Ein entschiedenes Plädoyer für die Anekdote hält Gerhard Branstner in „Wie Fritz den Teufel erschlug. Kleine Anekdotenbibliothek“.
Gleich drei Schwerin-Krimis in einem E-Book präsentiert „Tod im Pfaffenteich, auf dem Dreesch und in der Grotte“ von Christiane Baumann.
Eine Einladung zu einem Friedhofsspaziergang sind die Hefte 1 und Heft 2 der vom Förderverein Alter Friedhof e.V. herausgegebenen Schriftenreihe „Orte der Erinnerung“.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Wieder einmal wird über das Überleben der Menschheit nachgedacht und darüber, was dieses Überleben mit dem Schutz von Natur und Umwelt zu tun hat.
Erstmals 1999 veröffentlichte Gerhard Branstner GNN Verlag Schkeuditz „Witz und Wesen der Lebenskunst oder Die zweite Menschwerdung. Fortgesetzter Marxismus. Essays und Glossen“: Mein Denken und Tun kreist nur um ein Thema, sagt der streitbare Autor. Das ist der Übergang von der Klassengesellschaft zur klassenlosen Gesellschaft, anders gesagt der Übergang von der Vorgeschichte der Menschheit zu ihrer eigentlichen Geschichte. Dieser Übergang ist mir zum Sinn meines Lebens geworden. All meine Gedanken, ob sie zu den Naturvölkern gehen oder zu Napoleon, zu den Konzentrationslagern oder nach Irak, nach Israel oder zum Stalinismus, all meine Gedanken haben ihren Sinn und Zweck doch nur darin, den Übergang zu begreifen, als richtig und unvermeidlich zu erkennen, zu ermöglichen, zu befördern. Das erklärt die innere Verbindung und Gebundenheit, die Einheit der Verschiedenheit meiner geistigen Unternehmungen. Wenn wir nicht wissen, wohin wir gehen, wissen wir nicht, woher wir kommen, und jeder redet nur Unsinn über das Woher, und jeder einen anderen. Wenn ich aber weiß, wohin wir gehen, läuft alles auf den gleichen Sinn hinaus.
Wenn Marx die gesellschaftliche Entwicklung in Vorgeschichte und eigentliche Geschichte schied, in Urgesellschaft und Klassengesellschaft zum einen und klassenlose Gesellschaft zum anderen, so markierte er den schmerzlichsten, schwierigsten und tiefstgehenden Wandel im Schicksal der Menschheit.
Der gedanklichen Bewältigung dieses Vorgangs war Marx nicht gewachsen. Ihm fehlten zwei Voraussetzungen. Die eine war der Untergang des „realen Sozialismus“. Ohne diese Erfahrung kann kein Mensch die Bedingung des erfolgreichen Sozialismus erfassen.
Der Übergang zur eigentlichen Geschichte ist folglich grundsätzlich anders, als die Klassiker des Marxismus ihn sich vorstellten, soweit sie ihn sich überhaupt vorgestellt haben. Von dieser kümmerlichen und naiven Vorstellung müssen wir Abschied nehmen.
Als Ausgleich erhalten Sie, verehrter Leser, acht Wissenschaftsbegründungen geboten. Sie reichen von der Beziehung des Menschen zur Natur bis zu seiner Beziehung zur Kunst. Womit er in allen seinen wesentlichen Seiten erfasst ist. Das hat es auch noch nicht gegeben.
Ich wünsche Ihnen ein akademisches Vergnügen.
Ihr Doktor phil. Gerhard Branstner, grüßt der Autor und merkt zum Thema Natur an:
Mein Beitrag zur Fortsetzung des Marxismus besteht nach der menschlichen Seite hin hauptsächlich in dem „Prinzip Gleichheit“. Hier erhält der marxistische Humanismus sein absolutes Kriterium. Die Fortsetzung des Marxismus nach der Seite der Natur nehme ich vor allem mit dem „philosophischen Gesetz der Ökologie“ vor. Der hohe Stellenwert, den das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen durch Marx erhalten hatte, versperrte die Erkenntnis dieses Verhältnisses in seiner Funktion als Mittel zum Zwecke der übergeordneten Anpassung. Und es verführte Lenin zu seinem Irrtum, die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus in der höheren Arbeitsproduktivität zu sehen.
Wie Freund und Feind sehen müssen, ist der Sozialismus mächtig schiefgelaufen. Wer hat sich da geirrt? Die Geschichte? Oder wir, und mit uns die Theorie? Oder beide? Das gilt es zu klären, aufzuklären. Eines aber sei schon hier vermerkt. Die Theorie trägt die wenigste Schuld. Schließlich hatte sie am wenigsten zu sagen. Das war eine Hauptschuld. Der Politik. Aber für den Fall, dass die Theorie einmal mehr zu sagen hat: Der historische Materialismus kann nur als fortgesetzter, als vom gestrigen zum heutigen fortgeschriebener seinen Sinn erfüllen. Das heißt, wir müssen das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Funktion der Anpassung begreifen und auf die Weise den historischen Materialismus auf eine höhere Stufe heben. Damit befreien wir den Sozialismus von der Verdammnis, eine überlegene Arbeitsproduktivität realisieren zu müssen und heben ihn auf die Stufe der menschlichen Überlegenheit, indem er die Einheit von Mensch und Natur verwirklicht.“ Und damit zu den anderen vier Sonderangeboten dieses Newsletters:
Erstmals 1984 erschien im Verlag Neues Leben Berlin „Verliebt auf eigene Gefahr“ von Christa Grasmeyer: Mich wird so leicht keine wieder einfangen, denkt Johannes, und als er Irene kennenlernt, greift er zu höchst merkwürdigen Vorsichtsmaßnahmen. Aber gerade die bringen ihn in Schwierigkeiten. Hier der Anfang dieses Jugendbuchs, in dem allerdings zunächst nur von einer Hauptperson der Liebesgeschichte die Rede ist, von Johannes:
„1. Kapitel
Er hustet und bewegt den Kopf auf dem Kissen. Neben ihm erwacht der Hund, der Ludwig heißt. Ludwig liegt mit im Bett und reckt die Pfoten.
Kemski klatscht mit einer Zeitung an die Wand. Als er sieht, dass Johannes die Augen offen hat, erklärt er: „Du stöhnst im Schlaf, so stechen einen hier die Mücken.“ Johannes beobachtet ihn eine Weile. Er krault den Hund. „Nein“, sagt er, „das kommt von deinen Tabletten.“ Kemski lässt die Zeitung, die er als Mückenklatsche benutzt hat, sinken.
„Du bist einfach bei meinen Tabletten gewesen? Warum?“
„Weil ich einen Rausch wollte. Ich hab gehört, es gibt Tabletten, die zusammen mit Schnaps den schönsten Rausch schaffen.“
Kemski sitzt einige Sekunden stumm auf seinem Bett. Dann sagt er: „Dass du darauf scharf bist! Nächstens schüttest du dir ein ganzes Röhrchen voll in den Rachen.“
„Nur eine hab ich genommen, und stell dir vor, gerade will ich mir einen Schnaps holen, da fall ich wie ein Panzernashorn aufs Bett. Du hast da schwere Betäubungsmittel.“
„Ausgeschlossen. Du musst überempfindlich sein. Wie kannst du wahllos zulangen, irgendwas einnehmen!“
„Mir ist so merkwürdig ...“ Johannes streicht sich über die bloßen Arme. „Es tropft. Merkst du auch, dass es hier tropft?“
„Was tropft?“, fragt Kemski beklommen.
„Schmieröl. Von oben kommt Schmieröl ...“
Über Halluzinationen weiß Kemski nicht Bescheid, jedenfalls nicht auf Anhieb, er müsste erst im Gesundheitsbuch nachlesen. Er legt seine Maurerhände auf Johannes’ Schultern. Ein Schrei lässt ihn zurückprallen. Johannes fährt hoch und krümmt sich. Er würde gern mit einem kompletten Anfall den Spijök auf die Spitze treiben, aber der Hund macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Ludwig springt bellend im Bett umher. Johannes muss ihn festhalten.
Kemski schlappt auf seinen ausgetretenen Turnschuhen zur Tür. Als Johannes’ Zimmergefährte ist er an Faxen gewöhnt. Er zieht ab in den kahlen, ungemütlichen Raum, in dem die Männer essen und abends beim Fernsehen und Kartenspiel sitzen.
Johannes zündet sich eine Zigarette an. Er balgt sich mit Ludwig im Bett, der ist dafür immer zu haben. Ludwig hat schon mal ein Kissen zerfetzt. Johannes hat die Federn zusammengeklaubt und das Kissen in die Mülltonne gestopft, aber als die Müllfahrer kamen, ließ sich die Tonne nicht entleeren, das Kissen steckte darin wie ein Pfropfen, und die Müllfahrer zogen es heraus. Da ausgerechnet erschien die Putzfrau, die ab und zu nach dem Rechten sieht und sowieso überall erzählt, was für eine Schweinewirtschaft bei denen von der Denkmalpflege herrscht, und Johannes musste zum Verwalter gehen und das Kissen bezahlen und erklären, er selbst habe es im Zustand totaler Trunkenheit so zugerichtet, denn sonst wäre womöglich Ludwig des Hauses verwiesen worden.
Dieses Haus, „Seeblick“ genannt, soll im nächsten Winter renoviert werden, dann können wieder Bus- und Straßenbahnfahrer darin Urlaub machen. Jetzt hat es der Nahverkehrsbetrieb, da er es ohnehin zurzeit nicht nutzen kann, als Unterkunft an die Denkmalpflege vermietet. Aber hier arbeiten die Männer nicht, was hier zu tun ist, kann jeder Handwerker leisten. Zu ihrer Arbeit gehen sie eine halbe Stunde durch den Wald, der gleich hinter der Steilküste beginnt.
Am Anfang ist der Wald hoch und weiträumig, Buchen wölben das Blätterdach über den Säulen ihrer glatten Stämme. Dann kommen Eichen dazu, Fichten und Ebereschen, Unterholz wuchert, der Wald wird dicht und immer dichter, ringsum ist alles Naturschutzgebiet. Wo Bäume fallen, modern sie. Große Ameisen ziehen in Marschkolonnen über die schmalen, feuchten Wege. Schmetterlinge hängen sich an die Lupinen und bringen sie zum Erzittern. Mitten im Wald ist eine Lichtung, und auf der Lichtung steht ein Jagdschloss.
Beim Frühstück auf der besonnten Freitreppe haben sie Ludwig zum ersten Mal gesehen. Er beobachtete sie aus der Entfernung. Er kam jeden Tag und saß vor der Freitreppe, und wenn die Männer durch den Wald zurückgingen, trottete er hinterher und legte sich auf den Sandweg vor dem Haus „Seeblick“.
Johannes guckte abends aus dem Fenster. Der Hund lag so, dass er die Tür sehen konnte. Er wendete die Augen auch nicht ab, als Johannes mit der Zunge schnalzte und leise pfiff. Johannes warf ein Stück Wurst auf den Weg, der Hund merkte es nicht. Johannes warf eine von Kemskis Gesundheitsbroschüren aus dem Fenster, dass sie raschelnd ins Gesträuch fiel, ein Geräusch, das jeden Hund alarmiert hätte. Dieser hier rührte sich nicht.
Am nächsten Tag, als sie wieder beim Frühstück auf der Freitreppe des Jagdschlosses saßen und der Hund ihnen zusah, rief Johannes ihn an, erst leise, dann lauter, und als er einen Pfiff ausstieß, fuhr der Hund zusammen und riss den Kopf herum.
Die Männer lachten. Im Alter kann ein Hund taub oder blind werden, aber dieser war jung, er strolchte umher, ohne Herrn, der ihn schützte.
Es gibt allerdings die merkwürdigsten Sachen. Einmal hatten sie einen Konzertsaal restauriert. Bei der Einweihung saßen sie in der ersten Reihe, und da lasen sie im Programmheft, dass der Meister, dessen Musik sie umbrauste, taub gewesen war. Daran erinnerten sie sich nun, und ein Erbarmen kam sie an wie damals, und sie nannten den Hund Ludwig. Gewissermaßen nahmen sie ihn in ihre Brigade auf, denn wer einen Namen hat, den kennt man, und wen man kennt, den lässt man nicht draußen die Nacht verbringen. Ludwig jedoch offenbarte erheblichen Mangel an Kollektivgeist. Sieben von den acht Männern ließ er einfach links liegen. Er wählte einen einzigen aus, das war Johannes.
Die Tür wird aufgerissen. Rot und verschwitzt stürzt Martin herein.
„Der alte Kacker hat meine Maschine eingeschlossen!“ Martin feuert den Motorradhelm auf Kemskis Bett. „Gott sei Dank, dass du da bist, John“, sagt er. „Ich hatte schon Angst, du bist mit Ludwig unterwegs.“
Johannes wirft ihm eine Zigarette zu. Der Ärger mit dem Alten geht nun schon so lange. wie Martin dessen Enkeltochter zur Freundin hat, vierzehn Tage ungefähr. Wenn er sie abholt, lässt er den Motor vor dem Haus, sogar im Hof des Alten, heulen und knattern. Das Mädchen findet nichts dabei. Sie kommt trällernd aus dem Haus und schwingt sich hinter Martin auf den Sitz.“
Erstmals 2003 erschien in der Kater-Taschenbibliothek im trafo Verlag „Wie Fritz den Teufel erschlug. Kleine Anekdotenbibliothek“ von Gerhard Branstner. Worin es dem Autor in seinem Buch geht, erläutert er in einem ausführlichen Vorwort, von dem hier zumindest der Anfang zitiert werden soll:
„Vorbemerkung zu Wie Fritz den Teufel erschlug“
Die Anekdote hat es, wie du, lieber Leser, gleich merken wirst, in sich, denn sie hat mehr als alle anderen Literaturformen hinter sich: Mehr als zweitausend Jahre und den ganzen Erdball. Sie reicht von Japan bis an den oberen Nil, von Südfrankreich bis zu den Indianern Nordamerikas, von den Eskimo bis zu den Pygmäen. Weltreisende, die sich bei den Naturvölkern aufgehalten haben, berichten von dem unbändigen Gelächter, das in der Anekdoten zum Besten gebenden abendlichen Runde zu erleben war.
Eines ist unbestritten: Die Anekdote hat drei wunderbare Eigenschaften. Das sind die Weisheit, die Heiterkeit und die Geselligkeit. Darin kommt ihr keine andere Kunst gleich. Was Wunder, dass ihr meine große Liebe gehört. Und ein langes Vorwort.
Ob sie vom professionellen Rapsoden oder in der fröhlichen Runde vorgetragen wird, allemal hat sie mehr Geist und Witz als die angestrengten Späße, mit der die Moderatoren in unseren Breitengraden das Publikum malträtieren.
Da ich dem Publikum Gelegenheit geben wollte, eine innige Neigung für diese Kunstform zu gewinnen, habe ich vier der wichtigsten Anekdotenformen produziert.
Die erste ist die Anekdote, die ich in der orientalischen Manier geschrieben habe. Die orientalische Anekdote hat ihren eigenen Reiz. Sie ist von sinnlicher Sprache, hat eine gut gebaute Geschichte und eine witzige Pointe. Wobei der Witz oft eine demokratische Eigenschaft besitzt: Der arme Schlucker offeriert dem Herrscher einen verblüffenden Spaß, wofür der ihm die Strafe erlässt. Das mag in der Wirklichkeit seltener vorkommen als in der Anekdote, immerhin wird es durch sie dem armen Schlucker wohler.
Die orientalische Anekdote verdankt ihren Reichtum und ihre Geltung den regen Handelsverbindungen ihrer Zeit und der damit verbundenen Höhe der Kultur. Allein Bagdad hatte zur Zeit seiner Blüte (10. und 11. Jahrh.) etwa 12 000 Mühlen, 12 000 Karawansereien, 100 000 Moscheen, 60 000 Bäder und 80 000 Basare. Zugleich gab es aber noch keinen Buchdruck. Also musste eine literarische Form gefunden werden, die vom Gedächtnis aufbewahrt und mit dem Mund weitergegeben werden konnte. Und da war keine besser als die Anekdote. Das ist nicht das einzige Mal, wo ein eklatanter Mangel, auch wenn er gar nicht empfunden wird, ein exzellentes Produkt hervorbringt. Allerdings nur, wenn dem Mangel ein Überfluss entgegensteht (dem noch nicht erfundenen Buchdruck ein ungeheurer Reichtum an Erzählgut). Zum Schluss der Betrachtung über die orientalische Anekdote soll gesagt sein, was über sie hinaus das Wichtigste an ihr ist: die gehobene gesprochene Sprache. Zweifellos muss wirkliche Literatur gehobene Sprache sein, aber doch nicht gewollte, gedrechselte, gestelzte, selbst wenn sie die gediegene Schönheit der Sprache Thomas Manns hat. Die Lösung liegt allein darin, gehobene gesprochene Sprache zu sein. Diese ist weniger anstrengend, dafür sinnfälliger, geselliger, menschenfreundlicher. Diese Sprache war stets das absolute Ziel meiner literarischen Arbeit.
Wer genauer wissen will, wie sich meine Anekdoten von den originalen Vorgaben unterscheiden, kann sich in der Bibliothek das Buch „Die Ochsenwette“ besorgen. Bei der Gelegenheit kommt er auch in den Genuss der wunderschönen Zeichnungen von Renate Totzke-Israel.
Die Anekdoten in der Art der Kalendergeschichte kann in dieser Weise nur ein Thüringer schreiben, nämlich wenn er in der Rudolstädter Gegend zu Hause ist. Dort werden Anekdoten, oder Schnurren und Schnärzchen, wie sie da heißen, nicht erzählt, sie werden erst einmal vollbracht. Was dem einen in seiner Dussligkeit oder Gutgläubigkeit widerfährt oder dem anderen zum Schabernack mitgespielt wurde, wird des Abends in der Kneipe zum besten gegeben, oft noch ausgeschmückt oder schlüssiger gemacht, bis es die gültige, endgültige Form erhalten hat. Wer in dieser thüringischen Tradition großgeworden ist, kann gar nicht anders, als sein Leben lang Schnurren und Schnärzchen vollbringen und erzählen.
In meinen Kalendergeschichten werden gut ein Dutzend Anekdoten erzählt, die in meiner engeren Heimat geschehen sind. Der magenkranke Straßenarbeiter in „Warum Wilhelm sich stets mit zwei Fingern an die Schläfe tippte“ und der Bibelforscher in „Wenn die Gefahr ...“ ist beide Mal mein Vater. Und die Alte in „Von Gespenstern - und wie ein Junge nicht an sie glaubte“ ist meine eigene Mutter, in Wirklichkeit eine bildschöne, hochbegabte Frau, aber dem Gespensterglauben verfallen. Ihre Freundin war Kartenlegerin und hatte ihr geweissagt, dass sie an meiner Geburt sterben werde, weshalb sie zum Leidwesen meines Vaters peinlichst aufpasste. Aber einmal muss ihr doch vor Lust die Vorsicht vergangen sein, und ich kam zustande. Ich bin folglich ein reines Versehen. Ich bitte den Leser, das Kuriosum meiner Existenz gebührend zu würdigen.“
Soeben erschien der Sammelband „Tod im Pfaffenteich, auf dem Dreesch und in der Grotte. 3 Schwerin-Krimis mit Nora Graf“ von Christiane Baumann, der drei Krimis enthält: 2017 war „Die Tote im Pfaffenteich“ erschienen, 2018 „Die toten Mädchen vom Dreesch und 2020 „Verhängnis in der Grotte“. Die ersten beiden Krimis liegen inzwischen übrigens auch als Hörbücher vor. Und so beginnt der neue, nicht ganz freiwillige Lebensabschnitt der Kriminalkommissarin, die an den Ort ihrer Kindheit zurückkehrt, wobei man den Grund dafür gleich erfahren wird:
„Die Tote im Pfaffenteich
Sonntag, 31. 7. Ankunft
Nora Graf fuhr von der Autobahn ab. Auf einem Schild stand ‚Schwerin, 8 Kilometer‘. Ihr wurde etwas mulmig zumute. Die Würfel waren gefallen; es wurde wahr, was sie vor Wochen noch für unmöglich gehalten hätte: irgendwo anders als in Berlin leben und arbeiten. Sie hatte die Wahl gehabt: entweder ab ersten August die Stelle in Schwerin oder das war’s erst mal mit ihrem Job bei der Kripo.
Wenig später passierte Nora das Ortseingangsschild. Nur einzelne Fahrzeuge waren an diesem frühen Sonntagabend Richtung Zentrum unterwegs. Robert hatte ihr die Strecke vorgebetet, weil er wusste, dass sie aufs Navi verzichten würde. Der Gedanke an ihn war tröstlich. Wie rührend ihr Mann sie in den letzten Tagen betuttelt hatte; als träte sie eine Reise in die mongolische Steppe an. Dabei ging ihre Fahrt in die Stadt, in der sie vor siebenundvierzig Jahren zur Welt gekommen war und ihre ersten acht Lebensjahre verbracht hatte. Nach dem Umzug ihrer Familie nach Berlin war der Kontakt zu den Schweriner Familienangehörigen bald eingeschlafen. Nora hatte längst aufgehört, sich und ihre Geburtsstadt in irgendeiner Weise miteinander zu verbinden. Auch als feststand, dass sie hierhin strafversetzt werden würde, hatte sie nicht nach Kindheitserinnerungen gekramt.
Nora registrierte die vielen Wahlplakate am Straßenrand. Ah ja, sie hatte irgendwas von Landtagswahlen in Meck-Pomm gehört. An Laternenmasten hingen bis zu fünf Plakate übereinander. Wer sollte die denn beim Vorbeifahren lesen können! Dann ein Umleitungsschild. Noch eins. Betraf sie das etwa? Das hätte Robert wissen müssen! Nora beschloss, die Schilder zu ignorieren. Weil auf einmal der Wunsch in ihr aufkam, das Schloss zu sehen. Und da war es schon. Eingetaucht in die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Ein Märchenschloss! Na ja, bis auf den Baukran. Der trübte den Schlossblick und half Nora, ein aufsteigendes Tränchen der Rührung zu unterdrücken.
Aber irgendwas stimmte nicht. Offensichtlich hatten die Umleitungsschilder einen Sinn gehabt. Sackgasse war angezeigt. Sie war falsch. Nora bog nach links ab und hielt. Wieso denn Sackgasse! Sie nahm den Stadtplan zur Hand und suchte ihr Ziel, den Pfaffenteich. Der würde wohl immer noch an seinem Platz sein. Nun gut, das müsste zu packen sein, umkehren, immer den Obotritenring lang, dann rechts halten … okay. Nora folgte den Hinweisen und landete schließlich in der Alexandrinenstraße. Links lag der Pfaffenteich. Es war fast geschafft, den Teich einmal umkurven, und sie wäre am Ziel. Nein, unmöglich. Was war das denn für eine Verkehrsführung! Sie wollte unbedingt im Hellen ankommen; viel Zeit blieb nicht mehr. Rechts von ihr ein mächtiges, ocker angestrichenes Gebäude mit Zinnen und Türmchen. Das erkannte sie, aber der Name war weg. Nora wendete das Auto. Die Alexandrinenstraße zurück und rechts rum. In die Schelfstraße. Auch gesperrt. Mann oh Mann! Halt weiter geradeaus bis zur Werderstraße. Die durfte befahren werden. In der Ferne erschien der große Turm des Schlosses. Nora konzentrierte sich auf die rechts liegenden Seitenstraßen. Sie fuhr die Amtstraße runter, an einer Kirche vorbei, und Nora war endgültig überzeugt, verkehrt zu sein. Sie konnte nur noch abwärts fahren. Gott sei Dank, am Ende einer abschüssigen Straße schimmerte der Pfaffenteich.
Ein Notruf
Nora meldete sich bei der Pensionswirtin, einer kleinen, freundlichen älteren Dame, und wurde herzlich begrüßt. Ihr Zimmer lag im Hochparterre, war überraschend geräumig und gefiel Nora auf Anhieb. Es war ausgestattet mit altmodischen Möbeln und verfügte glücklicherweise auch über einen Kühlschrank. Das Doppelbett und der Kleiderschrank waren weiß lackiert und leicht verschnörkelt.
Mit Blick zum Pfaffenteich gab es einen Erker mit vielen Fenstern, der mit einem roten Vorhang vom Rest des Zimmers abzutrennen war. Im Erker zwei schmale Korbsessel und ein dazugehörendes rundes Tischchen, auf dem eine Vase mit Kunstblumen stand. Nora schob eine Gardine beiseite und schaute hinaus. Inzwischen war es fast dunkel geworden. Sie erkannte eine Anlegestelle. Die Fähre! Ja, klar. Die fuhr also noch wie zu Kinderzeiten.
Das Handy meldete sich. Robert. „Bin gerade angekommen“, erzählte sie. „Das war vielleicht eine Rumkurverei in der Stadt, überall Sackgassen, Einbahnstraßen und Umleitungen. Aber ich habe ein sehr schönes Zimmer. Du wirst es mögen.“
Ihr Ehemann wollte wissen, ob sie den Fernseher ausprobiert hatte. Es gehörte zu seinen Gewohnheiten, gleich nach dem Einchecken in Hotels oder Pensionen das Fernsehgerät im Zimmer einzuschalten. Und Nora betete immer, dass es funktionierte, denn sonst war seine Laune erst mal verdorben.
Nora drückte die entsprechenden Tasten; der Bildschirm blieb schwarz.
„Geht er?“, fragte Robert.
„Selbstverständlich“, versicherte Nora ihm, „aber ich habe keine Lust auf Fernsehen. Ich muss die Koffer auspacken und überhaupt. Im Sommer laufen sowieso nur Wiederholungen. Hast du Daphne gesprochen?“
„Deine Tochter schwelgt im siebten Liebeshimmel, darüber vergisst sie ihren alten Vater.“
„Mich ruft sie noch viel seltener an als dich.“
„Ihr seid euch eben ähnlich. Nora, Schatz, wirklich alles okay mit dir?“
„Keine Sorge, Robert, ich bin schon groß. Und ich bin nicht in Sibirien, sondern in einer deutschen Landeshauptstadt. Alles paletti.“
Nach dem Gespräch packte Nora die Koffer aus und räumte ihre Sachen in den Schrank und in zwei Kommoden. Dabei rollte etwas aus einem Pulli auf den Boden. Überrascht hob Nora einen kleinen Holzelefanten auf. Den hatte Robert ihr von einer Indien-Reise mitgebracht. Sie war gerührt, dass er das Andenken in den Koffer geschmuggelt hatte und stellte es auf das Nachtschränkchen.
Nora holte sich aus dem Kleiderschrank ein paar legere Klamotten zum Umziehen. Nach dem Schließen der Schranktüren stand sie unvermittelt ihrem Spiegelbild gegenüber und war irritiert. Sie entdeckte einen ungewohnt angestrengten Zug an sich, das mochte aber auch am Pferdeschwanz liegen. Nora löste ihn, und als ihr Gesicht von ihrem blonden Haar gerahmt wurde, war sie mit ihrem Äußeren wieder zufrieden. Sie hatte kaum Falten. Konnte sein, dass sie deshalb oft um Jahre jünger geschätzt wurde. Der Bauch war noch flach. Sie befand sich im Mittelfeld der ansehbaren Frauen ihrer Altersgruppe, dachte sie über sich.
Nora schlüpfte in eine bequeme Hose, zog sich Socken und Strickjacke an. Ihr war kalt geworden. Ein Tee wäre wunderbar. Sie spähte auf den Flur hinaus, wo sie ein Tischchen mit Wasserkocher entdeckt hatte. Teebeutel ihrer Lieblingssorte hatte sie mitgebracht. Mit einer Tasse Earl Grey und einer Stulle setzte sie sich in den Erker. Auf den Straßen war kaum noch Verkehr. Nur ab und zu bog ein Auto um die Ecke, dann aber sehr geräuschvoll. Oh je, Lärm in der Nacht konnte sie gar nicht ab. Fraglich, ob Hörstöpsel ausreichen würden, um genügend Schlaf zu finden.
Noch vor elf Uhr legte Nora sich ins Bett. Doch um einzuschlafen, schwirrten ihr einfach zu viele Gedanken im Kopf herum. Morgen war ein entscheidender Tag. Wie würden die neuen Kollegen sie empfangen? Wussten die von der Strafversetzung und ihren Gründen? Man hatte ihr eine Mitschuld am Tod ihres Partners vorgeworfen. Konkretes Fehlverhalten konnte ihr nie nachgewiesen werden, trotzdem wollte niemand enger mit ihr zusammenarbeiten. Letztlich hatte ihr Chef gemeint, sie vor Mobbing schützen zu müssen. Warum aber Schwerin? Sie jedenfalls hatte ihren Ex-Chef nicht mit der Nase drauf gestoßen, dass sie gebürtige Schwerinerin war.
Sie hatte keine Schuld an Christians Tod. Bei der Verfolgung eines Bewaffneten war er übereifrig gewesen, hatte sie beide in Not und Gefahr gebracht, statt auf Verstärkung zu warten. Kopflos und ohne Deckung war er dem Flüchtigen hinterher, ließ sich nicht zurückhalten. Schon Sekunden später knallte es. Christian hatte seinen Übermut teuer bezahlt.“
Erstmals 2020 erschien in jeweils 2. überarbeiteter Auflage Heft 1 und Heft 2 der vom Förderverein Alter Friedhof e.V. herausgegebenen Schriftenreihe „Orte der Erinnerung“ (Redaktion Lutz Dettmann): Eingebettet in eine hügelige Parklandschaft erstreckt sich seit dem Jahr 1863 der Alte Friedhof Schwerin und ist bis zum heutigen Tag der Ort historischen Gedächtnisses der ehemaligen Residenzstadt. Zahlreiche Grabstätten sind als „Orte der Erinnerung“ mit Personen verknüpft, die eine gewisse Bedeutung sowohl für die Stadt als auch für das Land hatten. Den Schwerpunkt dieser Schrift bilden Persönlichkeiten, die als Akteure in der Residenzstadt gewirkt haben. Ihre Stellung und ihre Haltung sind typisch für ein Leben in einer monarchisch geprägten Gesellschaft, die mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ihre Bedeutung abrupt verlor.
In Heft 1 stellen die Autoren unter anderen die Schweriner Verlegerdynastie Bahn vor, erinnern an den Geodäten Friedrich Paschen, den Reedereidirektor der Hamburg-Amerika-Linie Eduard Huben und die Offiziersfamilie von Passow. Nicht vergessen soll auch Karl-Heinz Oldag werden, dessen Einsatz zum Erhalt des Alten Friedhofs ein wesentlicher Grundstein für die Gründung des Fördervereins Alter Friedhof gewesen ist.
In Heft 2 präsentieren die Autoren unter anderen die Architektenfamilien Clewe und Hamann, den Architekten Ehmig, den Schöpfer des bekannten „Weihnachtsfensters“ im Schweriner Dom, Ernst Gillmeister. Aber auch heute vergessene Persönlichkeiten wie zum Beispiel der Soldat, Hofbeamte und Gegner des Gauleiters Hildebrandt Bernhard von Hirschfeld werden vorgestellt.
Als sehr nützlich erweist sich auch der beigefügte Friedhofsplan.
Mit den beiden Heften kann sich der Leser zu einem Spaziergang durch die Stadt- und Landesgeschichte auf dem Alten Friedhof, der mit seinen 24 Hektar zu den ältesten Landschaftsfriedhöfen Deutschlands zählt, begeben.
Der interessierte Besucher wird immer etwas entdecken, auch Ruhe und Entspannung. Hier zwei Vortexte, die das Anliegen der Schriftenreihe deutlich machen:
„ZUM GELEIT
Die Schriften dieser Reihe sollen in Zukunft in unregelmäßiger Folge an vergessene und unvergessene Persönlichkeiten, die auf dem Alten Friedhof der Landeshauptstadt ihre letzte Ruhe gefunden haben, erinnern. Wir möchten an Personen erinnern, deren Grabstätten aufgehoben, gefährdet, noch erhalten oder auf der Denkmalliste stehen. Dabei werden wir keine Klasse, Gesellschaftsschicht oder einen Bekanntschaftsgrad bevorzugen, auch wenn dies schwer fallen wird. Denn in den Archiven findet man wenig oder nichts über einfache Eisenbahnbeamte, zu Hutmacherinnen oder Schlachtern, über Menschen, die ihrer täglichen Arbeit nachgegangen sind und keine besonderen Verdienste geleistet haben. Bei der Anlage des Friedhofs hatten die Gründer Theodor Klett und G.A. Demmler die Idee, keine „Schlossallee“ oder schäbige Vorstadt für die hier Ruhenden zu schaffen. Reich und Arm sollten nebeneinander ruhen. Durchsetzen konnten sie sich nicht mit dieser Idee einer klassenlosen letzten Ruhe.
Unsere Autoren sind Mitglieder des Vereins. Einige der Texte sind bereits in Zeitschriften veröffentlicht worden, aber in dieser Geschlossenheit bisher nicht erschienen.
Der erste Beitrag wird an Karl-Heinz-Oldag erinnern. Sein Grab ist noch nicht alt, auch nicht vergessen oder gefährdet. Trotzdem gebührt ihm dieser Platz, denn Karl-Heinz Oldag forschte viele Jahre über die Geschichte des Alten Friedhofs, riss mit seinen Artikeln Menschen aus dem Vergessen, die für die Stadt oder Mecklenburg viel geleistet und gewirkt hatten und rückte so den Alten Friedhof gartengestalterisch und kunstgeschichtlich in die Öffentlichkeit.
An dieser Stelle möchten wir uns auch bei der SDS, bei Frau Saß und Frau Böther, für die Unterstützung bei der Recherche für diese Arbeit bedanken. Der Erlös dieser Broschüre wird für die Vereinsarbeit verwendet.
Schwerin, im April 2012
Uwe Lange
Vereinsvorsitzender im Namen
des Fördervereins Alter Friedhof Schwerin e.V.
STATT EINES VORWORTES
Meine erste Erinnerung an den Alten Friedhof in Schwerin ist nicht positiv. Ich mag sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein. Der Tag war grau und kalt, es nieselte. Krähen hockten fett auf den großen Kastanien. Ein schlimmes Wetter wie am Totensonntag. Es war Totensonntag! Ein Wetter wie an allen Totensonntagen, eben Novemberwetter im Norden Deutschlands, damals der DDR. An der Hand meiner Großmutter ging es zu unserer Familiengrabstätte, auf der mein Großvater, meine andere Großmutter und weitere Ahnen der Familie ruhten. Für mich war dieser Gang zum Grab kilometerweit und stundenlang, obwohl sich unsere Grabstätte in der Nähe des Krematoriums, also fast am Eingang des großen Friedhofs, befindet.
Meine Großmutter schien sämtliche alte Damen Schwerins zu kennen, die hier ihre Männer für den Winter mit Tannengrün versorgten. Immer wieder blieb sie stehen, grüßte und wechselte einige Worte mit den Damen (natürlich auf Platt), während ich vor Kälte zitternd daneben aushalten musste. So manche lederhandschuhgeschützte Hand strich über meinen Scheitel. Viele Damen stellten auf Platt fest, dass ich schon wieder gewachsen sei und noch immer viel zu dünn wirke. Meine Stimmung war grauenvoll. Die Bläser vor dem Eingang des Krematoriums, das im feinsten Bauhaus errichtet wurde, werden diese noch verstärkt haben. Genug – ich brachte diese Tage hinter mich. Mein kleiner Bruder lernte laufen. So begleitete er künftig unsere Großmutter. Ich hingegen lernte den Friedhof nun auf eine ganz andere Art kennen.
Der Alte Friedhof ist als Landschaftsfriedhof von Theodor Klett ab 1862 angelegt worden. Zuvor hatte es Diskussionen um den Standort eines neuen Friedhofs gegeben; Schwerin, seit einigen Jahrzehnten wieder Residenzstadt, war aus den recht engen Nähten geplatzt. Sie beherbergte an die 25 000 Seelen, was für eine mecklenburgische Residenzstadt schon recht gewaltig war.
Der Architekt G.A. Demmler hatte diesen Platz vor dem Feldtor, zwischen dem alten Galgenberg und dem Ostdorfer See, angeregt. Diesen Ort wählte er, weil wie er sagte: „… eine Anhöhe, damit die schnelle Verteilung und Verflüchtigung der Leichendünste garantiert werden kann.“ Außerdem sei: „ein hügeliges, von Osten nach Westen ansteigendes Friedhofsgelände zu wählen, da man in einem bewegten Gelände eine viel natürlichere, parkähnliche Umgebung schaffen könnte.“ (Regina Saß: „Planung und Bau des Alten Friedhofes in Schwerin", in „Friedhofskultur – Zeitschrift für das gesamte Friedhofswesen, Heft 6, Juni 2009) Demmlers Argumente überzeugten den Bürgerausschuss, der wiederum den Magistrat, alle gemeinsam den Großherzog, denn der hatte in Schwerin das eigentliche Sagen. Die wenigen Spökenkieker, die nicht am Fuß des Galgenbergs begraben werden wollten, konnten überstimmt werden. So wurde Theodor Klett, seines Amtes Gartendirektor und verantwortlich für die großherzoglichen Gärten und Parks, mit genügend Geld ausgestattet und nach Frankreich zum Studium der dortigen Landschaftsfriedhöfe geschickt.
Und die Investition hat sich gelohnt! Wir Kinder stellten dies immer wieder unbewusst fest, wenn wir beim Kastaniensammeln oder beim Anlegen unseres Herbariums stundenlang über das verschlungene Wegenetz zwischen den Grabfeldern streunten. Die Wege zwischen den Kapellen unter den alten Bäumen, zwischen den mit Efeu überwachsenen Grabstellen und Denksteinen hatten so gar nichts von Trauer für uns. Das war Abenteuer, eine Naturlandschaft inmitten der Stadt, die wir eroberten. Auch wenn die Wege unsere Indianerpfade waren, sahen wir diesen Ort als Friedhof, auf dem man sich nicht pietätlos bewegte. Ich muss gestehen: Natürlich war auch eine große Portion Schauer dabei, wenn wir durch das Schlüsselloch der Masiuskapelle schauten und die aufgereihten eichenen Särge der Familie bestaunten.
Bei Demmlers Kapelle war das Gruseln nicht so groß, denn sein Sarg und der seiner Frau waren hinter Glas zu sehen. Damals hausten noch keine Vandalen auf dem Friedhof und niemand zertrümmerte die Glasscheiben. Später wurden die Särge zum Schutz in die Gruft versenkt. Demmler, zu Lebzeiten Freimaurer, hat deren Symbole auf seiner Gruft verewigt. Dieses ist wohl einmalig für einen Freimaurer. Seine Kollegen werden darüber nicht gerade erfreut gewesen sein. Die Demmlerkapelle ist dank öffentlicher und privater Mittel seit 2005 wieder restauriert. Man sollte sie sich ansehen, wenn man auf dem Friedhof ist. Sie befindet sich unweit des Krematoriums, eingebettet in einem Hang am Kapellenberg mit Blick auf das ehemalige Gelände des Schlachthofes. Zurück zu Theodor Klett: Klett setzte die Ideen Demmlers konsequent um und gestaltete einen wundervollen Landschaftsfriedhof. Man wird nicht einen geradlinigen Weg auf diesem Terrain finden! Wie gezeichnete Höhenlinien passen sie sich den natürlichen Geländeformen an. Baumgruppen lockern die Grabfelder auf. Ursprünglich wurden nur heimische Gehölze und Sträucher gepflanzt. Die Hauptwege sind als Alleen angelegt. Sichtschneisen gaben in den ersten Jahrzehnten Blicke in die damals noch unbebaute Gegend frei. Der Mensch sollte trauern können und trotzdem ein heiteres Bild der Natur erleben. Das sollte ihm bei der Trauerbewältigung helfen. Dieses Ziel Kletts kann man auch heute noch nachvollziehen.
Am 28. Juli 1863 wurde der Friedhof geweiht und ist somit einer der ältesten Landschaftsfriedhöfe Norddeutschlands. Im selben Jahr wurde mit dem Bau der Trauerkapelle von Theodor Krüger, der auch die Schweriner Paulskirche erbaute, begonnen. Für ein Projekt, was er mal so nebenbei entworfen hat, ist sie wirklich gut gelungen. Die Kapelle steht auf dem höchsten Punkt des Geländes. Nach dem Bau des Krematoriums wurde sie viele Jahre zweckentfremdet als Lagerraum verwendet. Inzwischen ist die Kapelle restauriert. In ihrer unmittelbaren Nähe haben viele Schweriner Pastoren ihre letzte Ruhe gefunden.
In den Jahren 1881,1883,1897 und 1916 wurde der Friedhof nach Süden und Westen erweitert. In diesem Zeitraum entstanden auch die imposantesten Grabanlagen und Kapellen. Der Alte Friedhof ist ein Spiegelbild der großherzoglichen Residenz. Wenn mein Bruder und ich mit unseren Eltern den obligatorischen Sonntagnachmittagspaziergang über den Friedhof machten, erforschten wir die Grabreihen. Gesucht wurde nach unbekannten Titeln und Berufsbezeichnungen, die in Stein gemeißelt, den heutigen Schwerinern Rätsel aufgeben: Hofschauspieler, Hofrat, Hofbäckermeister, Hofposaunist … Ob es den „Schrankenwärter in Ruhestand“ wirklich gab oder ob wir ihn uns ausgedacht haben, kann ich nicht mehr sagen.
Demmlers Vorschlag, die Schweriner Dahingegangenen nicht nach Herkunft, sondern nach der Zeit ihrer Abkunft ohne Standesunterschiede zu beerdigen, war abgelehnt worden. So findet man auch auf dem Alten Friedhof das noble „Schloßgartenviertel“ und die einfache „Vorstadt“.
Ein Generaldirektor der Hamburg-Amerika-Linie muss nun einmal seine standesgemäße Umgebung durch Militäradel haben …
Natürlich sahen wir auf unseren Streifzügen die Eisernen Kreuze auf den Gräbern. „Gefallen vor Ypern“, „ …starb den Heldentod vor Orel“. Wie viel menschliches Leid und Trauer, auch oft falsches Pathos sich hinter diesen wenigen Worten versteckten, begriffen wir erst später. Nicht nur der Hof, auch das Militär, die Kunst, die Kultur, die Wissenschaft gehörten zum Leben der Residenz-, Haupt-, Gau-, Bezirks- und jetzt wieder Landeshauptstadt.
Friedrich von Kücken (Hofkompositeur und großzügiger Stifter der Stadt), Karl Hennemann (Maler und Grafiker), Hans Franck und Adam Scharrer (der eine bürgerlicher, der andere proletarischer Schriftsteller), Hermann Willebrand, Ernst Lübbert (Maler), G.C.F. Lisch (Altvater der Archäologie) – die Liste ließe sich fast endlos erweitern. Ein who is who der Stadt- und Landesgeschichte. Der Alte Friedhof – das kulturelle Gedächtnis der Stadt Schwerin.
Der Backsteinbau des Krematoriums und der Feierhalle, am Ende der Zwanzigerjahre von Andreas Hamann geplant, war wegen seiner Geradlinigkeit und Schlichtheit eines unserer beliebtesten Motive, wenn wir mit Zeichenblock und Farben während des Zeichenunterrichts auf dem Friedhof unterwegs waren. Er ist eines der wenigen Gebäude des Bauhausstils in Schwerin. Der Anbau, kurz nach dem zweiten Weltkrieg entstanden, beeinträchtigt leider in seinem Stilbruch den sachlich schönen Zweckbau.
Beeindruckend ist für mich immer wieder der trauernde Soldat auf der Kriegsgräberstätte unweit des Grimkesees, im tieferen, fast abgelegenen Teil des Friedhofs. Obwohl 1937 geschaffen, drückt dieses Denkmal von Wilhelm Wandschneider in seiner Schlichtheit und ohne Pathos die Trauer und Sprachlosigkeit angesichts eines sinnlosen Todes aus. Da bedarf es keiner Inschrift! Zum Glück hat dieses Denkmal die Bilderstürme des vergangenen Jahrhunderts unbeschadet überstanden. Doch nicht nur der Ort am Grimkesee schützt die Gebeine von Kriegsopfern. Auch auf anderen Teilen des Friedhofs ruhen Kriegsopfer: Zivilisten, die in der Stadt während des Trecks umkamen, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene. Insgesamt sind über 4 000 Kriegstote bestattet. Und auf den Ort des Friedens fielen im April 1945 Bomben! Der angrenzende Stadtteil mit seinem Straßenbahndepot war Ziel eines amerikanischen Angriffs. Die Einschläge der Splitter sieht man noch heute auf einigen Grabkreuzen.
Ab 1969 sollte der Alte Friedhof peu à peu in eine Parklandschaft umgewandelt werden. Einzelne Gräber waren unter Schutz gestellt worden. Neuanlagen wurden nicht mehr zugelassen, lediglich Familiengrabstätten wurden noch belegt. Im Laufe der Jahre verfielen etliche Grabstellen, die Anlagen wurden nicht mehr ausreichend gepflegt.
Auch als Jugendlicher zog es mich auf den Friedhof, nicht nur der Familiengrabstätte wegen, auf der nun inzwischen auch meine Großmutter lag. Die verwunschenen Wege mit ihren Bänken, die versteckten Ecken luden zum Bummel mit den Freundinnen ein. Die ersten Zigaretten wurden hier ungestört konsumiert.
Später dann war ich verheiratet und lebte mit meiner Familie in meiner eigenen Wohnung. Mein Sohn lernte auf dem Alten Friedhof seine ersten Schritte und sammelte mit seiner jüngeren Schwester Kastanien. Seit 1997 werden auf dem Friedhof wieder neue Nutzungsrechte für Gräber vergeben. Der Friedhof wurde als Gartendenkmal unter Schutz gestellt. 870 Einzeldenkmäler sind erfasst. Doch viele Gräber sind gefährdet. Auch heute zieht es mich auf den Alten Friedhof, mit meiner Frau oder auch alleine, um Atem zu holen, auch um an die Gegangenen aus der Familie zu denken. Der Weg zu unserer Familiengrabstätte, das kurze Verweilen, dabei Ruhe zu finden – Minuten, die nur mir gehören. Nirgendwo in Schwerin kann man den Gang der Jahreszeiten so gut wie hier erleben: Das frische Weiß der wilden Anemonen zwischen den Bäumen am Grimkesee, das saftige Grün der weiten Rasenfläche vor der Backsteinfeierhalle, im Herbst das Feuer des wilden Weins in der späten Sonne an der Wand der Wrisbergkapelle und im Novembergrau das Tropfen der Nässe von den kahlen Ästen der alten Kastanien. Der Friedhof ist ein Ort der Vergängnis, aber auch ein Ort des Lebens. Eichhörnchen und Kaninchen tummeln sich, Amseln singen und Spechte hämmern an den Bäumen. Der Alte Friedhof ist ein Ort des Gedächtnisses. Auch darum muss er erhalten werden. Genau darum habe ich mit anderen Enthusiasten den Förderverein Alter Friedhof Schwerin gegründet. Seit über zwei Jahren versuchen inzwischen etwa 30 Mitglieder ehrenamtlich und mit viel Elan Grabstätten vor dem Verfall zu retten. Es werden Arbeitseinsätze durchgeführt, Spenden gesammelt und zusammen mit der Friedhofsverwaltung neue Wege gesucht, um möglichst viele erhaltenswerte Grabanlagen vor dem Verfall zu retten. Karl-Heinz Oldags Buch „Unvergessen“ erschien 1995. Er stellt beispielhaft Persönlichkeiten, die auf dem Alten Friedhof ihre letzte Ruhestätte fanden, vor. Im Vorwort dieses Buches schreibt Axel Ferchland: „Friedhöfe vermitteln auch die Erkenntnis, dass die Erinnerung an Menschen Jahre oder Jahrzehnte nach ihrem Tode oft nur noch durch ein altes Grabmal unter hohen Bäumen und ausgewachsenen Hecken wachgehalten wird. Den Lebenden ist meist nicht bewusst, dass die Verstorbenen, deren Wirken, Arbeitsleistungen, Ängste und Hoffnungen oft vergessen scheinen, ein Mosaiksteinchen auch unser Vergangenheit und Zukunft sind – auch die Namenlosen.“ (Karl Heinz Oldag: „Unvergessen. Ihre Namen kennt man noch – Ein Spaziergang über den Alten Schweriner Friedhof", Stock und Stein Verlag 1995)
Der vor Ihnen liegende dünne Band ist ein erster Versuch des Fördervereins Alter Friedhof Schwerin e.V, Personen, die einmal Zeitgeschichte schrieben und heute fast oder ganz vergessen sind und Namenlose auf diesem Wege aus dem Vergessenen zu reißen. Etliche Grabanlagen der Vorgestellten sind gefährdet, einige Grabstätten bereits verschwunden. Der Erlös dieses Buches wird für die Bewahrung und Wiederherstellung einzelner Grabanlagen verwendet.
Der Verein ist dankbar für jede Zuwendung. Und wenn Sie, lieber Leser, Interesse an unserer Arbeit haben, sich sogar einbringen wollen, ob als Mitglied, Grabpate oder Förderer – Sie sind willkommen!
Lutz Dettmann,
Schwerin im März 2012“
Also, auch wenn es zunächst etwas ungewöhnlich, vielleicht ist ein Besuch auf dem Alten Schweriner Friedhof vielleicht doch einen Versuch wert – und das aus verschiedenen Gründen, wie zu erfahren war.
Viel Vergnügen beim Lesen und Spazieren, weiter einen schönen Herbst, bleiben auch Sie im letzten Monat dieses Jahres weiter schön gesund und munter und bis demnächst.