingegen steht weiterhin aus. Als wichtiges, identitätsbildendes Feld sehen Schirmer und Probst die (Aus-)Bildung. Diesem Aspekt folgen die drei Moderatorinnen Kristina Krämer, Victoria Nadler und Lea Neyer, die sich ebenfalls mit dem Thema der Berufsidentität auseinandersetzen. Sie beurteilen Berufsidentität als einen dynamischen Prozess, etwas, das sich entwickelt und als Teil der Ausbildung entsteht und sich manifestiert.
… der einfacheren Dokumentation
Stellvertretend für die DVE-Projektgruppe ETpro erläutert Stefanie Völler die Vorteile von ETpro, einem Programm, das Ergotherapeut:innen bei der täglichen Arbeit als ‚Leitplanke‘ dient, um Prozesse strukturiert abbilden zu können. Hier lassen sich die Einbeziehung der Klient:innen ebenso dokumentieren wie eigene Reflexionen. Die Vorteile: Zeitgewinn, effiziente, transparente und übersichtliche Arbeitsweise sowie ein schneller (digitaler) Zugriff auf den Therapieverlauf und die dabei gesammelten Informationen. ETpro ist auf der Website des DVE im Shop erhältlich.
Neue ergotherapeutische Handlungsfelder
Die Tatsache, dass es sich bei COVID-19 um ein neues, unerforschtes Krankheitsbild handelt, hat viele im Gesundheitswesen das Fürchten gelehrt. Nicht so die Berufsgruppe der Ergotherapeut:innen. Miriam Leventic legt am Fall einer an Long-Covid erkrankten Mitarbeiterin dar, wie bewährte ergotherapeutische Vorgehensweisen greifen. Sie bietet Schulungen im Rahmen der DVE Akademie an, denn: in der AMWF S1 Leitlinie Post Covid wird Ergotherapie empfohlen. Es ist mit einem verstärkten Zulauf von Patient:innen zu rechnen, da Ärtz:innen über den besonderen Verordnungsbedarf Ergotherapie budgetneutral verordnen können.
Raus aus der Klinik – ein Wunsch, den psychisch Erkrankte durchaus haben. Kliniken dürfen seit 2018 eine sogenannte stationsäquivalente Behandlung (StäB) anbieten. Kerstin Ziehn referiert sowohl über neue to Dos als auch über die Auswirkungen auf die Nutzer:innen und das Behandlungsteam. Sie betont die positiven Seiten einer Behandlung im häuslichen Umfeld: StäB eröffnet viele neue Chancen, macht therapieförderliche Einblicke möglich, lässt beispielsweise zu, Ressourcen in den Blick zu nehmen und in Summe den Genesungsprozess vielfältiger zu gestalten.
Vertrautes Terrain, technisch aufgerüstet
Maßgebliche Faktoren, die den Erfolg der ergotherapeutischen Arbeit mit Patient:innen nach Schlaganfall beeinflussen, sind Compliance, Mitarbeit, Motivation und Einhaltung des Therapieprogramms. Lässt sich die erforderliche Haltung gegebenenfalls (schneller beziehungsweise überhaupt) herbeiführen oder verbessern? Diese Frage haben sich Björn Crüts, der Erfahrung im Bereich der Neurowissenschaften mitbringt, und Wiebke Dierkes, Sport- und Kommunikationswissenschaftlerin, gestellt und eine entsprechende App entwickelt. Ziel: das ergotherapeutische Trainingsprogramm über die face-to-face Intervention hinaus zusätzlich und unkompliziert in den Alltag Betroffener zu integrieren. Und tatsächlich: Dass bei Schlaganfall mehr (Übung) auch mehr (Befähigung und Heilung) bewirkt, ist durch einen Feldtest belegt.
Die Pandemie hat vieles zutage gebracht und vieles beschleunigt. Etwa die Tele-Ergotherapie. Lena Rettinger von der Fachhochschule Campus Wien hat sich diesem Thema wissenschaftlich genähert und interessante Statements und Erkenntnisse präsentiert. Ermutigend: 75% der Befragten Ergotherapeut:innen haben ihre Einstellung zur Teletherapie verändert, haben mehr Interesse daran und geben zu: es hat besser funktioniert, als gedacht. Positiv auch: die Patient:innen zeigen mehr Eigenverantwortung, Anfahrtswege entfallen, die Therapiezeit lässt sich weiter flexibilisieren, der Blick in die tatsächliche Lebenswelt von Kilent:innen bringt weitere, nützliche Erkenntnisse.
Hände und mehr
Die Ergotherapeutin Jessica Kleinschulte demonstriert am Fall eines Jungen mit einer Handprothese, wie sie Handchirurg und Prothesenbauer zielführend einbindet und wie Kreativität den dynamischen Therapieprozess positiv beeinflussen kann. Mit dem Fokus auf die Betätigung erlangt der junge Klient mehr Autonomie – auch die, die nötigen Übungen selbst zu gestalten. Das große Ziele des Jungen, Mountainbike fahren, ist inzwischen zum Greifen nah.
Was, wenn die Hand zwar unversehrt, aber dennoch nicht imstande ist, den Stift richtig zu halten? Ein Defizit, das bereits vor der Pandemie bei fast 70% der Erstklässler bestand und durch Homeschooling verstärkt auftritt. Stephanie Ingrid Müller befasst sich mit den Zusammenhängen von Feinmotorik und Kognition und bestärkt alle Ergotherapeut:innen: Bitte mit diesen Kindern weiter basteln, ausschneiden, und, und, und. Aus ihrer (Lehrerinnen-)Sicht gibt es nichts Besseres, um die feinmotorischen Fertigkeiten von Kindern zu fördern, Schreibkompetenz zu ermöglichen und somit die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Schulbiografie zu schaffen.
Ergotherapie wirkt – auch am Ende des Lebens
Anne Wirsing berichtet von den überzeugenden Erfolgen der MAKS@m Gruppentherapie bei Menschen mit einer Demenz. MAKS steht für vier Module: motorisch, alltagspraktisch, kognitiv, sozial. Die Gruppentherapie unterbricht den eintönigen Alltag in Senioreneinrichtungen, bringt Menschen zusammen und: sie wirkt! Zwei wissenschaftliche Studien belegen unter anderem verbesserte alltagspraktische Fähigkeiten, aber auch stabile kognitive Fähigkeiten. Die Zertifizierung zur MAKS-Trainer:in ist über die DVE Akademie möglich.
Einem Bereich, der oft abschreckend und beängstigend wirkt, widmet sich Julia Wikert. Sie arbeitet in der Palliativmedizin und betont, dass es bei ihrer Arbeit darum geht, der verbleibenden Zeit mehr Leben zu geben. Ihre Begeisterung schwappt über, wenn sie über individuelle Ziele, Angehörige als Teil der Unit of Care und eine verbesserte Lebensqualität aller, die zum System des Menschen am Ende seines Lebens gehören, spricht.
Fazit
Konnte man anfangs den ersten online-Kongress der Ergotherapeuten noch als Novum und Experiment bezeichnen, gilt es, am Ende zusammenzufassen: Es ist gelungen!