Der Gesetzentwurf, der am 16. Dezember im Bundesrat beraten wird, sieht vor, Einrichtungen der Behindertenhilfe massiv unter Wettbewerbsdruck zu setzen. So soll die Vergütung der Leistungen künftig dann wirtschaftlich angemessen sein, „wenn sie im Vergleich mit der Vergütung vergleichbarer Leistungserbringer im unteren Drittel liegt (externer Vergleich)“. Diese Vorschrift würde Anbieter ohne Tarif gegenüber Anbietern, die an Flächentarife gebunden sind, einseitig massiv bevorzugen. § 124 Abs.1 Satz 3 des Gesetzesentwurfes ist daher zu streichen.
Diese gesetzliche Wettbewerbsklausel führt zu einem Kellertreppen-Effekt: Je erfolgreicher die Anbieter dabei sind, ihre Kosten ins untere Drittel zu steuern, desto mehr sinkt der Branchendurchschnitt und desto mehr müssen sich die Anbieter beeilen, erneut die Kosten zu senken.
In Einrichtungen der Behindertenhilfe mit einem Personalkostenanteil von 70 Prozent löst das einen enormen Druck zur Kostensenkung im Personalbereich aus.
Dr. Robert Bachert, Finanzvorstand des Diakonischen Werks Württemberg: „Wird das Gesetz so verabschiedet wie jetzt vorgesehen, drohen Billiganbieter in der Behindertenhilfe Fuß zu fassen und einen Kostenwettbewerb voranzutreiben, welcher pädagogischen und bildungswissenschaftlichen Kriterien des Inklusionsgedankens widerspricht. Gute Leistungen für Menschen mit Behinderungen brauchen qualifiziertes Personal, das entsprechend bezahlt werden muss, und keinen Dumpingwettbewerb um die niedrigsten Personalkosten.“
Das Bündnis befürchtet, dass in der Folge auch die Qualität der Behindertenhilfe erheblich beeinträchtigt wird.
Hans Heinz, Landesgeschäftsführer des DRK Landesverbandes Baden-Württemberg: „Den Preis werden nicht nur die hoch engagierten Beschäftigten in der Behindertenhilfe zahlen. Den Preis zahlen vor allem alle Menschen mit Behinderungen sowie deren Angehörige, die auf Unterstützung angewiesen sind.“
In der Behindertenhilfe werden damit nicht mehr die Bedarfe der Menschen mit Behinderungen, sondern die Kosten zum Maßstab.
Dr. Rainer Brockhoff, Caritasdirektor der Diözese Rottenburg-Stuttgart: „Der erzwungene Kostensenkungswettlauf der Einrichtungen führt direkt zu einem Wettbewerb um den geringsten Preis, nicht um die beste Qualität. In keinem anderen Bereich des Sozialgesetzbuchs gibt es bisher eine so weitgehende Wettbewerbsklausel. Auch gibt es in keinem Hilfefeld des Sozial- und Gesundheitswesens Erfahrungen mit der Wirkung einer solchen Klausel.“
Neben den Auswirkungen für Menschen mit Behinderungen und deren Angehörige werden durch das Gesetz die Gehälter massivem Kostendruck ausgesetzt und die Arbeit in Einrichtungen der Behindertenhilfe so für Fachkräfte zunehmend unattraktiv. Überdies wird es auch zur Verdrängung von Fachkräften durch geringer qualifizierte und damit billigere Arbeit kommen.
Martin Gross, Landesbezirksleiter ver.di Baden-Württemberg: „Die Behindertenhilfe wird zum Experimentierfeld. Der Gesetzgeber sichert gewinnorientierten Anbietern zu, den Markt für sie zu öffnen, ohne die Qualität hinreichend zu sichern und ausreichend Personal vorzuschreiben.“
Hintergrund:
In den baden-württembergischen Einrichtungen der Behindertenhilfe arbeiten bisher nahezu nur Fachkräfte und zwar in Werkstätten für Menschen mit Behinderung, in der ambulanten und stationären Wohnbetreuung, in Sonderkindergärten, integrativen Kitas, Integrationsbetrieben, Qualifizierungsprojekten, in der persönlichen, Schul- und Arbeits-Assistenz und anderen Einrichtungen.
Dies sind Sozialpädagoginnen, Heilpädagogen und Erzieherinnen, Heilerziehungspflegerinnen und Arbeitserzieher, Bildungsbegleiterinnen, Fachkräfte zur Arbeits- und Berufsförderung, Handwerker und Meisterinnen mit sonderpädagogischer Zusatzausbildung, Ergotherapeutinnen, Pflegefachkräfte und viele andere mehr.
Der deutlich überwiegende Teil der Beschäftigten arbeitet in Einrichtungen, die nach einem Tarifvertrag (überwiegend Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst - TVöD) oder nach kirchlichen Arbeitsvertragsrichtlinien (die ebenfalls den TVöD zum Inhalt haben) bezahlen.
Das Bündnis für Tariftreue und Tarifstandards in der Sozialwirtschaft wurde im Jahr 2014 gegründet. Die beteiligten Verbände und Organisationen wollen gemeinsam für die Schaffung und die Refinanzierung einer fairen tariflichen Bezahlung und guter Arbeitsbedingungen in der Sozialwirtschaft eintreten.