Für eine Sendereihe von Antenne Brandenburg schrieb Hans Bentzien Beiträge zur Brandenburgischen Geschichte – allerdings über später nicht mehr dazugehörige Gebiete. 1998 erschienen diese Texte im Westkreuz Verlag Berlin/Bonn unter dem Titel „Jenseits der Oder. Streusandbüchse und eine vorteilhafte Erwerbung. Märkische Miniaturen“: Hans Bentzien hat sich mit seinen historischen Skizzen absichtlich den Gebieten jenseits der Oder zugewendet, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu Polen gehören, die durch die Herrschaft der Nationalsozialisten und den angezettelten Zweiten Weltkrieg verspielt worden sind.
Jenseits der Oder spielte sich aber bis zu dem Zeitpunkt deutsche Geschichte ab. Auch dort lebten bedeutende Geistesgrößen und entwickelte sich in diesen damaligen Landesteilen ein bedeutender Kern des deutschen Widerstands gegen Hitler. Bis zur Wende in Osteuropa und in der damaligen DDR war das Thema der deutschen Geschichte in der Neumark, in Ostpreußen und Schlesien gewissermaßen ein Tabu. In den Schulen wurde die Geschichte vor 1945 totgeschwiegen oder einfach gefälscht. In Polen wurde mit der Diskussion über die Deutschen vor 1945 meist Revanchismus postuliert. Den Heranwachsenden in der DDR wurde suggeriert, dass die von Polen nach dem Krieg besiedelten Gebiete immer polnisch gewesen seien, und nach 1945 der Rechtsanspruch Polens auf diese Regionen erfüllt worden sei. Kein Wort erfuhr man über die Vertreibung und Umsiedlung aus der Ukraine in die entvölkerten Gebiete östlich der Oder. Das Interesse an der Geschichte jenseits der Oder erwies sich als ungebrochen, als mit der Wende 1989 die Fakten der Geschichte offengelegt wurden. Auch die polnische Bevölkerung zeigte danach ein wachsendes Interesse an der deutschen Vorgeschichte, sie wollte nicht auf geschichtslosem Boden leben.
Die Betrachtungen „Jenseits der Oder“ beginnen mit einem Kapitel über „Die Neumark“: Mit enger gewordenen wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen, dem langsam wachsenden Tourismus und dem lebhaften Grenzverkehr mit dem Land östlich der Oder taucht wieder häufiger der Name „Neumark“ auf. Er ist ursprünglich zur Unterscheidung des ersten, alten Teils der Mark, der Altmark, entstanden. Darunter versteht man das Land westlich der Elbe und nördlich von Ohretal und Drömling. Dort saßen vor der Völkerwanderung die Langobarden, östlich der Oder die Burgunder. Bei deren Zug nach Westen rückten die slawischen Stämme nach, wurden aber Mitte des 10. Jahrhunderts von Markgraf Gero deutscher Herrschaft unterworfen, wehrten sich mit Aufständen dagegen und wurden wieder unterworfen. Als Albrecht der Bär Mitte des 12.Jahrhunderts die Prignitz und das Havelland eroberte, war die Basis für ein weiteres Vorgehen der deutschen Stämme nach Osten gewonnen.
Es dauerte noch hundert Jahre, bis die Eroberung des Ostens zügig vorangehen konnte. Barnim, Teltow und Uckermark wurden erobert, dann folgte 1260 die Neumark und gleichzeitig mit ihr die Lausitz. Die Eindeutschung der Mark Brandenburg erfolgte mit dem Kreuz und dem Schwert, mit Städte- und Klostergründungen und der nachfolgenden bäuerlichen Besiedlung. Durch die inneren Wirren in Brandenburg gingen die östlichen Gebiete teilweise wieder verloren. Bald nach der Erwerbung der Neumark durch die Askanier, die Vorläufer der Hohenzollern in Brandenburg, hatte König Sigismund diesen Landstrich an den Deutschen Orden verpfändet (1402).
Fünfzig Jahre nach dem Einzug der Hohenzollern in Brandenburg kaufte Kurfürst Friedrich II. (reg. 1440-1470) ihn wieder zurück. Sechsunddreißig Jahre lang wurde die Neumark sogar selbstständig regiert. Der jüngere Bruder des Kurfürsten Joachim II. (reg. 1535-1571), Markgraf Johann von Küstrin, errichtete ein strenges Regime. Er galt als misstrauisch und hart. Sein Wahlspruch, der sogar über seiner Schlafzimmertür im Schwedter Schloss angebracht gewesen sein soll, lautete: „Unter Tausenden trau’ kaum Einem recht, bis du erkannt ihn treu und echt!“ Im Gegensatz zu seinem zögerlichen Bruder entschied er schnell und setzte dann seine Entschlüsse auch bald durch. Einfach und sparsam gestimmt, wandte er sich bald der Reformation zu und führte sie in diesem Landesteil der Kurmark alsbald ohne Zaudern ein. Nach beider Tod im Jahre 1571 aber wurde die Trennung des Landes glücklicherweise wieder aufgehoben.“
Auch um eine allerdings ganz andere Trennung geht es in dem vor wenigen Wochen sowohl als E-Book wie auch als gedruckte Ausgabe bei der EDITION digital verlegten Buch „Abschied von Rostock“ von Rudi Czerwenka: Schweren Herzens nimmt der 87-jährige Rudi Czerwenka aus gesundheitlichen Gründen Abschied von Rostock, wo er 30 Jahre als freiberuflicher Schriftsteller und Journalist gearbeitet hatte. Mit viel Humor und Spannung erinnert sich der Autor an wichtige Stationen seines Lebens, aber auch mit großem Abschiedsschmerz. Es sollte ein Abschied für immer werden. Drei Monate nach seinem Tod erschien dieses, nun endgültig letztes Werk.
Und so beginnt dieses, sein endgültig letztes Buch: „Alles, was bei einem solchen Umzug zu erledigen ist, war getan. Die Kündigung des alten und der Abschluss des neuen Mietvertrages waren erfolgt, mit allem dazu erforderlichen behördlichen Drum und Dran. Der Schwiegersohn hatte einen Kleintransporter organisiert und die Teile des künftig verwendbaren Mobiliars zu Emils neuer Wohnstätte gefahren. Seine Nachmieterin saß in den Startlöchern, im Frauenhaus, hatte also nichts und freute sich über alles, was sie übernehmen durfte, Emils alte Couch, den Kleiderschrank im Flur, die komplette Küchenzeile mit all dem Kleinzeug bis hin zu den Essbestecken. Das Sozialkaufhaus hatte sogar einen Lastwagen geschickt und Wäsche und Schuhwerk und Bücher und Regale und anderes noch Verwertbare abgeholt. Nur Emil persönlich war noch übriggeblieben als Umzugsgut, hatte die letzte Nacht fast schlaflos in seiner ziemlich ausgeräumten bisherigen Wohnung verbracht und dachte an sein neues Zuhause auf dieser fernen Insel, das er nur von ein paar Fotos her kannte.
Die Kinder hatten einen weiteren Tag freigenommen, kamen mit dem eigenen Auto, schon am frühen Vormittag. Sie wollten noch ein bisschen shoppen gehen, sagte die Tochter, und würden Opa erst nach einem gemeinsamen Abschiedsessen abholen. Bis dahin hätte er Zeit, um von seiner Stadt Abschied zu nehmen, in der er mehr als dreißig Jahre Wurzeln geschlagen hatte. Das vorherige Lebewohl nach etwa zwei Jahrzehnten von dem beschaulichen Bad Sülze war ihm nicht so schwergefallen. Mausi, seine Frau, war gestorben, die Tochter erwachsen und außer Haus, den Lehrerberuf wollte er aufgeben. Er saß allein, abgesehen von dem vielen Freunden und seinem Hund. Aber Rostock war schon damals Zentrum seiner Gedankenwelt, seines Schaffens.
Ein paar Stunden Zeit hatte er also. Seinen damals ersten Wohnsitz im Stadtteil Schmarl aufzusuchen, hielt er für überflüssig. Erst vor wenigen Jahren hatte man ihn eingeladen, zur Präsentation der Chronik dieser fast letzten im Aufbaufieber errichteten Neubausiedlung der auflebenden Hansestadt, konzipiert für die Zuwanderer im Hafenbereich und in der Seefahrt. Nach der Vorstellung besagter Chronik war er noch ein wenig herumspaziert, auch zu seinem früheren Wohnsitz. Von den damals fünfzehn Mietparteien in seinem Wohnblock waren noch drei am Hauszugang ausgeschildert. Wie das inzwischen aussah, interessierte ihn nur wenig. Außerdem würde dieser Ausflug nach Schmarl Zeit kosten. Seine Dauerkarte für die Nutzung von Bussen und S-Bahn hatte er schon abgegeben. Er kannte zwar einen der Kartenkontrolleure und somit auch seine Kollegen, brauchte sich nicht auszuweisen, wenn sie durch die Sitzreihen gingen, aber die Tour würde Zeit kosten.
Da lag die Südstadt, der erste nach dem Krieg und dem Bombeninferno wieder aufgebaute Stadtteil, direkt vor seiner Haustür bzw. in Sichtweite des Balkons seines Hochhauses. Hierher war er gezogen, als er Conny kennengelernt hatte, die hier lebte. Hier gab es zuerst noch keine Bahnanbindung, hier war man auf das Fahrrad angewiesen. Man konnte auf den verschneiten Feldern auf Skiern mit dem Cockerspaniel stundenlang unterwegs sein. Inzwischen hatte sich vieles geändert. Einkaufszentren sind emporgewachsen, Wohnsiedlungen entstanden, Ärzte und andere wichtige Leute haben sich angesiedelt. Besonders der Broilerstand auf dem Hof und das von den Spatzen begehrte Café auf dem Centerhof waren oft Ziel von Emils Rundgängen gewesen. Und dann die Stadthalle, Rostocks ehemaliger Schwarzbau! Inzwischen tobt der Verkehr Richtung Autobahn, die verschneiten Wiesen existieren nicht mehr, sind mit Häusern gepflastert, Einfamilienhäuser für jene, die es sich leisten können. Aber die grünen Erholungsoasen in der Südstadt gibt es noch.“
Das nächste Angebot ist die lediglich auf die neue Rechtschreibung umgestellte Originalausgabe des wissenschaftlich-phantastischen Romans „Der Untergang der TELESALT“ von Alexander Kröger, der erstmals 1989 im Verlag Neues Leben Berlin erschienen war – und zwar als Band 220 in der Reihe „Spannend erzählt“: Irdische Raumfahrer, auf der Suche nach erdähnlichen Planeten, stoßen auf Spuren einer früheren Raumexpedition und auf Einheimische, die auf einer niedrigen Entwicklungsstufe stehen. Nach abenteuerlichen Ereignissen ergeben sich Schritt für Schritt Vermutungen, die in Sicht auf Zukunftsvisionen der Menschheit nachdenklich stimmen und sich auf überraschende Weise bestätigen. Wieder stellt Kröger dabei interessante, bedenkenswerte Bezüge zu irdischen Entwicklungen her. Lesen wir einmal kurz hinein: „Trotz Lisas Zuspruch - ich kannte sie und wusste, dass sie gern, einmal begeistert, ein wenig übertrieb - rief ich weiter und erreichte als nächsten Bruno Brice, unseren ehemaligen Kommandanten.
Ich hatte ihn bei Gartenarbeiten erwischt. Er trug einen Sombrero, hatte sich offenbar nach meinem Ruf vor das Gerät gesetzt, das auf einer Bungalow-Terrasse stand, und während wir uns begrüßten, schob ihm jemand eine dampfende Tasse zu, aus der er ab und an einen Schluck nahm. Mit Bruno hatte ich kein besonders herzliches Verhältnis, vielleicht keiner von uns. Er war der Kommandant. Das muss bei aller Kameradschaftlichkeit a priori eine gewisse Distanz schaffen. Und die Sache mit Friedrun hat bestimmt nicht zur Stabilisierung unseres Miteinanders beigetragen. Außerdem hatte der Computer ebenfalls seine Bedenken angemeldet, was das Verhältnis zwischen uns beiden anbelangte. Das allein zu wissen aber half, ein erträgliches Auskommen herzustellen. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir einmal ernsthaft aneinandergeraten wären in all den Jahren. Bruno war Pragmatiker. „Aber ja, Sam“, sagte er, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt. „Da ist mein Tagebuch, das Bordjournal steht uns zur Verfügung, was soll also viel passieren. Ich habe bereits angefangen und echten Spaß daran. Wenn’s denen nicht gefällt, gebe ich’s meinen Enkeln zum Lesen. So was Aufgeschriebenes ist doch etwas Bleibendes. Mach ruhig mit. Hast allzu oft mit deiner Meinung hinterm Berg gehalten. Jetzt kannst du das alles loswerden.“ Ich bedankte mich bei Bruno, wünschte ihm Erfolg und schaltete mich, nachdenklich geworden, weg.
Da war etwas dran. Wenn jetzt jeder Gelegenheit nahm, die Ereignisse darzustellen, wie sie sich aus seiner Sicht, aus seinen Emotionen heraus vollzogen, wie wir aber aus Disziplin, Rücksichtnahme, Unkenntnis oder Dummheit über sie entschieden, geurteilt hatten, konnte schon etwas Brauchbares entstehen, etwas für die Nachwelt Interessantes. Und das selbst auf die Gefahr hin, dass der eine oder andere Beitrag nicht ganz glückte.
Friedrun, die ehemalige Computergefährtin Brunos, unseren Bordingenieur, erreichte ich also nicht, was ich bedauerte. Auf Friedruns Meinung hätte ich großen Wert gelegt. Ich glaube, sie war der intelligenteste Teilnehmer der Expedition und gleichzeitig - zumindest aus meiner Sicht - die charmanteste Frau, nicht nur der Crew. Blieben noch Carlos Nmokuma, der ehemalige Navigator, und Inge Tschautse, die Computer- und Elektronikspezialistin, die beiden Sympathici, die auch nach der Reise zusammengeblieben und, wie es hieß, weiterhin unzertrennlich waren.
Nach zwei vergeblichen Versuchen erreichte mein Ruf Inge. „Ah, Sam!“, rief sie, ein wenig außer Atem. „Ich bin gerade vom Einholen rein. Bist du endlich zurück! Warst über deinen Anschluss nicht zu erreichen. Machst du mit bei Universums? Klar doch! Wir haben das nicht leicht, Carlos und ich, sind stets versucht, uns auszutauschen, verstehst du? Wie geht es dir? Hättest wenigstens Lisa sagen können, was du treibst. Wir dachten schon“, Inge lachte ein wenig anzüglich, „du wärst mit Friedrun auf und davon. Hast von ihr auch nichts gehört, was? Carlos ist ein paar Tage nicht da. Du weißt ja, er hatte Schwierigkeiten mit dem linken Auge. Sie haben ihm eine neue Linse gezüchtet, die jetzt eingesetzt wird ...“
Aus der Zukunft zurück auf die Erde und in eine etwas zurückliegende Zeitepoche. Erstmals 1967 hatte Renate Krüger im Leipziger Verlag Zenner und Gürchott ihren Rembrandt-Roman „Licht auf dunklem Grund“ vorgelegt. Im Jahre 1998 erschien im Verlag edition q eine Übersetzung ins Japanische. Eine weitere Druckausgabe erschien 2001 im Alittera-Verlag München: Wer kennt nicht die berühmten Bilder Rembrandts, Szenen aus der Bibel und dem Alltag, Porträts und Landschaften, die unverwechselbar das Leben im Goldenen Zeitalter der Niederlande widerspiegeln und deuten? Die Autorin folgt in ihrem Roman nicht der gewohnten Methode, das gesamte Leben Rembrandts zu erzählen, sondern fängt wichtige Abschnitte wie in einem Brennspiegel ein: im Tagebuch von Rembrandts jüdischem Freund, dem Diplomaten, Schriftsteller, Drucker und Verleger Manasse ben Israel (1604-1657) von der Portugiesischen Synagoge in Amsterdam. Diese Abschnitte empfangen Motivation und Deutung aus Rembrandts Bildern, die somit ihren besonderen Platz im Leben erhalten, zumal in der Auseinandersetzung mit dem strengen jüdischen Bilderverbot. Eines Tages steht Manasse be Israel vor der Nachtwache und wird in Zweifel gestürzt, ob die Gesetze des Judentums, in denen es heißt: Du sollst dir kein Bildnis machen, zu Recht bestehen. Er beginnt sein Leben und damit seine Wandlung aufzuschreiben. Aus den Aufzeichnungen erleben wir sowohl das Schaffen Rembrandts als auch das Herauswachsen des Weisen der Portugiesischen Synagoge in Amsterdam aus den alten Traditionen, das sie, die Nachbarn Rembrandts, zu treuen, helfenden Freunden werden lässt. Das Buch beginnt mit dem ersten Brief über die Nachtwache:
„Amsterdam, 12. Mai 1642
DIES SCHREIBT MANASSE BEN ISRAEL von der Portugiesischen Synagoge zu Amsterdam, der damit von seiner Gewohnheit abweicht, nur über den Ewigen gelobt sei Er! und Seine geheimnisvollen Zeichen in der Welt zu schreiben, der bisher noch niemals etwas über sich selbst geschrieben hat und von dieser Gewohnheit auch nicht abzuweichen gedachte. Warum schreibe ich denn überhaupt und worüber? Heute habe ich eine Erkenntnis gewonnen, die alle meine bisherigen Erkenntnisse übersteigt, die mich einen neuen Weg beginnen lässt, einen Weg, der nicht schweigend gegangen werden darf, sondern in das Wort gezwungen werden muss. Man nennt mich wortgewaltig, und schon vieles habe ich ins Wort gebracht und damit dauerhaft gemacht.
Seit einigen Jahren hat meine Feder geschwiegen, es lag ihr nichts am Tagesgeschwätz, und als ich sie heute hinter meinen Büchern herauszog, war sie stumpf geworden vom Staub der Jahre, aber was tut's! Ich will keine spitzen Reden führen! Leicht liegt die Feder in meiner Hand, und doch wiegt so schwer, was aus ihr fließt, es ist eine neue Welt, die sich mir erschloss, es ist eine Veränderung im Kosmos. Hier in meinem Zimmer werde ich die neue Welt austragen, festhalten, festschreiben, welcher Raum wäre dafür geeigneter? Hier sind wir nur drei, die Zeit, die Stille und ich. Zeit und Stille sitzen zu meiner Rechten und zu meiner Linken, und dazwischen klagt mein aufgeregtes Herz oder ist es Jubel?, das heute etwas Neues erfuhr. Ist nicht alles neu um mich?
Ich sehe mein Zimmer, wie ich es noch niemals sah, wie ich es niemals sehen wollte. So wie jene merkwürdigen Menschen, die versuchen, die Zeit und den Raum im Bilde festzuhalten und nicht nur das, auch den Menschen ... Ich aber habe mir niemals gemalte Menschen angesehen, andere Bilder aber habe ich schon betrachtet und verflucht , denn es widerstrebt dem Willen des Ewigen gelobt sei Er! , das Zeitliche zur Ewigkeit zu machen, da es doch bestimmt ist, Staub und Asche zu werden. Und doch heute sieht mein Zimmer aus wie eines jener kleinen Bilder, mit denen mein Sohn leider handelt, obgleich ich ihm viele Nächte hindurch erklärt habe, dass er Götzendienst betreibt. Er aber sagte, die Maler malten so aus Liebe zu den Dingen. Sehe ich mein Zimmer nun auch anders, weil ich diese Dinge hier liebe? Den Tisch, unter den ich meine Beine strecken kann; er steht auf vier starken Balusterfüßen, kräftig genug, um die mächtige Eichenplatte zu tragen. Ein bunter, wollener Tischteppich verbirgt die hebräischen Buchstaben, die ich in erleuchteten Nächten auf die Tischplatte geritzt habe, damit sich meine Blicke an ihnen festsaugen, an den heiligen Zeichen untrüglicher Sicherheit und leuchtender Wahrheit.
Und auf dem Tischteppich meine Bücher, Folianten in den Sprachen der Welt, deren heiligste das Hebräisch ist, Mutter und Wurzel des Griechischen und Lateinischen. Ich kenne jeden Buchstaben dieser Bücher im schweinsledernen Kleid, besser noch als den Anblick der Dinge in meinem Zimmer, die mir heute so neu erscheinen. Ich habe mir nie die Zeit genommen, sie den Weg durch das Auge in mein Herz finden zu lassen, denn dort will ich nur beständige und sichere Werte aufbewahren. Sind aber Tische und Stühle, Fenstervorhänge und Bücherpulte beständig? Sie sind da, weil sie gebraucht werden, weil sie benutzt werden müssen. Wo sollte ich sonst arbeiten, wenn nicht an einem starken Tisch, wo sollte ich sitzen, wenn nicht auf einem Stuhl, wie sollte ich mich vor neugierigen Blicken schützen, wenn nicht durch Fenstervorhänge, und wo schließlich sollte ich meine Bücher aufbewahren, wenn nicht in Pulten und Regalen?
Alle diese Gedanken sind selbstverständlich, und ich bin sehr verwundert, dass sie sich mir heute aufdrängen wie Fragezeichen und mich von der Betrachtung des Ewigen gelobt sei Er! abhalten. Aber dennoch ich will diesen Fragezeichen nicht aus dem Wege gehen, vielleicht gönnt mir der Ewige gelobt sei Er! das Geschenk der Illusion, die Dinge seien dauerhaft und mehr als bloßes Zweckgerät. So wie auf jenem Bild, das ich früher bei meinem Sohn sah (nicht auf dem Bild, das mir gestern neue Erkenntnisse aufzwang), es drängt mich, sie aufzuschreiben, aber ich muss mit meinen Gedanken etwas zurückgehen jenes ziemlich kleine Bild also, das nicht mit Farben gemalt, sondern in Kupfer gestochen war wie in meiner Druckerei die Verzierungen. Ich blickte in einen Raum, ähnlich dem, in dem ich hier sitze, etwas altertümlicher wohl, denn der Stich sei immerhin über hundert Jahre alt, sagte mein Sohn, der es wissen muss, wegen der Preise …
Auch dort sitzt jemand an einem Tisch und schreibt in ein Buch, ein Erleuchteter, auf dessen Haupt sich das Licht niedergelassen hat, und was für ein Haupt! Aber darf man so etwas darstellen? Das Bild des Ewigen gelobt sei Er! allen Blicken preisgegeben? Man muss es verbergen, wie die heiligen Rollen im dunklen Thora-Schrein, weil die heilige Thora, das Gesetz des Ewigen gelobt sei Er! das einzige Unwandelbare und Dauerhafte ist.
Aber ich will den Erleuchteten in seinem Zimmer gelten lassen, weil ich an seine Erleuchtung glaube. Das andere, das da vor ihm in einiger Entfernung auf dem Tisch stand, habe ich freilich nicht beachtet, diesen Gesetzesübertreter am Kreuz, ehemals ein Sohn Israels wie ich, nunmehr Rechtfertigung für den Tod Tausender Glieder am Stamme Judas … Nur nicht daran denken! Ich wollte ja auch über diesen Raum schreiben, der mir jetzt wieder so deutlich vor Augen steht, der meinem Raum hier so eindringlich gleicht warum nur?
Sollte mein neuer Schüler recht haben, dieser kleine, zierliche Baruch de Spinoza, der nach seinem ersten Besuch bei mir sagte: „Ich werde wiederkommen, Rabbi, wenn es geht, morgen schon!” Ich sah ihn verwundert an, denn es schien mir selbstverständlich, dass er wiederkäme, sollte ich ihn doch in der heiligen Thora unterrichten. „Natürlich wirst du wiederkommen, Baruch, denn du sollst lernen! Hinter deiner Stirn ist viel Raum! Gut, komm morgen.” Ich traute meinen Ohren nicht, er widersprach. „Nein, ich will nicht nur lernen. Ich will auch lernen, Rabbi, aber nicht nur ... Ich will wiederkommen, denn in Eurem Raume lebt das Licht. Ich will mitleben.”
Dabei sah er mich sehr ernsthaft an aus seinen schwarzen, mandelförmigen Augen, herausfordernd, auf eine Entgegnung wartend, aber doch in aller Bescheidenheit. Ich schwieg, denn diese Erfahrung hatte ich noch nicht gemacht, und es ist gut, nach einer neuen Erfahrung einige Zeit zu schweigen, damit sie einen ruhigen Platz im Herzen findet. Darum habe ich auch die ganze vergangene Nacht geschwiegen, nach der großen Erfahrung von gestern. Ich hatte es oft und oft erlebt, dass mir Schüler Fragen stellten, kluge und weniger kluge, keinem war ich bisher eine Antwort schuldig geblieben, auch wenn ich sie manchmal erst am nächsten Tag nach einer durchwachten Nacht sagen konnte. Niemals aber war es mir begegnet, dass ein Schüler mit einer fertigen Aussage vor mich hintrat und dazu noch bei der ersten Begegnung.“
Von einer ganz anderen Art, die Welt zu erkunden, von einer ebenso beschwerlichen wie gelungenen Art, die Welt zu erkunden, ist in dem erstmals 2005 im BS-Verlag Rostock erschienenen Buch „Dubai – Sydney – Singapur und so weiter“ (Happy Rolliday IV) von Hans-Ulrich Lüdemann die Rede: Mit einem größerem Irrtum ist wohl selten eine Weltreise begonnen worden: als die Frage stand, wann wir unseren Australien-Trip starten sollten, da fielen mir die XX. Olympischen Sommerspiele 2000 ein mit ihrem herrlichen Sonnenwetter. Mein Gedankenfehler lag darin, dass jene Spiele statt im September bereits Ende Februar veranstaltet worden seien. Also planten wir unsere Reise von Mitte Februar bis Anfang März 2003. Zum Glück hat sich dieser Irrtum nicht negativ ausgewirkt. Ab München flogen wir mit Emirates nach Dubai, um hier einen so genannten Stopover einzulegen. Zum ersten Mal in unserem Leben erhielten wir eine Ahnung von Tausendundeiner Nacht. Das einst kleine primitive Fischerdorf hatte sich wie andere Orte bzw. Emirate durch das Öl derart entwickelt, dass der Tourist sich schon genau umschauen musste, wollte er Spuren der jüngsten Vergangenheit entdecken. Zu diesen gehört auch die Goldstraße in Alt-Dubai. Mehr als 200 Läden boten seinerzeit Goldwaren an; da sie von einer Art Produktionsgenossenschaft nach stets gleichem Muster hergestellt wurden, stumpfte unser anfängliches Interesse relativ schnell ab. Das war so, als wäre man in einer Straße, in der nur Bäckereien ihr einheitliches Sortiment Torten anbieten würden. Resultat unserer Überfütterung ein Verzicht auf jedwedes Gold ...
Die Supermärkte für Waren aller Art erwiesen sich als Konsumtempel, zumal der Kurs des Dirham zum Euro wohl bewusst niedrig gehalten wird, um etwaigen Käufern die Entscheidungen zu erleichtern. Vor allem Schmuck, Schweizer Uhren und textile Markenware waren durch diesen Geschäftstrick sehr gefragt. Nach diesem Stopover brachte Emirates uns über einen kurzen Zwischenstopp in Singapur nach Sydney. Da es vormittags war, hatten wir genügend Zeit, unseren Mietwagen zu übernehmen und die Herbergseltern aufzusuchen. Die älteren Eheleute waren erfahrene Gastgeber. Sie sparten nicht mit Tipps. So verlebten wir knapp zwei Wochen in und um Sydney. Dazu gehörten Abstecher in die Blue Mountains, zu herrlichen Seebädern am Pazifik und in verschiedene Museen. Kreuzungspunkt war stets der Zentrale Fährhafen jeden Tag quasi Ehrenrunden um den einmaligen Opernbau im Hafen Sydneys! Und über uns auf der Harbour Bridge bekämpften Unentwegte in über 130 Metern Höhe ihre Angst oder Übelkeit ...
Es blieb nicht aus, dass wir auch im Hafen faulenzten, mit offenen Mündern ein riesiges Kreuzfahrtschiff beim Navigieren beobachteten oder einen Nachbau der Bounty bestaunten, der seinen Dienst als Vergnügungskahn anbot. Auch die unbeschwerte Art der Aussis im Umgang miteinander war auffällig: ob Schwarz mit Weiß oder Weiß mit Gelb oder Gelb mit Schwarz neugierige aufdringliche Blicke wie zu Hause leider üblich, sahen wir nie.
Das Zusammenleben verschiedener Rassen bzw. Völkerschaften funktionierte nach unserem Augenschein ebenso bei unserem zweiten Stopover in Singapur. Eine Fünfmillionenstadt wie sie wohl in ihrer Sauberkeit und Ordnung einzig auf unserem Planeten existiert. Wer in der 2,2 km langen Orchad Road shoppen will, kann es bei über 5.000 Markenartikeln nach Herzenslust tun. Steht doch der Singapur Dollar wie der Australische Dollar günstig zu unserem Euro.
Ein riesiger Freizeitpark auf der Insel Sentosa lässt an Vergnügungen keine Wünsche offen. Klarkommen muss man allerdings mit dem feuchtwarmen Klima - der beeindruckende Botanische Garten Singapurs ist Beweis genug.
Unsere Tour fand über Dubai und München ihren Abschluss. In Berlin war es wie erwartet nasskalt. Gegen solche Unwirtlichkeit half nur, sich der schönen Stunden unserer Reise zu erinnern.
Und daran lässt der Autor seine Leser teilhaben: „Ab dem Frühjahr 2002 lief bei uns in punkto Reisen alles zweigleisig: Mit der deutschen Besitzerin Gabi Linning schlossen wir einen Vertrag ab für die Nutzung ihrer Villa Twin Palms in Fort Myers, Florida; die Flugtickets und den Automietvertrag bei Alamo besorgte das Reisebüro Dietrich. Letzteres oblag ihm auch für Dubai und Sydney. Wie bereits erwähnt - die von mir aus den entsprechenden Reisebüro-Katalogen benannten Hotels wurden ebenfalls von Wolfgang Dietrich gebucht. Als das in Papier und Tüten war, überraschte Lutz uns mit der Bitte, ob er seine neue Freundin mitnehmen dürfe. Befiel ihn nun Fracksausen wegen der eigenen Courage, uns alten Zausels bis ans andere Ende der Welt zu begleiten? Wir hatten nichts gegen das laut Foto ansehnliche Fräulein. Oder war es bereits deren Nachfolgerin?
Kurzum - wir redeten nicht über die zusätzlich anfallenden Kosten, wohl aber darüber, dass die Zimmer in Dubai als auch in Singapur bereits mit einer Aufbettung ausgereizt waren. An dieser Stelle greife ich etwas vor: Trotz eines mit Liebe ausgesuchten knuddligen Koalas (australisches Beuteltier) plus niedlichem Nachwuchs aus naturfarbenem Plüsch brach auch diese Beziehung kurz nach unserer Rückkehr auseinander. Und wieder einmal sollte sich meine Lebensregel bei Misshelligkeiten auch für Lutzens Zukunft bewahrheiten: Wer weiß, wozu das gut ist - heute hat Lutz eine patente Frau und einen gesunden Stammhalter; als Ur-ur-ur-Nachkömmling von Hugenotten hört dieser auf den viel versprechenden Namen Jean Pierre. Oder auch nicht, wie sich später – möglicherweise - herausstellen wird. Nach dem Motto: Der Junge hört gut, aber er gehorcht nicht ...
Eine Unterkunft in down under zu finden, das erledigte ich mit e-mails. Um es vorweg zu nehmen - die Sache ließ sich schlecht an. Das gleiche wie beispielsweise in Key West, als wir wegen der unüberwindlichen Treppen nicht im gediegenen Authors House unterkommen konnten. Auf unseren in Englisch abgefassten Wunsch nach einer Beherbergung für drei Personen erhielten wir prompt einige e-mails: Lane Cove’s Jacaranda House (pro Tag 125 AUD) (aktueller Tageskurs war grob gerechnet 1,7 Australische Dollar für 1 EURO), Bondi Beach Homestay (pro Tag 130 AUD), Bay Cottage on Iron Cove (pro Tag 120 AUD), Bellevue Terrace (pro Tag 90 AUD), Blue Waters Penthouse-Apartment (pro Tag 185 AUD) und Lane Cove Bed & Breakfast (pro Tag 130 AUD), dessen Inhaber auf den in Deutschland nicht ungewöhnlichen Namen Rosenthal hörte - alle besaßen für mich mehr oder weniger unüberwindbare Aufgänge! Christine und Terry Fitzgerald vom Lane Cove B & B ließen es nicht bei einer Absage bewenden - von ihnen kam der Tipp aufs Carmel’s at Hunters Hill (pro Tag 130 AUD - bei 7 Übernachtungen gab es 10% Rabatt). Ich informierte mich auf deren website http://www.carmels.com.au über weitere Details: Die Homepage war professionell eingerichtet und laut Copyright der Firma WEBEXPRESS auf dem neuesten Stand. Das erste Bild zeigte ein älteres Paar am Kaffeetisch, das zweite den Ehemann inmitten einer herrlich blühenden Blumenrabatte. Das Ganze hatte etwas Anheimelndes. Es folgten Aufnahmen aus dem Inneren des Hauses wie Speise- und Schlafzimmer. Für uns gab es deren zwei: Queen Room bedeutete, dass sich hier ein breites Ehebett befand - Twin Room war ausgestattet mit zwei gleichen Betten, die durch einen Gang getrennt waren. Bei den Abbildungen fanden sich Aufzählungen, die Accessoires betreffend. Dazu zählten Klimaanlage, Föhn, Fernseher oder ein Extra-Bad. Die gesamte Einrichtung sah geschmackvoll aus. Es existierte noch eine Seite für die so genannten Aktivitäten mit Hinweisen auf den jeweils zu erbringenden Zeitaufwand. Hinweise auf die langjährige Tradition von Carmel’s Bed & Breakfast fehlten ebenfalls nicht. Dörte und mich beeindruckte die beschriebene Nähe zu einer Fährstation mit dem Hinweis, dass es ein Leichtes sei, direkt beim weltberühmten Opernhaus im Hafen anzukommen. Sydney selbst lag etwa neun Kilometer entfernt, was im Großraum einer Millionenstadt so gut wie keine Entfernung bedeutet. Wir sind mindestens die doppelte Distanz unterwegs, wollen wir das Zentrum Berlins erreichen. Deswegen haben wir aber nicht das Gefühl, j.w.d. zu wohnen, wie der Berliner janz weit draußen umschreibt. Last but not least - in Sydney wartete auf uns ein Mietwagen. Genauer gesagt - wegen des Linksverkehrs war ausschließlich Lutz als Fahrer vergattert worden ...
Schließlich erfuhr ich noch ganz nebenbei, dass Carmel Ascough’s Ehemann Graham sich bereits vor seinem Oh Happy, Happy Days! New Rules of Retirement (etwa Glückliche Tage! Neue Regeln für ein erfülltes Rentnerleben) als Reiseschriftsteller einen Namen gemacht hatte. Quasi ein Kollege. Irgendwie fasste ich Zutrauen. Einmal mehr, als ich las, dass beide von der Touristenvereinigung Bed & Breakfast Council of NSW mit einem Ersten Preis als beste B & B (Sydney’s Best B & B’s & 4 Star AAAT Rating) ausgezeichnet worden waren. Ganz ohne Probleme ging es auch hier nicht ab: Um ins Haus zu gelangen, war eine Stufe zu überwinden. Drei trennten die Schlafräume vom übrigen tiefer liegenden Wohnbereich. Alle Türen besaßen das Standardmaß von achtzig Zentimetern. Ein zarter, aber nichtsdestoweniger ernst gemeinter Hinweis lautete, dass Rauchen allein im Garten erlaubt sei. Die Bedeutung dessen vermag nur ein starker Raucher wie Lutz zu ermessen. Dörtes beinahe rituelle Zigarette nach den Mahlzeiten schmeckte sicherlich auf einer Gartenbank im Sonnenschein ebenso gut. Wenn in diesem Falle von schmecken überhaupt die Rede sein dürfte. Und dem krebserregenden Nikotin dürfte es piepegal sein, ob es im Haus oder im Freien in den Körper gelangte ...
Alles in allem - ohne Risiko bleibt auf solchen Fernreisen nichts - bei der Familie Ascough gab es also kein Vertun und so schickte ich unseren Buchungswunsch per e-mail an info@carmels.com.au. Eine positive Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Das ältere Ehepaar wurde bereits aus der Ferne immer sympathischer. Wir übermittelten noch die Nummern unserer Kreditkarten - die künftigen Gastgeber wollten ein übliches Deposit (englisch für Anzahlung, Kaution) für zwei Nächte abbuchen, was sie dann doch unterließen. Möglicherweise hatten sie zu uns Vertrauen gefasst wie wir auch zu ihnen. An der guten Meinung aller hat sich übrigens bis heute nichts geändert. Seit unserem Kennlernen stehen wir in Verbindung, was ja durch die modernen Kommunikationsmittel kein Problem darstellt. So werden auch Fotos im Attachment ausgetauscht ...“
Zum Schluss der heutigen Angebote folgt noch eine wunderbar poetisch-lehrhafte Geschichte, die man von einem Autor wie Erik Neutsch nicht unbedingt erwartet hatte. Sein Buch „Vom Gänslein, das nicht fliegen lernen wollte“ erschien zuerst 1995 bei Faber & Faber in Leipzig: Die Handlung dieser kleinen poetischen Geschichte spielt während zweier Sommer und einem Herbst, einem Winter und einem Frühjahr dazwischen in einem Dorf zwischen zwei mächtigen Flüssen, in einer Gegend, die man das Luch nennt. Und auch ein See liegt in der Nähe. Und dort passierte vor einiger Zeit etwas Ungewöhnliches: Eines von acht Kindern eines Gänseelternpaares, das Frühling für Frühling aus dem fernen Afrika wieder ins Luch heimkehrte und ein Nest am Schilfufer des Sees baute, wollte partout nicht fliegen lernen und erfand allerhand Ausflüchte. Schließlich führte „Gussi“, das Graugänsemädchen, am sommerlichen See ein schönes Leben. Und ihr schien es zu reichen, laufen und schwimmen zu können.
Dann aber kam der Herbst, und es wurde Zeit für die Wildgänse, wieder nach Afrika zu fliegen. Aber als sich ihre Eltern und ihre Brüder auf den weiten Weg machen wollten und „Gussi“ zum Mitfliegen aufforderten, da konnte sie es nicht – weil sie nicht fliegen konnte. Aber was würde mit dem einsamen Graugänsekind geschehen, wenn erst der Winter mit Kälte, Eis und Schnee auch am See Einzug gehalten hat? Würde irgendjemand „Gussi“ helfen können? Würde sie ihre Eltern und ihre Brüder im nächsten Jahr wiedersehen?
Und damit Sie sich vorstellen können, worum es eigentlich geht, springen wir gleich in das 2. Kapitel, wo wir zunächst die Eltern des Gänsleins kennenlernen, das partout nicht fliegen lernen wollte: „Es war einmal ein Gänseelternpaar. Frühling für Frühling kehrte es aus dem fernen Afrika wieder heim ins Luch und baute ein Nest am Schilfufer des Sees, der schwarz oder silbrig aussieht, blau oder feurig rot, je nach dem, welche Farbe der Himmel über ihm trägt. Wie in jedem Jahr, so geschah es auch diesmal. Die Mutter legte täglich ein Ei, bis sie das Nest mit ihnen gefüllt hatte. Acht waren es an der Zahl, und in jedem sollte ein junges Gänslein heranwachsen, ein Gössel. Pausenlos saß sie darauf und brütete, wärmte die Eier mit ihrem Leib. Nur wenn sie Hunger verspürte, verließ sie kurz das Gelege, um sich zu nähren. Ebenso unablässig, aufrecht und stolz, stand der Vater daneben, der Ganter, reckte den langen, hellbraun und grau gefiederten Hals, drehte den Kopf in alle Richtungen des Windes und hielt Wache. Ein ganzer Monat mochte auf diese Weise vergangen sein. Mit kaltem Regen, Hagelschauern und wütenden Stürmen, doch immer öfter auch mit Sonnenschein. Der zerteilte die Wolken, und die Erde, den See und die Gänseeltern bei ihrem Nest im Rohr begann er mit seinen Strahlen wie mit zärtlichen Händen zu streicheln. Allem hauchte er Leben ein.
Da endlich war es soweit. „Wiwiwie, wiwiwie", erscholl unter den Schalen ein Stimmchen nach dem andern, und es klang, als wollte ein jedes sagen: „Ich bin hie, ich bin hie ..." „Gangganggang, gangganggang“ antwortete die Mutter und erhob sich schnatternd vom Gelege, „nun dauert es nicht mehr lang." Und auch der Vater rief froh: „Gackgackgaak, gackgackgaak - heut ist ein Freudentag." Ein Ei nach dem anderen zerplatzte, wurde von innen her von den Jungen mit ihren Schnäbelchen aufgepickt. Gössel um Gössel schlüpfte, und bald waren es ihrer sieben. In ihren oberseits grünlichgrauen und bäuchlings gelben Daunenkleidchen glichen sie Wattebäuschen. Wispernd drückten sie sich aneinander und verkrochen sich in den Schutz der Mutter.
Das achte und letzte Ei aber brach erst am nächsten Tag auf. „Wiwiwie - ich bin hie!", ertönte auch daraus ein Stimmenlaut, doch er wirkte noch recht verschlafen, war leise und schloss mit einem herzhaften Gähnen. „Gangganggang", entgegnete wieder die Mutter. „Gackgackgaak", machte der Vater. Die sieben Gössel jedoch, sämtlich Brüder, schwiegen plötzlich und schauten nur neugierig zu, wie sich nach und nach aus der schmutzigweißen Schale ein wunderschönes Gänsekind pellte. Seine Daunen waren von solch einem reinen, leuchtenden Gelb, dass es aussah, als trügen sie die Farben der Sonne. Wahrhaftig, das Gänslein schien über und über in Gold gekleidet. Nur seine Augen, die jetzt zum ersten Mal die Welt erblickten und vor Staunen immer größer wurden, nahmen sich darin aus wie zwei kullerrunde schwarze Perlen. Die sieben Brüder hatten ein Schwesterchen erhalten. Die glücklichen Eltern nannten es Gussi. Und alle fanden es hübsch und überhäuften es fortan mit besonderer Sorge und Liebe. Gussi spürte es bald, genoss es und ließ sich verwöhnen.“
Und jetzt sind Sie bestimmt schon ganz gespannt, wie es mit „Gussi“ weitergeht? Und ob es seine Eltern und seine Brüder wiedersehen wird? Also besorgen und lesen. Ich meine, man legt diesen ungewöhnlichen Neutsch nicht eher aus der Hand als man das Buch „Vom Gänslein, das nicht fliegen lernen wollte“ durch hat.