Das sechste VW-Verfahren im Abgasskandal vor dem BGH
Im Diesel-Abgasskandal von VW sind durch den BGH in fünf Urteilen die Themen Haftung, Laufleistung, Nutzungsentschädigung, deliktischer Zins, Software-Update und Kauf ab 2015 behandelt worden. Nach einem verbraucherfreundlichen Ersturteil begünstigte das Gericht den Autobauer massiv und steht daher in der Kritik. Offen ist jetzt die Frage nach der Verjährung des Skandals – sprich: wann kann VW für die vorsätzliche und sittenwidrige Schädigung der Kunden nicht mehr haftbar gemacht werden. Der BGH wird diese Frage am 14. Dezember 2020 in einer mündlichen Verhandlung erörtern (Az. VI ZR 739/20). Ob an diesem Tag auch das Urteil gefällt wird, ist offen. Die Kanzlei Dr. Stoll & Sauer stellt die Fakten des Verfahrens kurz vor:
Sachverhalt: Der Kläger erwarb im April 2013 einen VW Touran, der mit einem Dieselmotor vom Typ EA189 ausgestattet ist. Der Motor enthielt eine Software, die erkennt, ob das Fahrzeug auf dem Prüfstand den Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) durchfährt, und in diesem Fall in einen Stickoxid-optimierten Modus schaltet. Es ergeben sich dadurch auf dem Prüfstand geringere Stickoxid-Emissionswerte als im normalen Fahrbetrieb. Die Stickoxidgrenzwerte der Euro 5-Norm wurden nur auf dem Prüfstand eingehalten. Mit seiner im Jahr 2019 eingereichten Klage verlangt der Verbraucher die Rückabwicklung des Kaufvertrags. VW hingegen hat die Einrede der Verjährung erhoben.
Bisheriger Prozessverlauf: Das Landgericht Stuttgart hat mit Urteil vom 17. September 2019 (Az. 15 O 241/19) der Klage teilweise stattgegeben. Der Anspruch sei nicht verjährt. Auf die Berufung hat das Oberlandesgericht Stuttgart mit Urteil vom 14. April 2020 (Az. 10 U 466/19) die Klage abgewiesen. Dem Schadensersatzanspruch des Klägers wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung aus § 826 BGB stehe die erhobene Einrede der Verjährung entgegen. Da der Kläger bereits im Jahr 2015 Kenntnis von der Betroffenheit seines Fahrzeugs vom Dieselskandal erlangt habe, hätten die Voraussetzungen für eine Klageerhebung bereits im Jahr 2015 vorgelegen. Die Rechtslage sei nicht unsicher und zweifelhaft gewesen, so dass die Klageerhebung zumutbar gewesen sei.
Sensationelle Wende bei der Verjährung im Abgasskandal von VW
Insgesamt hat sich das Jahr 2020 im Diesel-Abgasskandal für Verbraucher positiv entwickelt. Am 25. Mai 2020 verurteilte der Bundesgerichtshof (BGH) VW wegen arglistiger und sittenwidriger Schädigung nach § 826 BGB. Der Konzern haftet gegenüber seinen Kunden. Und beim Thema Verjährung ist lange über die übliche dreijährige Verjährung diskutiert worden (§195 und § 199 BGB), deren Frist in der Regel Ende des Jahres zu laufen beginnt, in dem der Anspruch entstanden ist. Doch jetzt hat VW auch eingesehen, dass letztlich im Abgasskandal noch nichts verjährt ist. In einem Verfahren vor dem Landgericht Kiel stellte die 17. Zivilkammer eine Verurteilung von VW nach § 852 BGB in Aussicht, obwohl die Klage erst 2020 eingereicht worden war. Im Originaltext liest sich das folgendermaßen:
„(…) Insoweit kommt aber in Betracht, dass dem Kläger ein sogenannter Anspruch auf Restschadensersatz gemäß § 852 BGB zusteht. Denn er hat hier ein Neufahrzeug von einem Vertragshändler der Beklagten erworben. Insofern ist davon auszugehen, dass (…) die Beklagte jedenfalls einen Teil des Kaufpreises im Sinne von § 852 BGB erlangt hat. Von dem Kaufpreis wäre insoweit die Händlermarge abzuziehen. Insoweit dürfte der Beklagten eine sekundäre Darlegungslast zur Höhe der Händlermarge obliegen.“
Die VW-Anwälte äußerten sich aufgrund dieses Hinweises wenig später: „(…) und teilen für die Beklagte mit, dass wir die Einrede der Verjährung fallenlassen.“
Für die Verbraucher-Kanzlei Dr. Stoll & Sauer wird mit diesen Zeilen die Ansicht bestätigt, dass selbst fünf Jahre nach Aufdeckung des Diesel-Abgasskandals nichts verjährt ist. Schon seit Jahren argumentiert die Kanzlei, dass § 852 BGB eine zehnjährige Verjährungsfrist ab Kaufdatum vorsieht und diese Regelung auch für den Diesel-Abgasskandal gilt. VW wird für die vom BGH festgestellte Schädigung der VW-Kunden nicht so leicht und schnell davonkommen. Wer sittenwidrig täuscht und trickst, darf sich keine Hoffnungen machen, dass seine Tat nach der üblichen Verjährung von drei Jahren in Vergessenheit gerät. § 852 BGB bietet mit dem Restschadensersatzanspruch Verbrauchern die Möglichkeit, selbst bei verjährten Schadensersatzansprüchen finanziell von VW entschädigt zu werden. Dr. Stoll und Sauer rät daher allen betroffenen VW-Kunden, die noch nicht geklagt haben und bei der Musterfeststellungsklage nicht teilgenommen oder leer ausgegangen sind, schnell den Klageweg gegen den Autobauer einzuschlagen. Im kostenfreien Online-Check bietet die hochspezialisierte Kanzlei eine Erstberatung an. Gemeinsam werden dabei die Möglichkeiten aufgezeigt und besprochen.
VW pochte bisher ausnahmslos auf die übliche dreijährige Verjährungsfrist (§ 195 BGB). Normalerweise beginnt die Verjährungsfrist gegen Ende des Jahres zu laufen, in dem das Tatereignis stattfand. 2015 machte VW den Abgasskandal mit einer Ad-hoc-Mitteilung publik. Also wäre Ende 2018 der Betrug verjährt. Die meisten Gerichte gehen bisher jedoch davon aus, dass frühestens 2016 die Verbraucher vom Skandal informiert gewesen sein könnten. Damit wäre die Verjährung Ende 2019 eingetreten. VW folgt seit neustem dieser Ansicht und hat am Landgericht Hannover den Einwand der Verjährung bei einer Klage aus dem Jahr 2019 zurückgezogen.
Dr. Stoll & Sauer vertritt die Ansicht, dass selbst nach § 195 BGB noch nichts verjährt ist. Der BGH mit Urteil vom 19. März 2008 (Az. III ZR 220/07) und das Oberlandesgericht Nürnberg (Az. 1 U 2691/05) haben die Messlatte für den Beginn der Verjährungsfrist sehr hoch gehängt. Eine zutreffende Einschätzung der Rechtslage ist für das Gericht Voraussetzung für den Verjährungsbeginn. Für die Kläger müsste absehbar sein, wer verantwortlich für den Betrug ist, wie sich die Rechtslage darstellt und ob überhaupt Chancen bestehen zu gewinnen. Erst 2019 setzte eine verbraucherfreundliche Rechtsprechung ein, die am 25. Mai 2020 vor dem BGH mit der Verurteilung von VW ihren Höhepunkt fand. Und wer für den Abgasskandal verantwortlich ist, steht bis heute nicht fest, weil sich VW an der Aufklärung nicht beteiligt hat und Ergebnisse interner Untersuchungen unter Verschluss hält.
852 BGB lässt VW im Abgasskandal nicht aus der Verantwortung
Was bedeutet dieser Restschadensersatzanspruch in der Praxis. Gerichte in Marburg, Magdeburg und Kiel haben eine Verurteilung von VW nach § 852 BGB bereits angekündigt oder ziehen es in Betracht.
- Die Ansprüche auf eine Geldzahlung können laut 852 BGB frühestens nach zehn Jahren verjähren. Hierbei handelt es sich um den sogenannten Restschadensersatzanspruch. Wer sich beispielsweise sittenwidrig einen finanziellen Vorteil verschafft hat, muss diesen Vorteil wieder zurückgeben.
- Im BGB liest sich 852 dann wörtlich folgendermaßen:
„Hat der Ersatzpflichtige durch eine unerlaubte Handlung auf Kosten des Verletzten etwas erlangt, so ist er auch nach Eintritt der Verjährung des Anspruchs auf Ersatz des aus einer unerlaubten Handlung entstandenen Schadens zur Herausgabe nach den Vorschriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung verpflichtet. Dieser Anspruch verjährt in zehn Jahren von seiner Entstehung an […].“ - Auf die Seite der Verbraucher hat sich bei diesem Thema auch die Juraprofessorin Susanne Augenhofer in einem Aufsatz der Zeitschrift Verbraucher und Recht (VuR 2019/3, 83, 86) Voraussetzung, dass § 852 BGB greift, ist das Vorliegen eines deliktischen Schadensersatzanspruchs, so Augenhofer. Der Bundesgerichtshof hat im ersten VW-Urteil am 25. Mai 2020 diesen Anspruch deutlich festgestellt.
- Für die Kanzlei Dr. Stoll & Sauer ist daher klar, dass im Falle einer möglichen Verjährung von VW-Fällen § 852 BGB greift, und VW den durch die Manipulation erlangten finanziellen Vorteil dem Verbraucher zurückgeben muss. Wer beispielsweise seinen Diesel 2013 erworben hat, kann bis 2023 Ersatzansprüche gegen VW geltend machen.
- Doch wie könnte der Ersatzanspruch berechnet werden? „Der Anspruch“, schreibt wieder Augenhofer in der Zeitschrift VuR, „würde im VW-Fall den Betrag, den das Unternehmen auf Kosten der Verbraucher erlangt hat, also den Kaufpreis abzüglich der Händlermarge, umfassen. Zu dem durch die unerlaubte Handlung erlangten Vorteil gehören gem. § 818 Abs. 1 BGB auch die durch die Nutzung des Kapitals erlangten tatsächlichen Zinsen. Nach § 852 Satz 2 BGB verjährt der Restschadensersatzanspruch innerhalb von zehn Jahren von seiner Entstehung an (…). Für den VW-Fall bedeutet dies, dass der Anspruch zum Zeitpunkt des Erwerbs des betreffenden Fahrzeugs entstanden ist.“ Das Landgericht Kiel hat sich offensichtlich dieser Vorgehensweise angeschlossen und zieht eine Verurteilung in Betracht, wonach vom zu erstattenden Kaufpreis die Händlermarge abgezogen werden müsse.