Landgericht Hildesheim nimmt Bezug auf EuGH-Urteil
Fiat-Kunden und Camper stehen seit dem Sommer 2020 unter Schock. Damals durchsuchten Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft Frankfurt Büroräume von FCA und Iveco – beide gehören zum Fiat-Imperium. „Frankfurt: Durchsuchungen wegen des Verdachts des Betruges im Zusammenhang mit Diesel-Abschalteinrichtungen“, titelte die Staatsanwaltschaft in ihrer Pressemitteilung vom 22. Juli 2020. Ganz offensichtlich hat auch der Autokonzern Fiat wie die Volkswagen AG den Verbrauchern einen ausgewachsenen Diesel-Abgasskandal beschert. Die Abgasreinigung der Motoren soll so manipuliert werden, dass die EU-Grenzwerte nur auf dem Prüfstand eingehalten werden. Im realen Straßenverkehr wird die Umwelt verpestet und die Gesundheit der Bürger gefährdet. Weil Fiat und Iveco Fahrgestelle und Motoren an Herstellern von Reise- und Wohnmobilen verkaufen, hielt der Abgasskandal somit Einzug in die gerade durch die Corona-Pandemie boomende Branche.
Mittlerweil hat die Verbraucherkanzlei Dr. Stoll & Sauer weit über 1000 Klagen im Fiat-Abgasskandal an deutschen Gerichten eingereicht. Erste verbraucherfreundliche Urteile konnten bereits erstritten werden. Die juristische Aufarbeitung des Skandals ist im vollem Gang. Das Landgericht Hildesheim hat am 24. Januar 2022 einen Beweisbeschluss gefasst. Ein Sachverständiger soll in einem Gutachten klären, ob und welche Abschalteinrichtungen Fiat im Ducato-Motor verwendet und ob diese notwendig zum Schutz des Motors sind. Hier die Eckdaten zum vorliegenden Verfahren, das von der Kanzlei Dr. Stoll & Sauer geführt wird:
- Im März 2019 kaufte der Kläger das Fahrzeug der Marke Adria „Coral XL Plus 670 SL“ für 86.874 Euro. Beim Motor handelt es sich um ein Multijet 2,3l mit 150 PS der Abgasnorm Euro 6b. Motorkennung: F1AGL411C. Mit Klage vom 11. März 2021 soll das Landgericht Hildesheim feststellen, ob dem Kläger durch den Diesel-Abgasskandal ein Schaden entstanden ist und Stellantis dafür haftet. Die Automobilholding Stellantis ist nach der Fusion zwischen FCA und PSA entstanden. Darüber hinaus wird der Händler auf Neulieferung eines mangelfreien Fahrzeugs verklagt. Das Wohnmobil befindet sich noch in der zweijährigen Gewährleistung.
- Mit Beschluss vom 24. Januar 2022 weist das Landgericht Hildesheim auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 17. Dezember 2020 hin. Der EuGH hatte dabei Abschalteinrichtung für illegal erklärt und dem Motorschutz-Argument der Autobauer ganz enge Grenzen gesetzt. Es müsse schon Gefahr für die Insassen und das Fahrzeug bestehen, ehe eine Abschalteinrichtung gerechtfertigt sei. Ein Gutachten eines Sachverständigen soll nun klären, ob Fiat Abschalteinrichtungen wie eine Zeitschaltuhr oder ein Thermofenster im Motor verbaut und ob diese notwendig sind, um plötzliche und außergewöhnliche Schäden zu verhindern. Folgende Fragen soll nun ein Gutachten im Hinblick auf die EuGH-Entscheidung für das Gericht beantworten:
1. Abschaltung der Abgasreinigung nach Zeitfenster:
a) Wird im streitgegenständlichen Fahrzeug eine Abschalteinrichtung verwendet, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringert, indem die Abgasreinigung nach einem Zeitfenster von 26 Minuten und 40 Sekunden Motorbetrieb abgeschaltet wird?
b) Sofern die vorstehende Frage bejaht wird:
Ist diese Abschalteinrichtung notwendig, um den Motor vor plötzlichen und außergewöhnlichen Schäden zu schützen, die (1.) im Prinzip nicht vorhersehbar und nicht der normalen Funktionsweise des Fahrzeugs inhärent sind (wie zum Beispiel Verschmutzung bzw. Verschleiß des Motors) und die (2.) unmittelbar zu einer konkreten Gefahr während des Betriebs des Fahrzeugs führen (vgl. EuGH, Urteil vom 17. Dezember 2020 – C-693/18)?
a) Wird im streitgegenständlichen Fahrzeug eine Abschalteinrichtung verwendet, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen erringert, indem die Abgasreinigung in Abhängigkeit von der Umgebungstemperatur reduziert wird („Thermofenster“)?
b) Sofern die vorstehende Frage bejaht wird:
Ist diese Abschalteinrichtung notwendig, um den Motor vor plötzlichen und außergewöhnlichen Schäden zu schützen, die (1.) im Prinzip nicht vorhersehbar und nicht der normalen Funktionsweise des Fahrzeugs inhärent sind (wie zum Beispiel Verschmutzung bzw. Verschleiß des Motors) und die (2.) unmittelbar zu einer konkreten Gefahr während des Betriebs des Fahrzeugs führen (vgl. EuGH, Urteil vom 17. Dezember 2020 – C-693/18)?
[*]On-Board-Diagnosesystem (OBD):
Ist im streitgegenständlichen Fahrzeug das On-Board-Diagnosesystem so manipuliert worden, dass dieses beim Betrieb teilweise ausgeschaltet wird.
- Die Kanzlei Dr. Stoll & Sauer geht davon aus, dass die Abschalteinrichtungen nicht notwendig zum Motorschutz sind. Außerdem weisen mehrere Gutachten außerhalb von Gerichtsverfahren darauf hin, dass Wohnmobile die Abgasgrenzwerte nur auf dem Prüfstand einhalten.
Für die Kanzlei Dr. Stoll & Sauer ist die Beweislast gegen den Autobauer mittlerweile erdrückend. Alleine die Vorkommnisse bis ins Jahr 2020 müssten für eine Verurteilung von FCA genügen. Weit über 1000 Klagen hat die Kanzlei mittlerweile gegen FCA, Iveco und Fahrzeughändler bundesweit eingereicht. Hier eine kurze Zusammenfassung der aktuellen Entwicklungen:
- Das Landgericht Landau hat Fiat Chrysler am 6. Dezember 2021 zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 48.155,93 Euro verurteilt ( 2 O 169/21). Das Urteil ist das erste Nicht-Versäumnisurteil im Abgasskandal von Fiat.
- Die Kanzlei Dr. Stoll & Sauer hat mehrere verbraucherfreundliche Urteile in erster Instanz erstritten. Die Urteile sind nicht rechtskräftig. Einige Verfahren befinden sich an Oberlandesgerichten in der Berufung.
- Das Landgericht Nürnberg hat mit Entscheidung vom 9. Juli 2021 festgestellt, dass die Holding Stellantis in der Rechtsnachfolge von Fiat Chrysler Automobiles (FCA) steht ( 19 O 737/21). Stellantis war Anfang des Jahres durch die Fusion von FCA und des französischen Konzerns PSA entstanden. Damit kann auch gegen Stellantis geklagt werden.
- Das Landgericht Stade verurteilte am 17. August 2021 den Händler eines Wohnmobils zur Zahlung von Schadensersatz, weil das Fahrzeug mangelhaft war ( 2 O 175/21). Der Halter kann sein Fahrzeug bei dem sogenannten kleinen Schadensersatz behalten. Den kleinen Schadensersatz hatte Dr Stoll & Sauer am Bundesgerichtshof in einem VW-Fall erstritten.
- Das Landgericht Oldenburg ordnete am 2. September 2021 die Neulieferung eines mangelfreien Wohnmobils an ( 4 O 767/21). Befindet sich ein Neufahrzeug in der zwei Jahre andauernden Gewährleistung, so wird neben FCA/Stellantis auch in der Regel der Händler verklagt. Der Bundesgerichtshof hatte im VW-Abgasskandal die Form der Neulieferung bestätigt.
- Das Landgericht Münster will beim KBA Auskunft über den Stand der Ermittlungen einholen.
- Das Landgericht Kempten stellt die Einholung eines Gutachten in Aussicht, falls FCA/Stellantis die Vorwürfe der Abgasmanipulation bestreitet. Dem sieht Dr. Stoll & Sauer gelassen entgegen. Mehrere Gutachten außerhalb von Gerichtsverfahren weisen derzeit darauf hin, dass Wohnmobile die Abgasgrenzwerte nur auf dem Prüfstand einhalten.
- Am Landgericht Flensburg sieht die vierte Zivilkammer starke Indizien für eine unzulässige Abschalteinrichtung im Fiat-Motor. Das Argument Motorschutz will das Gericht in einer ersten Stellungnahme wohl nicht gelten lassen (Az. 4 O 232/21).
- Das Landgericht Saarbrücken lässt ein Gutachten zum Wohnmobil Columbus 640E von Westfalia einholen. Der Stickoxidausstoß soll überprüft werden (Az. 12 O 18/21).
- Das Landgericht Ansbach hat mit Beschluss vom 14. Dezember 2021 ein Gutachten in Auftrage gegeben, das herausfinden soll, ob „in dem Fahrzeug unzulässige Abschalteinrichtungen vorhanden sind“ (Az. 3 O 761/21).
- Das KBA hat im Februar 2021 einen Rückruf zum Iveco-Motor Daily erlassen – allerdings nicht verpflichtend. „Durch eine ungeeignete Software können Störungen auftreten, durch die sich die Verringerung von Stickoxiden gegebenenfalls verschlechtert“, heißt es verklausuliert im KBA-Deutsch. Die Daily ist in vielen Wohnmobilen verbaut worden. Und Iveco gehört zum weitverzweigten Fiat-Imperium.
- Die Kanzlei Dr. Stoll & Sauer hat Informationen, wonach es bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt „amtsbekannt“ ist, dass Fiat-Motoren manipuliert worden sind.
- Das KBA hat durch eigene Untersuchungen festgestellt, dass Wohnmobile die Abgasgrenzwerte im realen Straßenverkehr nicht einhalten. Daher prüft die Behörde derzeit Konsequenzen. Nach EU-Recht hat das KBA sogar die Möglichkeit, betroffene Fahrzeuge stillzulegen.
- Mittlerweile versuchen Wohnmobilhändler sich außergerichtlich mit geschädigten Kunden zu einigen.
- Fiat Chrysler hat in einem Verfahren der Kanzlei Dr. Stoll & Sauer den Einbau der sogenannten Zeitschaltuhr zugestanden. Der Einsatz des Timers führt dazu, dass die Abgasreinigung nach 22 Minuten ausgeschalten wird. Grund dafür: Die meisten Fahrten, so die Fiat-Anwälte, dauerten nicht länger als 22 Minuten.