Daimler am Landgericht Tübingen im Diesel-Abgasskandal verurteilt
Die Daimler AG muss nach dem vorliegenden Urteil der 7. Zivilkammer des Landgerichts Tübingen dem Kläger für den streitgegenständlichen Mercedes GLK 220 BlueTec 4Matic Schadensersatz in Höhe von 38.986,87 Euro nebst Zinsen bezahlen (Az. 7 0 244/20). Zu dem Fahrzeug lag seit August 2018 ein verpflichtender Rückruf des Kraftfahrt-Bundesamtes (KBA) vor. Der Kläger ließ dementsprechend ein Software-Update aufspielen. Im Juni 2020 verklagte er die Daimler AG auf Rückabwicklung des Kaufvertrags. Hier nun die wichtigsten Fakten zum Verfahren im Tübinger Urteil:
- Die Klägerpartei erwarb das Fahrzeug im September 2015 zum Preis von 890 Euro. Das Fahrzeug der GLK-Klasse verfügt über einen Motor vom Typ OM 651 (Euro 6), der mit verschiedenen unzulässigen Abschalteinrichtungen zum Einsatz gekommen sein soll. Unter anderem sollen Softwarefunktionen in der Motorsteuerung Anhand von Geschwindigkeit, Beschleunigungswerten und des Lenkwinkeleinschlags erkennen, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand befindet. Bei diesen Bedingungen sei die Abgasaufbereitung so optimiert, dass möglichst wenige Stickoxide (NOx)entstünden. Im normalen Fahrbetrieb würden dagegen Teile der Abgaskontrollanlage außer Betrieb gesetzt, weshalb die NOx-Emissionen dann erheblich höher seien.
- Darüber hinaus soll das Fahrzeug über weitere unzulässige Abschalteinrichtungen verfügen: Ein sogenanntes Thermofenster reguliere die Abgasreinigung temperaturabhängig, was dazu führt, dass die meiste Zeit des Jahres das Fahrzeug die Umwelt verpestet. Nach einer Fahrtdauer von 1.200 bis 2.000 Sekunden wechsle der Motor in einen Fahrmodus mit erhöhtem Schadstoffausstoß (sog. Zeiterkennung). Der geregelte Kühlmittelthermostat verringere außerhalb des Prüfzyklus die Abgasrückführungsrate. Das führt dazu, dass im realen Straßenbetrieb die Abgasgrenzwerte nicht eingehalten werden. Nach Zurücklegen einer Strecke von 25 Kilometern nach einem Kaltstart fährt die Abgasreinigung zurück (Bit 15). Außerhalb des Prüfstandes wird die Einspritzung von AdBlue in den SCR-Katalysator reduziert.
- Das Gericht folgte in seinem Urteil letztlich dem Kläger. Der Kläger hat ein Fahrzeug erworben, das er so nicht kaufen wollte, und daher einen Schaden erlitten. Das Gericht bezog sich vor allem auf den Rückruf des KBA. In dem Fahrzeug sind mehrere unzulässige Abschalteinrichtungen verbaut. Daimler ist aufgrund vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung nach § 826 BGB wegen Verwendung dieser unzulässiger Abschalteinrichtungen gegenüber dem Kläger haftbar. Der Kläger hat für das Gericht schlüssig das Vorhandensein der illegalen Abschalteinrichtungen vorgetragen.
- In seiner Urteilsbegründung stellte das Gericht fest: „Der Inhalt des Rückrufbescheides des KBA vom 23.05.2018 und der Ergänzungsbescheid vom 03.08.2018 (…) belegen die substantiierte Darlegung einer unzulässigen Abschalteinrichtung seitens des Klägers in eindrücklicher Deutlichkeit, da sie der Beklagten aufgeben, auf der Basis der erteilten Typengenehmigungen in den von ihr produzierten Fahrzeugen die "Vorschriftsmäßigkeit herzustellen, indem alle unzulässigen Abschalteinrichtungen [...] aus dem Emissionskontrollsystem entfernt werden (…).“
- Dass Gericht bemängelte, dass Daimler dem Vortrag des Klägers zum Vorhandensein der behaupteten Abschalteinrichtungen nicht substantiiert bestritten habe, so dass der Vortrag als zugestanden gilt. „Denn die Beklagte ist ihrer sekundären Darlegungslast, die sie aufgrund des allein ihr und nicht dem Kläger zugänglichen Wissen über den von ihr konstruierten Motor trifft, nicht nachgekommen.“
- Daimler, kritisierte das Gericht weiter, habe lediglich nur pauschal vorgetragen. Ferner hat der Autobauer bestritten, dass die von der Klägerpartei beschriebenen Softwarefunktionen vorhanden seien. Das KBA habe keine Prüfstandserkennung moniert, beteuerte Daimler. Aus dem von Daimler vorgelegten KBA-Bescheid war jedoch alles, was unter der Überschrift "Sachverhalt“ ausgeführt war, geschwärzt und nicht lesbar. Der Autobauer begründete dies mit dem Stichwort Betriebsgeheimnis. Das Gericht ließ das Argument nicht gelten. Daimler hätte den Bescheid ungeschwärzt vorlegen müssen, um die Vorwürfe zu entkräften.
- Das Fahrzeug entspricht aus Sicht des Gerichts nicht der Norm im Sinne der Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007. Auf dem Prüfstand werden die Abgasnormen eingehalten, im Straßenverkehr jedoch nicht. Das Fahrzeug ist für das Landgericht mangelhaft. Auch das aufgespielte Software-Update habe den Mangel nicht beseitigt.
- Der Verbraucher muss sich eine Nutzungsentschädigung anrechnen lassen. Das Gericht setzte dazu eine zu erwartende Gesamtlaufleistung des Motors von 250.000 Kilometer an.
- Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Der Diesel-Abgasskandal der Daimler AG entwickelt sich ähnlich wie der Skandal bei der VW AG. Am Anfang sahen die wenigsten Experten eine Chance, juristisch gegen VW erfolgreich zu sein. In den ersten zwei Jahren gingen die ersten Verfahren verloren. Die Trendwende setzte durch neue Erkenntnisse, Gutachten und erste Hinweise des BGH ein. Genauso verhält es sich bei der Daimler AG. Mit einem Beschluss des BGH 2020 setzte die verbraucherfreundliche Wende in der Rechtsprechung ein. Daran kann auch die Medienkampagne der Daimler AG nichts ändern und die damit einhergehende Schmutzkampagne gegen Verbraucheranwälte. Gebetsmühlenartig trägt Daimler vor, dass die meisten Urteile gegen die Verbraucher ausgesprochen worden sind. Doch das ist definitiv Vergangenheit. Die Kanzlei Dr. Stoll & Sauer fasst die Entwicklungen der vergangenen Monate zusammen.
- Der Bundesgerichtshof (BGH) machte am 28. Januar 2020 klar, dass die Daimler AG in den Abgasverfahren ihrer sekundären Darlegungslast nachkommen muss ( VIII ZR 57/19). Bisher hatte Daimler das Existieren von unzulässigen Abschalteinrichtungen nur geleugnet und nicht stichhaltig widerlegt. Seit diesem Beschluss ist generell klar, dass Autobauer die gegen sie gemachten Anschuldigungen auch widerlegen müssen. Ebenso regte der BGH gutachterliche Überprüfungen an. Der BGH-Beschluss löst eine Welle von Gutachten und Beweisbeschlüssen von Landgerichten und Oberlandesgerichten aus.
- Am 19. September 2020 verurteilte mit dem Oberlandesgericht Naumburg erstmals ein Gericht der zweiten Instanz die Daimler AG aufgrund vorsätzlicher und sittenwidriger Schädigung nach §826 BGB zur Zahlung von Schadensersatz. Streitgegenständlich war ein Mercedes-Benz GLK 220 CDI 4MATIC mit dem Motor OM 651 und der Abgasnorm Euro 5. Das Gericht ließ keine Revision zu und zog Parallelen zum ersten Diesel-Abgasskandal bei der Volkswagen AG (Az. 8 U 8/20).
- Am 5. November 2020 folgte das Oberlandesgericht Köln ( 7 U 35/20) und verurteilte Daimler. Das von der Kanzlei Dr. Stoll & Sauer erstrittene Urteil sieht in einem Daimler-Fahrzeug (Wohncamper Mercedes 250 d Marco Polo) verschiedene unzulässige Abschalteinrichtungen wie die temperaturabhängige Abgasreinigung (Thermofenster), die Kühlmittel-Soll-Temperaturregelung, die AdBlue-Dosierung, die Aufwärmstrategie, den Abschaltmodus nach 20 Minuten und eine Getrieberegelung. Letztlich geht es bei diesen Abschalteinrichtungen darum, die Abgasnormen nur auf dem Prüfstand einzuhalten.
- Ein Gutachten am Landgericht Stuttgart aus dem November 2020 belastet zudem die Daimler AG schwer. Das Fazit des Software-Experten ist laut einem Bericht des Bayerischen Rundfunks eindeutig: "Die Motorsteuersoftware enthält eine Abschaltvorrichtung". Das Fahrzeug erkenne "die niedrige benötigte Motorleistung" auf dem Teststand, wenn der Prüfzyklus, der sogenannte NEFZ, durchfahren werde. Die Motorsteuerung regele dann die Kühlmittelsolltemperatur auf 70 Grad Celsius herunter – statt der üblichen 100 Grad. "Die abgesenkte Kühlmitteltemperatur führt zu besseren NOx-Werten", so das Gutachten. Das bedeutet: Beim getesteten Fahrzeug, einem Mercedes-Benz E250 CDI Euro 5 mit dem bekannten Skandalmotor OM651, wird die Menge schädlicher Abgase auf dem Prüfstand verringert.
- Das Kraftfahrt-Bundesamt hat im Jahr 2020 insgesamt 20 Rückrufe in der Regel aufgrund „unzulässiger Abschalteinrichtungen“ gegen die Daimler AG erlassen. Der Abgasskandal geht daher weiter und ist noch lange nicht zu Ende.
- Am 26. Januar 2021 äußerte sich der Bundesgerichtshof erstmals zum sogenannten Thermofenster (: VI ZR 433/19). Der bloße Einsatz des Thermofensters ist nach Einschätzung des BGH noch nicht sittenwidrig und nicht mit der VW-Betrugssoftware vergleichbar, bei der die Abgassteuerung auf Prüfständen anders funktionierte als auf der Straße. Beim Thermofenster wird die PKW-Abgasreinigung automatisch aufgrund der Außentemperatur geregelt – sprich im Straßenverkehr ausgeschalten. Der BGH verwies das Verfahren wegen Verletzung rechtlichen Gehörs an das OLG Köln zurück. Dort muss geklärt werden, ob Daimler im Zulassungsverfahren unrichtige Angaben über die Arbeitsweise der Software gemacht hat. Mit Blick auf die unzähligen Rückrufe des KBA wird klar, dass Daimler gegenüber der Behörde es mit der Wahrheit nicht genau genommen hat. Durch den BGH-Beschluss steigen damit die Chancen der Verbraucher, sich vor Gericht ihre berechtigten Ansprüche zu erstreiten.
- Der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) reichte am 7. Juli 2021 eine Musterfeststellungsklage gegen die Daimler AG ein. Die Dr. Stoll & Sauer Litigation Rechtsanwaltsgesellschaft mbH aus Lahr vertritt den vzbv in der Musterfeststellungsklage gegen die Daimler AG. Die Klage ist vor allem für Verbraucher ohne Rechtsschutzversicherung vorteilhaft. Versicherte Verbraucher steht die Individualklage offen, die schneller über die Bühne gehen kann und höhere Schadensersatzzahlungen verspricht.
- Der Bundesgerichtshof (BGH) weist ein Daimler-Verfahren am 13. Juli 2021 an das Oberlandesgericht Koblenz zurück. Es geht nicht nur um das Thermofenster, sondern um andere Manipulationen an der Abgasreinigung der Daimler-Motoren. Und solche Manipulationen führen derzeit reihenweise zur Verurteilung des Autobauers.