Besonderes Augenmerk muss für die Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werks Württemberg bei der Bewertung der Gesetzesentwürfe auf eine Prüfung psychosozialer Krisen und psychiatrischer Erkrankungen gelegt werden. Menschen, die psychisch erkrankt sind, müssten medizinisch betreut und sozial unterstützt werden. „Sie dürfen nicht unbesehen einen Beratungsschein erhalten, um sich mit Hilfe Dritter das Leben zu nehmen.“
Drei ethische Werte stehen für Annette Noller bei der Diskussion über den assistierten Suizid auf dem Prüfstand. Es seien Fragen der Autonomie und Selbstbestimmung, dazu die Vulnerabilität, Fürsorge und Achtsamkeit und schließlich das Thema Verantwortung in der Gemeinschaft. Den Schwerpunkt allein auf die Selbstbestimmung des Einzelnen zu legen, greife angesichts der Verletzlichkeit von Menschen in psychischen Notlagen und am Ende des Lebens zu kurz.
Dass Suizidwünsche in 80 bis 90 Prozent der Fälle weder dauerhaft noch eine frei von psychischen Einschränkungen sind, habe das Bundesverfassungsgericht in seiner Urteilsbegründung vom Februar 2020 selbst festgehalten. „Dies zeigt, dass ein dauerhafter, frei gefasster Entschluss zum Suizid nicht die Regel, sondern die Ausnahme ist.“ Menschen dürften auch nicht unter Druck gesetzt werden, weil ihre Versorgung Geld kostet. Auch hier lägen Zahlen aus anderen Ländern vor, die zeigen, dass Suizidwünsche nicht selten aus dem Gefühl resultieren, anderen zur Last zu fallen. In diesem Zusammenhang weist die Diakonie darauf hin, dass in den Hospizen der Diakonie und auch in einzelnen Pflegeheimen der dringende Wunsch besteht, rechtlich abgesichert ihre Angebote als ‚sichere Orte‘ zu gestalten, in denen grundsätzlich keine assistierten Suizide durchgeführt werden.
Besonderes Augenmerk ist nach Worten Nollers Kinder und Jugendliche sowie Menschen in der Behindertenhilfe und der Sozialpsychiatrie zu legen. Für sie müsse es bei Suizidwunsch erweiterte Schutzmechanismen und besondere Präventionsangebote geben. „Hier stellen sich im Blick auf die Einwilligungsfähigkeit und psychische Krisen ebenfalls besondere Herausforderungen.“ Die bisherigen Regelungen zum Schutz dieser vulnerablen Gruppen müssten beibehalten werden.
„Für die Evangelische Kirche und ihre Diakonie ist eine dem Leben zugewandte Haltung maßgeblich. Der Mensch ist ein Geschöpf und Ebenbild Gottes, das Leben ist ein Geschenk und grundsätzlich unverfügbar und schützenswert“, sagte Noller. „Es birgt in jeder Situation die Chance, ein erfülltes, auf Beziehung und Begleitung angelegtes, lebenswertes Leben zu sein.“ Diese Haltung werde in den diakonischen Pflegeheimen und Krankenhäusern und vor allem in der ambulanten und stationären Hospizarbeit gelebt. Ein „lebensunwertes“ Leben gebe es nicht, „auch wenn es unerträgliche Lebensumstände gibt, die zu lindern und seelsorgerlich zu begleiten unsere Aufgabe ist. An dieser Position halten wir als Christinnen und Christen unverrückbar fest“. Dass es ein schmales Feld von Ausnahmen in ausweglosen, gesundheitlichen Krisen geben kann, in denen Menschen in ihrem Wunsch zu sterben unterstützt werden, wird auch von der Diakonie eingeräumt. Dazu brauche es aber klare Regelungen, die strafrechtlich verankert sein könnten.
Jede Form der gesetzlichen Regelung müsse also gewährleisten, dass durch sachkundige Personen sowohl die Dauerhaftigkeit des Wunsches, die Einwilligungsfähigkeit der suizidwilligen Person und vor allem psychiatrische Erkrankungen sowie psycho-soziale Belastungen erkannt und behandelt werden können. Zugleich sollten flächendeckend fachkundige,, kostenlose Beratungsangebote für Menschen mit Suizidwunsch zur Verfügung stehen.
Hintergrund zur Veranstaltung
Die durch das Karlsruher Urteil vom Februar 2020 angestoßene Neuregelung der Suizidassistenz hat wieder Fahrt aufgenommen. Ende Juni 2022 wurden im Deutschen Bundestag drei Gesetzes-Entwürfe in einer ersten Lesung beraten.
Beim gestrigen Fachtag im Hospitalhof haben Mitglieder des Deutschen Bundestages
die Gesetzes-Initiative, der sie sich angeschlossen haben, vorgestellt und sich Rückfragen aus ethischer und diakonischer Perspektive und aus der Sicht betroffener Akteure: Ärztinnen und Ärzte, Altenhilfeträger und Hospizdienste sowie den Fragen des Publikums gestellt.