BGH-Urteile: Fünf bis 15 Prozent Differenzschaden sind im Diesel-Skandal möglich
Seit der Europäische Gerichtshof (EuGH) sich im Sommer 2022 dahingehend geäußert hatte, dass die Hürden für Ansprüche der Verbraucher gegen die Diesel-Hersteller gesenkt werden sollen, warteten die meisten Gerichte auf die Entscheidungen der beiden obersten Gerichte und setzten die Diesel-Verfahren aus. Nun herrscht Klarheit, die auch dringend notwendig ist. Denn am Bundesgerichtshof (BGH) sind noch etwa 2.000 Dieselverfahren anhängig, während es in den unteren Instanzen rund 100.000 sind. Mit dem neuen Diesel-Urteil hat der BGH Leitlinien im Diesel-Abgasskandal für die untergeordneten Instanzen festlegen. Hier kurz zusammengefasst, was der BGH im Dieselskandal entschieden hat:
- Das Gericht hat einen neuen Schadensersatz ins Spiel gebracht. Die Richter verwenden dabei den Begriff "Differenzschaden". Aus Sicht des Gerichts haben die getäuschten Verbraucher durch die Abgasmanipulation nicht nur Vertrauen verloren, sondern es ist ihnen hypothetisch auch ein Schaden entstanden. Dieser Schaden ergibt sich aus möglichen Stilllegungen der Fahrzeuge, wenn sie nicht in einen gesetzeskonformen Zustand gebracht werden können, sowie aus einem potenziell geringeren Verkaufserlös beim Weiterverkauf. Die Differenz zwischen dem tatsächlichen Kaufpreis und dem Wert des Fahrzeugs ohne Abgasmanipulation ist damit der neue „Differenzschaden“.
- Die neue BGH-Formel im Diesel-Abgasskandal lautet kurz:
Der BGH erkennt an, dass das europäische Recht auch die Rechte der Verbraucher schützt. Den sogenannten Drittschutz hatte der BGH bisher abgelehnt. Zudem hatte der BGH bisher für Schadensersatz einen Nachweis des vorsätzlichen Handelns der Autohersteller verlangt (BGB §826). Nach dem EuGH-Urteil genügt bereits der Nachweis fahrlässigen Handelns. Der BGH folgt dieser Rechtsauffassung, um Ansprüche auf Schadensersatz geltend zu machen. Damit hat der BGH seine bisherige strenge Rechtsprechung im Diesel-Abgasskandal gekippt.
- Da illegale Abschalteinrichtungen in nahezu allen Dieselmotoren zu finden sind, bestehen mit dem Urteil Ansprüche gegen beinahe alle Hersteller von Dieselfahrzeugen. Das umstrittene Thermofenster, das die Abgasreinigung von der Außentemperatur abhängig regelt, gilt als Industriestandard bei den Herstellern. Der EuGH hält das Thermofenster für illegal.
- Liegt eine illegale Abschalteinrichtung vor, steht den Verbrauchern aufgrund einer möglichen Stilllegung des Fahrzeugs Schadensersatz zwischen 5 und 15 Prozent zu. Die Hersteller müssen nachweisen, dass sie nicht vorsätzlich und sittenwidrig oder fahrlässig gehandelt haben, sondern einem unvermeidbaren Verbotsirrtum aufgesessen sind. Gelingt ihnen das besteht kein Haftungsanspruch. Landgerichte und Oberlandesgerichts müssen dies prüfen.
Die Anwaltskanzlei Dr. Stoll & Sauer bewertet die Entwicklung im Abgasskandal am EuGH und BGH wie folgt:
- In der Vergangenheit konnten viele Verfahren aufgrund der strengen Haftungsmaßstäbe des BGH nicht erfolgreich abgeschlossen werden. Es musste nachgewiesen werden, dass die Hersteller vorsätzlich und sittenwidrig gehandelt hatten. Die Lage hat sich nun geändert. Der EuGH hat die Hürden für Schadensersatzansprüche gesenkt. Der BGH ist dieser Rechtsprechung gefolgt.
- Da sich in den meisten Dieselmotoren zumindest das Thermofenster befindet, bestehen Ansprüche auf Schadensersatz gegen beinahe alle Hersteller von Dieselfahrzeugen.
- Es besteht eine reale Gefahr der Stilllegung von Fahrzeugen. Der EuGH hat festgestellt, dass Thermofenster unzulässig sind, und nationale Gerichte müssen Maßnahmen ergreifen. Das Verwaltungsgericht Schleswig hat in einem Urteil zum VW-Software-Update deutlich gemacht, dass eine Stilllegung droht, wenn das Thermofenster im Update für den Dieselmotor EA189 nicht entfernt wird. Thermofenster wurden in nahezu allen Diesel-Fahrzeugen der EURO 5 bis EURO 6b-Normen verwendet. Die Deutsche Umwelthilfe plant Klagen gegen betroffene Fahrzeuge, und Stilllegungen oder teure Nachrüstungen mit Harnstoff könnten die Folge sein. Die Fahrzeugeigentümer tragen die Konsequenzen.
- Möglich sind auch Staatshaftungsklagen. Stoll & Sauer ist fest davon überzeugt, dass der Staat haftbar gemacht und somit verklagt werden kann. Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) hat bei der Zulassung der Fahrzeuge nicht ausreichend geprüft, ob unzulässige Abschalteinrichtungen verwendet wurden. Bisher hat der Bundesgerichtshof im Diesel-Abgasskandal diese Haftung abgelehnt. Die Richter waren der Meinung, dass die individuellen Käufer nicht durch die Gesetze geschützt werden sollen, die den Einsatz von unzulässigen Abschalteinrichtungen verbieten. Diese Gesetze sollen ausschließlich dem Umweltschutz dienen. Der Europäische Gerichtshof sieht das jedoch anders und hat in entgegengesetzter Weise entschieden, indem er den sogenannten Drittschutz für die Verbraucher betont hat.