Jahrelang wurde zuvor die Sinnhaftigkeit arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen immer wieder in Frage gestellt, neue Förderprogramme wurden aufgelegt und wieder eingestellt, was Langzeitarbeitslose und Beschäftigungsträger zum Spielball der Finanzpolitik werden ließ. „Mit der neuen Regelung erkennt die Politik endlich an, dass der Arbeitsmarkt die Langzeitarbeitslosigkeit eben nicht selber behebt“, sagt Hans-Albrecht Finkbeiner, Geschäftsführer der Aufbaugilde Heilbronn und Vorsitzender des Fachverbands Arbeitslosenhilfe der Diakonie Württemberg. Mit den in den letzten Jahren von der Evangelischen Landeskirche und Diakonie aufgelegten Programmen zur Unterstützung Langzeitarbeitsloser wurde dem arbeitsmarktpolitische Bedarf nochmal öffentlicher Nachdruck verliehen.
Seit diesem Jahr besteht nun erstmals die Möglichkeit für eine fünfjährige Förderung für Betroffene und damit eine längerfristige Perspektive in marktnahen Tätigkeiten.
„Die Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit ist eine arbeitsmarktpolitische Herausforderung, die es sich anzunehmen lohnt, weil Arbeit Teil der Menschenwürde ist“, sagt Oberkirchenrat Dieter Kaufmann. Das Teilhabechancengesetz biete die notwendige Basis, betroffenen Menschen längerfristig zu mehr Lebensqualität zu verhelfen und für sie und ihre Familien Perspektiven für das Jahr 2020 und die kommenden Jahre zu eröffnen. Das Teilhabechancengesetz ist bis 2024 befristet. Die Diakonie macht sich deshalb für weitere Verbesserungen und die Entfristung des Instruments nach §16i SGB II stark.
Erste Ansätze für ein entsprechendes Konzept in der Diakonie Württemberg gehen in die 80er Jahre zurück. Die Arbeitsgruppe „Kirchliche Initiativen zur Arbeitslosigkeit“ veröffentlichte im Jahr 1986 eine Studie mit Vorschlägen für einen zweiten Arbeitsmarkt zur Unterstützung langzeitarbeitsloser Menschen. Schon damals wurde erkannt, dass Langzeitarbeitslose mit vielschichtigen Problemlagen den Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht gerecht werden können. Mit dem Titel „Zweiter Arbeitsmarkt für Baden-Württemberg – Ein sozialpolitischer Gesprächsbeitrag“ stellte die Diakonie den Ansatz vor, der sich verfestigenden Langzeitarbeitslosigkeit mit lohnsubventionierten Dauerarbeitsplätzen zu begegnen – anstelle von kurzfristigen Übergangsmaßnahmen. Fokus war und ist, Betroffenen eine sinnvolle, nachhaltige, ihren Fähigkeiten entsprechende Beschäftigung zu ermöglichen und ihnen zu Teilhabe und Alltagsstruktur zu verhelfen.
Mit dem Teilhabechancengesetz wurde ein neues Förderinstrument „Teilhabe am Arbeitsleben“ (§16i SGB II) eingeführt. So können heute langzeitarbeitslose Menschen unter bestimmten Voraussetzungen (wie i.d.R. sechs aus sieben Jahren Arbeitslosigkeit)bis zu fünf Jahre gefördert werden, wenn ihnen ein Arbeitgeber ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis anbietet. Arbeitgeber erhalten dafür einen Lohnkostenzuschuss in Höhe von bis zu 100 Prozent mit Abschmelzung ab dem dritten Jahr. Durch beschäftigungsbegleitendes Coaching erfahren ehemals arbeitsmarktferne Personen zusätzliche Unterstützung, was sich stabilisierend auf das Arbeitsverhältnis auswirken kann. In Baden-Württemberg konnten bis November 2200 Personen von dieser Förderung profitieren und eine Erwerbsarbeit aufnehmen (vgl. Arbeitsmarkt kompakt, Statistik der BA, Nov. 2019).
Ein Beispiel für den Nutzen des §16i SGB II
Was es bedeutet, nach langer Zeit der Arbeitslosigkeit wieder Fuß auf dem Arbeitsmarkt zu fassen, weiß Luise Janke, 60 Jahre alt. Sie arbeitet nach ihrer langjährigen Tätigkeit im Verkauf zuletzt unter schwierigen Bedingungen, welche die Arbeitssituation für sie untragbar machen und gerät in Arbeitslosigkeit. Sie fällt in ein Loch, leidet an Depressionen und ist von Hartz IV abhängig. Sie durchläuft unterschiedliche Fördermaßnahmen des Jobcenters, hauptsächlich Arbeitsgelegenheiten und sammelt Erfahrungen in diversen Bereichen wie Gartenbau, Verkauf und Nachhilfe für Auszubildende bei verschiedenen Sozialunternehmen. Aufgrund der Kurzfristigkeit der Maßnahmen bemüht sie sich immer wieder um neue Möglichkeiten einer sinnvollen Beschäftigung, denn „zu Hause fällt mir das Dach auf den Kopf“, so Janke. 2017 arbeitet sie beim Sozialunternehmen Neue Arbeit gGmbH in Stuttgart in der Denkfabrik im Rahmen des Bundesprogramms „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“, das auf die Verbesserung der sozialen Teilhabe arbeitsmarktferner Langzeitleistungsbeziehender abzielt. Hier besteht ihre Aufgabe in der politischen Lobbyarbeit für die Belange langzeitarbeitsloser Menschen.
Als sie von der Möglichkeit erfährt, eine Beschäftigung im Rahmen von §16i SGB II bei der Neuen Arbeit gGmbH anzunehmen, ist sie sofort begeistert. Ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis und die Sicherheit, wieder mehr Geld zu verdienen und in die Rentenkasse einzahlen zu können, bedeuten für sie eine große Chance. Seit August 2019 ist sie nun sozialversicherungspflichtig im Secondhand-Kaufhaus der Neuen Arbeit gGmbH in Bad Cannstatt beschäftigt und fühlt sich an ihrem neuen Arbeitsplatz genau richtig. Luise Janke ist für die Unterstützung durch das Jobcenter und die Neue Arbeit gGmbH dankbar – insbesondere dafür, dass sie sich selbst für diesen Weg entscheiden konnte. Sie steht mitten im Leben und arbeitet 30 Stunden in der Woche, täglich sechs Stunden. Ablauforganisation und Veranstaltungsvorbereitungen stellen ihre Hauptaufgaben dar. Janke hat nun erstmals das Gefühl, nach vielen Jahren der Unsicherheit endlich „angekommen“ zu sein. Ihr neues Aufgabenfeld bereitet ihr große Freude und sie bringt sich mit viel Engagement und Herzblut ein. Für das neue Jahr hat sie sich vorgenommen, einen Workshop in Excel zu besuchen und sich in Bezug auf das Thema Öffentlichkeitsarbeit fortzubilden. Eine Förderung ist im Fall von Luise Janke bis 2023 möglich. Ihr größter Wunsch wäre es, diese Tätigkeit bis zum Renteneintritt ausüben zu können – zumal die Aussicht, danach einen neuen Arbeitsplatz zu finden, gering ist: „Ab 60 gilt man als nicht mehr belastbar“, so Janke. Umso mehr freut sich Janke, diese Chance auf eine Anstellung nach §16i SGB II erhalten zu haben und empfiehlt jedem Betroffenen, der die Möglichkeit hat, diese zu nutzen.