Auch im vierten Teil seiner „Zeitreisenden“-Reihe lässt Fantastik-Autor Hardy Manthey seine Heldin Aphrodite wieder viele Abenteuer erleben - „Der Tempel und das geheime Grab“. Und ihre Reise ist noch lange nicht zu Ende.
Sehr politisch wird es in dem Debüt-Band „Hasta Siempre, Bruder. Tod im Bundestag“ von Isabel Leyla Erdem. Und nicht alles war und ist wirklich so, wie es anfangs scheint.
„Nehmse Platz, Herr Jeheimrat!“ – Falls Sie diese typische Redewendung nicht kennen, dann sollten Sie „Frisör „Kleinekorte“ von C.U. Wiesner lesen. Und wenn Ihnen diese Redewendung bekannt vorkommt, dann erst recht. Ob Sie allerdings bei Kleinekorte selber zu Wort kommen werden …
Und zum Schluss der heutigen Angebote machen wir einen Zeitsprung ins Frankreich Mitte des 18. Jahrhunderts, wo uns der Romanist und Schriftsteller Klaus Möckel mit seinem abenteuerlichen Roman „Heiße Ware unterm Lilienbanner. Ohne Lizenz des Königs“ erwartet. Es geht um viel, nicht zuletzt um viel Geld sowie um einen hohen Einsatz, den des eigenen Kopfes nämlich, und auch um den Rubikon, den mancher schneller überschreitet, als ihm vielleicht lieb ist. Und damit zurück ins 20. Jahrhundert und zum ersten Deal der Woche.
Erstmals 1976 erschien im Kinderbuchverlag Berlin „Die Gudrunsage“ von Joachim Nowotny: Der Königssohn Hagen von Irland wird als Kind von einem Greifen geraubt und auf eine Insel verschleppt. Dort gelingt ihm die Flucht und er verbirgt sich mit drei ebenfalls geraubten Prinzessinnen in einer Höhle, bis er zum Mann herangereift ist. Nun hat er die Kraft, den Greifen zu besiegen und es gelingt ihm die Flucht. In Irland heiratet er Hilde, eine der Prinzessinnen. Ihre Tochter Hilde wächst zu einer wunderschönen Frau heran, doch Hagen lässt alle Brautwerber töten. Nur mit List gelingt es Hetel von Hegelingen, Hilde zur Frau zu bekommen. Beide haben eine noch schönere Tochter Gudrun, die von drei mächtigen Königen umworben wird. Nachdem sie mit Herwig verlobt wird, überfällt Hartmut das Land und raubt Gudrun. Sie hält ihrem Verlobten 13 Jahre die Treue, bis er sie befreien kann. Gudrun stiftet weitere Hochzeitsbündnisse, um die ursprünglichen Gegner zu versöhnen. Zu viel Blut ist ihretwegen geflossen und zu viel Leid geschehen. Und so beginnt bei Joachim Nowotny diese sagenhafte Geschichte:
„1. Kapitel
In Irland herrschte einst ein mächtiger König. Seinem Befehl gehorchten Recken aus den angesehensten Geschlechtern des Reiches. Viele Bauern dienten ihm mit reichen Abgaben. In seinen Waffenkammern fanden sich Rüstungen, Helme, Kettenpanzer, Schilde und Schwerter in solcher Fülle, wie sie kaum ein anderer König aufzuweisen hatte. Auch übertraf er in der Zahl edler Pferde, in den Kostbarkeiten seiner Gewölbe und im Prunk der Gewänder die Hofhaltung aller bekannten Herrscher jener Zeit. Macht und Reichtum aber verführten den König nicht zum Übermut. Er regierte gerecht, er bestrafte die Schuldigen, schützte die Armen und zeigte sich freigebig gegenüber seinen Vasallen.
Seine Frau, die Königin, war die Tochter eines gleichfalls angesehenen norwegischen Herrschers. Die Hochzeit mit ihr hatte den Ruhm des jungen irländischen Fürsten vermehrt. Zu beider Freude wurde ihnen ein Sohn geboren, dem sie den Namen Hagen gaben. Der Knabe wurde sorgfältig erzogen. Er sollte ein Mann werden, der sich im Kampf behaupten konnte, ohne dabei ritterliches Verhalten zu verletzen. Schon mit sieben Jahren hielt sich Hagen am liebsten bei den Kriegern seines Vaters auf. Er versuchte mit seinen schwachen Kräften das Schwert zu führen und den schweren Buckelschild zu heben. Wenn sie seinen Eifer sahen, lachten die Recken gutmütig und hoben ihn auf ihre Arme. Sie waren gewiss, dass Hagen die Hoffnungen seiner Eltern erfüllen werde.
Eines Tages sagte die Königin zu ihrem Gemahl: „Uns gerät alles nach Wunsch, aber das Leben hier am Hofe spiegelt so gar nicht unsere Freude wider. Warum sollen wir nicht einmal froh sein und feiern, wie es den Landesherren ansteht?“ Der König dachte über den Vorschlag nach und antwortete: „Du magst deinen Willen haben, Ich will die Fürsten des Landes einladen und auch deine Verwandten bitten. Im Kampfspiel werden wir unsere Kräfte messen. Die Sieger will ich reich belohnen, und an Speise und Trank wird auch kein Mangel sein. So stärken wir unser Ansehen.“ Es geschah, wie der König versprochen hatte. Aber zum ersten Mal ließ es der irländische Herrscher am rechten Maß fehlen. Einmal zu dem Fest entschlossen, sollte es alles übertreffen, was man bisher von Feierlichkeiten gehört hatte. Reitende Boten durchquerten das Land nach allen Himmelsrichtungen und luden viele Tausend Fürsten und Ritter ein.
Inzwischen richteten des Königs Gefolgsleute vor der Burg einen großen neuen Turnierplatz her. Wochenlang mussten die Bauern Holz herbeifahren, daraus zimmerten sie Bänke und Tische und stellten sie im Freien auf. Die Zahl der Geladenen war so groß, dass sie nie und nimmer im Burghof Platz gefunden hätten. Truchsesse und Mundschenke bereiteten eine reiche Tafel vor. Und die Königin ließ täglich neue Kleider und kostbaren Schmuck aus den Truhen holen. Mit Bedacht wählte sie das Beste für Gastgeschenke aus. Schon bei der Ankunft sollten die Fremden spüren, in welch mächtiges und reiches Land sie gekommen waren.
So vergingen der Winter und das Frühjahr. Erst der Sommer aber trocknete die Wege und war die Zeit der Feste. Von überallher kamen die Gäste, sie wurden beschenkt und bewirtet, wie König und Königin es vorausgesagt hatten. Zum Dank ließen sie es an Zeichen der Freude und Anerkennung nicht fehlen. Die Fürsten und Ritter übten sich im Reiterspiel. Ross und Leib gepanzert, sprengten sie aufeinander zu und versuchten sich mit der Lanze aus dem Sattel zu stoßen. Die adligen Frauen aber schauten von den Zinnen der Burg herab zu und belohnten die Sieger mit huldvollem Lächeln.
Hagen verfolgte das Turnier mit glänzenden Augen. Wie gern hätte er mitgefochten, aber die Damen aus dem Gefolge der Mutter achteten streng darauf, dass er den Hufen der Streitrosse nicht zu nahe kam. Sie wollten ihn vor Unglück bewahren. Doch das ließ nicht auf sich warten.
Am zehnten Tag des Festes wurde das Turnier mit dem Auftritt eines besonders begabten Spielmanns gekrönt. Erst besang er mit wohlgesetzten Worten den Ruhm des Herrscherpaares und den Mut der Fürsten und Ritter, dann unterhielt er die Gäste mit lustigen Liedern. Von der allgemeinen Heiterkeit angelockt, drängten sich die Frauen, denen Hagen anvertraut war, hinzu. So entschlüpfte der Knabe ihrer Aufmerksamkeit und lief allein auf den leeren Turnierplatz. Aber für ihn war er nicht leer. Stürmten nicht von allen Seiten gewappnete Ritter auf ihn zu? Saß er nicht auch auf einem edlen Ross, fing alle Stöße mit dem schweren Buckelschild ab und warf die Angreifer in den Staub? In seinen Träumen war Hagen längst erwachsen und allen anderen an Kühnheit überlegen. So versunken war er in sein Spiel, dass er nicht gewahrte, was nun geschah.
Ein Schatten überzog das Land, Sturm peitschte Sand und Steine auf, vom Himmel herabsenkte sich ein wilder Greif. Seine gewaltigen Schwingen hatten die Sonne verdunkelt, ihr Flügelschlag den Sturm entfacht. Vor Schreck schrie Hagen laut auf. Der Greif packte ihn mit seinen Klauen, hob ihn in schwindelnde Höhe, wandte sich dann gegen den Wind und flog der Sonne zu. Der Schrei des Knaben hatte das Lied des Spielmanns jäh unterbrochen. Vor Entsetzen wie gelähmt, starrten alle Festteilnehmer, ob sie nun tapfere Männer oder von Mitleid erfüllte Frauen waren, auf die grausige Entführung. Hagens Mutter versank in tiefen, stummen Schmerz. Und der König weinte so sehr um seinen Sohn, dass die Tränen durch den dichten Bart drangen und ihm die Brust nässten. Endlich fasste er sich. „Edle Gäste“, sagte er, „das Fest ist zu Ende. Es sollte das größte werden, das je auf dieser Erde veranstaltet wurde. Nun haben wir die Strafe für unseren Übermut erhalten. Reitet heim und berichtet von unserem Leid.“
Während am Königshof der Aufbruch im Gange war, trug der Greif seine Beute viele Hundert Meilen südwärts zu einer felsigen Insel im Meer. In seinem Horst auf den Klippen warteten die Jungen, hungrig auf Atzung. Gierig drängten sie dem Greif entgegen, jeder wollte die Beute zuerst packen. Der stärkste unter ihnen riss den Knaben an sich. Um nicht teilen zu müssen, erhob er sich mit unsicherem Flügelschlag über den Rand des Horstes. Er konnte noch nicht richtig fliegen, deshalb versuchte er auf dem nächsten besten Ast zu landen. Der aber war morsch und brach unter seinem Gewicht. Hagen fiel zur Erde; er nahm allen Mut zusammen und verbarg sich rasch im dichten Buschwerk. Mochte der Greif ruhig lauern! Erst im Schutz der Dunkelheit suchte Hagen Unterschlupf in einer Höhle.
Hier wartete eine neue Überraschung auf ihn. Er fand Gefährten seiner Not, drei Königstöchter aus fernen Ländern, die der Greif ebenfalls geraubt hatte und die wie er glücklich entkommen waren. Sie lebten schon lange in dem Felsloch, kleideten sich mit Moos und Blattwerk und ernährten sich von Kräutern und Wurzeln. Zuerst erschraken sie, glaubten sie sich doch von einem wilden Tier bedroht. Dann aber sahen sie, dass es sich um ein weiteres Opfer des Greifen handelte. Sie nahmen Hagen auf und umsorgten ihn, so gut es die Umstände erlaubten. Unter ihrer Obhut wuchs er zu einem kräftigen Jüngling heran.“
Sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book brachte die EDITION digital 2012 in erster Auflage den 4. Teil der Zeitreisenden-Reihe von Hardy Manthey heraus – „Der Tempel und das geheime Grab“. Für die im vergangenen Jahr erschienene 2. Auflage hat der Autor sein Erstlingswerk sehr stark überarbeitet und die kritischen, trotzdem begeisterten Hinweise berücksichtigt: Im vorangegangenen 3. Teil fand die Zeitreisende Aphrodite Männer, die sich mit ihr mitten in die Salzwüste Tunesiens wagten und das Gold aus der Landefähre bargen. Die Männer der Antike durften einen Blick in die Zukunft werfen, was diese aber nicht veränderte. Lediglich Aphrodite sahen sie nun mit anderen Augen an. Wird die magische Kraft des Goldes ausreichen, um einen gewaltigen Tempel zu errichten? Kann Aphrodite den Widerstand der Männer brechen? Dort im Tempel muss auch die Botschaft an die Menschen der Zukunft versteckt werden. So gut versteckt, dass über die Jahrtausende Krieg und Katastrophen hinweg ihre Nachrichten ankommen. Lesen Sie, was unsere Heldin tatsächlich erreicht. Am Ende dieses Teiles blicken wir kurz in die Zukunft und erfahren, was die Archäologen herausfinden! Jetzt aber sind wir erst mal am Anfang des vierten Teils:
„Aphrodite und die Seeräuber
Die Sonne hat sich gerade vom Meer gelöst, als Aphrodite von Emma unsanft geweckt wird. Wütend blickt sie zu ihrer Sklavin hoch. Sie hatte gerade so schön vom Strand und einer Bar in Nizza im zweiundzwanzigsten Jahrhundert geträumt.
Emma wird sofort unsicher und bittet entschuldigend: „Vergebt mir, Herrin, ein Fischer wartet unten und macht es sehr dringend!“ Weil die Fischer noch nie ohne Grund zu ihr gekommen sind, erklärt Aphrodite schon versöhnlicher: „Ist schon in Ordnung, Emma! Biete ihm bitte ein reichliches Frühstück an, während ich noch schnell unter die Dusche gehe. Danach werde ich zu ihm an den Frühstückstisch setzen.“ Mit dem Duschen macht sie es heute wirklich kurz. Die nassen Haare wickelt sie in ein Tuch und wirft sich ein einfaches Gewand über.
Unten erwartet sie ein ihr unbekannter Fischer. Aber sein Fischgeruch ist Ausweis genug für seinen Stand. Er grüßt sie nach einer tiefen Verbeugung: „Ave, ich soll Grüße von Odysseus, Phrenikus und Laskatius ausrichten! Wir Fischer vermissen Euch sehr!“ Der kleine Verlust kann doch nicht der Grund sein, so früh, kurz nach Sonnenaufgang, zu mir zu kommen, fragt sie sich misstrauisch.
Etwas verärgert antwortet sie: „Danke. Ich weiß, Männer, dass ihr in letzter Zeit bei mir etwas zu kurz gekommen seid, aber mein regelmäßiges Bad am Abend im Meer hat euch doch den gewünschten Fisch gebracht! Oder etwa nicht?“
Der Fischer steht von seinem Platz auf und erklärt: „Vergebung, Göttin, darum geht es heute überhaupt nicht. Ihr sorgt immer für volle Netze. Nur die Zeit rennt uns davon!“
„Was treibt Euch zur Eile, junger Mann?“, fragt Aphrodite ehrlich überrascht. Seit wann gibt es in der Antike auch Zeitprobleme? Kriege dauern Jahre, ach was jahrzehntelang und der Mann redet von einer knappen Zeit, fragt sich Aphrodite skeptisch. Hier ist was oberfaul, meldet sich ihre innere Stimme.
Der Mann windet sich und etwas gequält erklärt er: „Nun, göttliche Aphrodite, wir haben ein Schiffswrack entdeckt, eine knappe Segelstunde südlich von hier. Phrenikus ist sich sicher, dass es das Flaggschiff des römischen Konsuls Axus gewesen ist. Er hatte eine gewaltige Kriegskasse an Bord. Man spricht von über hunderttausend Sesterzen, das sind unglaubliche vierhunderttausend As. Nur hat das Ganze einen gewaltigen Haken. Das Schiffswrack hat sich vor einem Graben in den Felsen nur leicht verfangen. Es muss über die Jahre immer tiefer gerutscht sein. Der nächste leichte Sturm könnte es für immer in der Tiefe versinken lassen. Die Alten meinen, dass schon heute Nacht die Winde ungünstig drehen und alles verloren geht. Orastinius ist ein guter Taucher, er will die Truhe schon gesehen haben, aber sie ist für ihn unerreichbar. Nur Ihr könnt sie bergen. Wir alle haben gesehen, wie Ihr in der Tiefe verschwunden seid. Kein Mensch kann so tief tauchen. Ein Schiff wartet unten schon auf Euch!“
Aphrodite hat längst Feuer gefangen. Aber sie ist im zweiten Monat schwanger. Gefährdet sie das Leben ihres ungeborenen Kindes mit dem Tauchgang? Aphrodite zögert noch. Doch dann wirft sie ihre Bedenken beiseite und stimmt zu: „Lasst mich nur noch meine Tochter holen, dann brechen wir auf. Schon am Tor reicht sie Emma ihre Tochter und sagt: „Du weißt, dass du jetzt eine große Verantwortung trägst. Ich habe noch etwas vergessen. Ich komme gleich nach. Du kommst mit auf das Schiff!“ Flink eilt Aphrodite wieder ins Haus. Ihre Intuition schlägt Alarm, heute braucht sie eine Waffe. Wieso das so ist, weiß sie nicht. Nur eine unbestimmte Unruhe in ihr treibt sie dazu, das erste Mal nach den Waffen der Amerikaner zu greifen. Sie wird die Waffen nicht benutzen. Wozu auch? Was kann dort draußen auf dem Meer so gefährlich für sie werden, das sie die hochmodernen Waffen hier in der Antike benutzen muss? Nichts, entscheidet sie. Aber immer, wenn sie nicht auf ihre innere Stimme gehört hat, ging etwas schief. Sie eilt hoch in das heilige Zimmer. Aus der langen Kiste holt Aphrodite eines der Kampfmonster heraus. Es ist eine Neutronenwaffe, genannt Neutrons. Eine furchtbare Waffe. Alles, was von diesem Gerät gescannt und mit Enter bestätigt wird, leuchtet kurz auf, um dann für immer zu verschwinden. Das Gerät in den Händen wirkt ungemein beruhigend auf sie.
Ein Stück Überlegenheit und Machtgefühl strahlt von der handlichen Hi-Tech-Kampfmaschine aus. Aber auch das Schutzbedürfnis für ihre Tochter lässt sie zu solchen knallharten Maßnahmen greifen. Schnell wickelt Aphrodite das knapp zwei Meter lange Gerät in Tücher und nimmt es auf die Schulter. Das Neutrons wiegt keine zehn Kilo und hat für den Laien das Aussehen eines Bündels vieler unterschiedlich großer Rohre. Das Hi-Tech-Gerät ist eigentlich ein Computer mit viel Energie, der verpackt in Kohlefaser und Titan seine unheimliche Kraft entfaltet. Der Laie, der noch nie utopische Filme gesehen hat, sieht in dieser Hi-Tech-Waffe nur so etwas wie ein sinnloses Metallbündel. Das ist auch gut so.
Ebenfalls sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book erschien 2014 bei der EDITION digital der Roman „Hasta Siempre, Bruder. Tod im Bundestag“ von Isabel Leyla Erdem: Ein Toter im Bundestag. Ein Attentat auf einen Diplomaten. Ein Strafprozess voller Überraschungen. Ein Roman über Geheimdienste, den bewaffneten Kampf und die deutsche Schuld an Diktaturverbrechen in Chile. Eigentlich sucht Hannah nur nach Informationen für ihre Doktorarbeit, als sie über einen toten Bundestagsabgeordneten stolpert. Selbstmord? Oder wusste das Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums zu viel über die Machenschaften der Geheimdienste? Gemeinsam mit dem traumatisierten Sohn des Toten beginnt die Juristin, Fragen nach der deutschen Vergangenheit zu stellen. Die Spur führt in die siebziger Jahre, in ein westdeutsches Gefängnis und nach Chile unter Pinochet. Chile 1973, Militärputsch: Einige junge Chilenen fliehen in die Bundesrepublik. Kurz darauf wird die chilenische Botschaft in Bonn angegriffen. Jahrzehnte später wird einem mutmaßlichen Attentäter der Prozess gemacht. Doch war der Terroranschlag wirklich die Tat der Guerilleros? Bald schon geraten Hannah und ihre Kollegen selbst ins Visier eines übermächtigen Gegners ...
Alles beginnt scheinbar harmlos in einer Berliner Rechtsanwaltskanzlei und mit einem merkwürdigen Artikel:
„1
Die Fensterrahmen klapperten. Zweige schlugen gegen die Mülltonnen, eine Katze schrie empört in die Nacht. Der Wind pfiff um das Gemäuer auf der Suche nach einer Spalte in der Fassade. Sie lauschte. Es beruhigte sie, auf der richtigen Seite zu sein. Im Inneren der menschlichen Behausung. Das Kind neben ihr schlief unruhig, seine Arme zuckten, schwarze Locken klebten an seiner Stirn. Seine zu dünnen Beine lagen ineinander verdreht und zitterten. Sie fühlte, dass er die Decke abgestrampelt hatte. Ihre Hand tastete danach und zog sie behutsam über den Jungen. Sie vernahm einen erleichterten Laut, gefolgt von seinem gleichmäßigen Atem. Hannah öffnete die Augen. Es war an der Schwelle zum Tag, zu früh noch, daran zu denken. Sie schlief wieder ein.
In der Kanzlei schaltete sie die Kaffeemaschine ein. Dabei warf sie einen Blick auf den Wandkalender. Verhandlung im Amtsgericht Tiergarten. Ein Einbruchsdiebstahl. Sie rief Julius an, um ihn zu erinnern. Er war noch mit einer anderen Mandantin beim Jugendamt, in einer Scheidungssache. Die Frau wollte ihren Sohn zurück. Hannah dachte an ihren eigenen. Was für ein Glück sie doch hatte. Ruckartig griff sie nach ihrer Tasse und ging ins Arbeitszimmer. Auf der linken Seite ihres Schreibtischs lag die laufende Kanzleiarbeit. Rechts erinnerte ein Stapel loser Papiere an ihre Dissertation. Verdammt. Seit Wochen war sie mit anderen Dingen beschäftigt als mit internationaler Rechtshilfe zwischen Deutschland und Lateinamerika. Als ihr der Freiraum neben ihrem Computer ins Auge sprang, seufzte sie. Vermutlich hatte Julius wieder ihre Unterlagen „sortiert“. Von einem ihr unbekannten Ordnungsfanatismus getrieben. Danach fand sie nichts mehr wieder.
Hannah rührte einen Löffel Zucker in ihren Kaffee, nahm einen Schluck und machte sich an die Arbeit. Als erstes musste sie einen Termin für die Sozialrechtsberatung verschieben. Sie sah kurz in der Akte nach. Ärgerlich. Wie gut hätte sie die Familie beraten können. Sie durfte nicht. Noch nicht. Dabei hatte sie ein nervenaufreibendes Jurastudium hinter sich. Neben ihrer Arbeit als Anwaltsgehilfin. Das hatte ihr zumindest ein eigenes Büro und eine kleine Gehaltserhöhung eingebracht. Doch solange sie keine Rechtsanwältin war, blieben Beratungen und Gerichtstermine weiter an Julius hängen. Um jeden Fall zu kennen, verbrachte er seine Nächte oft auf dem Sofa in ihrem Büro. Es war zu viel für ihn. Das wusste sie. Und er wusste es auch. Dafür verschwendete sie ihre Kraft mit unsinniger Sekretariatsarbeit. Allein dieser Kalender! Er nahm die halbe Rückwand ihres Büros ein. Gespickt mit Klebezetteln. Aktenzeichen über Aktenzeichen. Rasch sah Hannah die Faxe vom Vortag durch und trug die Fristen ein. Am Telefon verlangte ein potentieller Mandant einen Termin für die Erstberatung. Aufenthaltsrecht. Gleichzeitig rief Julius auf ihrem Handy an. Er suchte den Gerichtssaal. Als ob es keine Raumpläne gäbe. Hannah kam Julius entgegen, wo sie konnte. Doch es gab eine Grenze ihrer Belastbarkeit, die sie beide kannten. Und die hieß Mirko.
Ihr Chef kam in ihr Büro gestürmt, als Hannah bereits den Computer ausgeschaltet hatte. Dabei vergaß er, die Tür zu schließen, sodass sie mit einem lauten Knall zuschlug. Wie üblich. „Ich habe was für dich!“ Immer das Gleiche, wenn sie mal zeitig gehen wollte.
„Keine Angst, nicht für die Rechtsanwältin, sondern für die Doktorin in dir.“
„Einer der beiden Titel würde mir schon reichen“, murmelte sie.
„Hast du mal von einer Gruppe namens Estroja gehört?“
Sie schüttelte den Kopf. „Klingt wie eine Tankstelle.“
„Oh, oh. Da musst du noch einiges recherchieren, Kollegin. Estroja kommt von Estrella Roja, roter Stern. Wirklich kreative Revoluzzer ...“, sagte er. „Das war anscheinend eine chilenische Guerillagruppe, nach der international gefahndet wurde, weil sie auch im Ausland aktiv war. Angeblich sind ihre Mitglieder nach Chile ausgeliefert worden oder einfach verschwunden. Auch in Deutschland gab es ungeklärte Todesfälle.“
Hannah zog die Augenbrauen hoch. „Ich habe noch nie von denen gehört. Wie kann das sein?“
Julius hielt ihr einige Seiten Papier hin. „Es scheint eine kleine Gruppe gewesen zu sein. Ich bin zufällig über eine Anwaltsmailingliste drauf gestoßen. Hab dir die Homepage rangeschrieben. Sonst findet man im Internet nichts dazu. Der Text ist immerhin über dreißig Jährchen alt. Wundert mich, dass er überhaupt archiviert ist.“
Hannahs Augen suchten den Namen des Autors. Miguel Meyer. Der Artikel war in der familiares – Angehörigensolidarität erschienen.
„So, das war’s auch schon.“ Julius verließ den Raum.
Erleichtert setzte sie sich auf das Sofa und begann zu lesen. Dann ging sie eben ein andermal mit Mirko in den Zoo. „Julius!“, rief sie kurze Zeit später. Seine Tür stand auf. Sie wedelte mit dem Artikel. „Echt brisant, das hier. Seltsam, dass er nur in diesem kleinen Blatt veröffentlicht wurde.“
„Wahrscheinlich liegt es genau daran“, warf er ein.
„Ein illegales Netzwerk in Europa. Ein Auslieferungsverfahren, das mit Toten in einem deutschen Gefängnis endet. Wenn das stimmt, was er schreibt ...“
„... dann bringt das deine Diss’ voran!“
„Heh, bin ich so egoistisch? Aber im Ernst, Julius. Stell dir vor, die BRD hätte dem Pinochet-Regime Rechtshilfe geleistet und die Chilenen in den Tod abgeschoben. Oder getrieben. Wegen irgendwelcher nie aufgeklärter Taten. Das ist doch ein Skandal.“
Julius hob die Schultern. „Deutsche Unternehmen haben damals Pinochet gratuliert. Was will man erwarten?“
„Na, ein kleiner Unterschied besteht wohl noch zwischen Wirtschaft und Staat. Und wenn es nur die Bindung an das Grundgesetz ist.“ Hannah sah sich nach dem Telefon um. „Hier steht ein Impressum. Ich will rausfinden, wer der Verfasser ist. Klingt nämlich nach einer Quelle aus dem Umfeld der Gruppe.“ Sie zog das Telefon aus einer seiner Akten. Aus der Akte Lackovic. Verdammt. Bereits im Flur, sagte sie noch: „Natürlich kann es auch ein Spinner sein. Aber wenn nicht, hab ich endlich einen brisanten Einzelfall.“ Sie tippte eine Nummer ein.
„Hab ich’s doch gleich gewusst“, triumphierte Julius, bevor sie leise seine Tür schloss.
Eine halbe Stunde später fand sie ihn rauchend in der Küche. Auf die beschlagene Fensterscheibe hatte er eine Grimasse gemalt und darunter „Hannah“ geschrieben. Sie ignorierte ihr Portrait und riss das Fenster auf. Geraucht wird nur bei offenem Fenster! „Mensch, weißt du, wer der Verfasser ist?“, fragte sie.
„Hast du mit ihm gesprochen?“
„Das geht nicht mehr“, sagte sie, „er ist tot.“
„Wie, er ist tot? Ist er etwa ein Verschwundener?“
„Das nicht. Aber Miguel Meyer heißt eigentlich Michael Meyer, Dr. Michael Meyer.“
Julius blickte verwirrt.
„Der Abgeordnete!“, rief sie. „Der sich im Bundestag von der Brücke gestürzt hat.“
Erstmals 1965 lieferte der Eulenspiegel-Verlag Berlin das amüsante Buch „Frisör „Kleinekorte“ von C.U. Wiesner aus. Über seine erfolgreiche literarische Figur sagt der Autor selber Folgendes: „Nehmse Platz, Herr Jeheimrat! Was gibsn Neues aufm Bau? Wieder Nachtschicht gehabt? Mit diesen Worten begrüßt ein bekannter Berliner Frisör gewöhnlich fast jeden seiner Stammkunden. Dreißig Jahre lang hatte er in der Zeitschrift Eulenspiegel und im gleichnamigen Buchverlag über das Leben in jenem seltsamen Land philosophiert, das sich über Geborgenheit, aber auch über Sicherheit definierte. Was seinen Bewohnern noch jahrzehntelang als Makel angehängt werden sollte. Im Jahre 1990 wurde der Eulenspiegel Verlag durch jenes Institut liquidiert, das man irreführend Treuhand nannte. Bald darauf gab es einen neuen Verlag gleichen Namens. Der brachte im Jahre 1994 so etwas wie Best Of Kleinekorte heraus, das war eine Auswahl aus den vorangegangenen vier Büchern, dazu einige Texte, die nach dem Mauerfall im Eulenspiegel erschienen waren. Dies war der Endpunkt einer Erfolgsgeschichte: Eine Gesamtauflage von einer halben Million Bücher. Eine Theaterfassung: Kleinekortes Große Zeiten, die 1969 unter der Mitregie des Autors am Volkstheater Rostock uraufgeführt wurde, dort viele Jahre an mehreren Spielstätten erfolgreich lief und an etlichen Theatern - außer in Berlin - nachgespielt wurde. Eine Fernsehfassung am Studio Rostock 1970. Natürlich ließ ich es mir nicht nehmen, selber in die Rolle des Willem Kleinekorte zu schlüpfen. In manchen Jahren waren es mehr als siebzig Auftritte im Rundfunk, auf Kabarettbühnen und auf gut besuchten öffentlichen Lesungen. Beinahe wäre es auch noch zu einem DEFA-Film gekommen. Der Erzkomödiant Rolf Ludwig lag schon auf der Lauer. Leider war ich an den falschen Dramaturgen und den falschen Regisseur geraten. Trotzdem bin ich, inzwischen selber ein Methusalem, noch immer ein bisschen stolz auf mein literarisches Geschöpf, den Frisör Kleinekorte, den das Brandenburg-Berlinische Wörterbuch in eine Reihe mit den Figuren von Glassbrenner und Tucholsky gestellt hat.“ Zu Beginn des Buches philosophiert Kleinekorte über alte Zeiten:
„Frisör Kleinekorte trauert verlorenen Werten nach
Nehmse Platz, Herr Jeheimrat! Was gibsn Neues aufm Bau? Wieder Nachtschicht gehabt? Na, mit Ihre Lockenpracht is aber auch kein Staat mehr zu machen. Ick glaube, wenn Se dis nächste Mal kommen, hamse ne kalte Platte. Und wissense, woran dis bei Ihnen liegt: Sie ham zu ville männliche Hormone. Aber die Haarwuchsmittel sind ja man auch der reinste Tinneff, da machense bloß die schemischen Fabriken mit reich. Ick sage immer, es gibt nur ein reelles Mittel: dreimal am Tag kräftig bürschten - am besten mit ne janz harte Bürschte.
Ja, wenn ick ein Haarwuchsmittel erfinden täte, was würklich hilft, denn wär ick ’n jemachter Mann. Was ick mit dis viele Jeld anfangen würde?
Jott, wissense, ick bin jetzt an die Zweiundsiebzig, stellnse da noch jroße Ansprüche ans Leben? Tja, ick könnt mir beispielsweise alle vierzehn Tage ’n neuen Anzug bauen lassen, aber dis trägt ja unsereiner nicht mehr ab. Und dis Trinken bekam mir früher auch besser. Neulich hab ick mitn alten Kriegskameraden ’n Kleinen jepichelt, nu, dis mögen so Stücker zwölf Spezi und zehn Pils jewesen sind, andern Tag - dotsterbenskrank! Dis is ebent alles nicht mehr dis richtige! Moment mal, ick will bloß dis Messer scharf machen. Wissense, man müsste einfach für dis janze Jeld nackte Meechens bestellen und die denn danzen lassen. Und die janzen Pressefritzen, die könnten bei mir aufkreuzen und fotojrafieren, da wär ick jar nicht kleinlich.
Ach, man sagt dis alles so, aber dis is heutzutage überhaupt nicht mehr drin. Die Menschheit is ja so prüde jeworden. Dis muss so - wartense mal - inne Systemzeit jewesen sind, da kamen doch immer - dis werden Sie jar nicht mehr kennjelernt ham - die Hausierer mit ihre Bauchläden. Oben in den Kasten hattense Schnürsenkel, Sockenhalter und hüginische Artikel, und dadrunter war ’n doppelter Boden. Und dadrin lagen denn lauter Fotografien - ick muss ja sagen, sehr freie Darstellungen. Und die hamse bei uns Frisöre fürn Fumziger abjesetzt. Wir hamse denn weiterverscheuert an die feine Kundschaft: dis Stück ne Mark, und ne Mark, dis war damals noch ’n Stücke Jeld.
Nehmse mal den Kopp ’n bißken höher. Ach, es jab ja noch ville schönere Sachen, dis kennt die Jugend heute jar nicht mehr. Was mein Neffe Oswald is, der jetz in Charlottenburg ans Jericht arbeiten tut, der hat, als er noch bei uns nebenan inne Blumenstraße wohnte, ’n richtigen Kinoapparat jehabt, so einen mit bewegliche Bilder, und da jab es, ick glaube an Dönhoffplatz, son Laden, wo Se echte französische Sittenfülme ausleihen konnten, für eine Mark fumzig die janze Woche. Wenn denn der Sonnabend ran war, wurde die Bude verdunkelt und ’n Bettlaken anne Wand jepinnt. Die Damen saßen nebenan und tranken ihren Kaffee, und wir Herren begaben uns in unserem Kintopp und machten Spannemann bis nachts um zwölfe.
Von diese Erinnerungen lebt man nu heute.
Scharf nachwaschen, Herr Jeheimrat? Was aus den Apperat und die Fülme jeworden is? Na, dis Haus, wo mein Neffe wohnte, wurde noch vierenvierzig runterjebombt, und da liegt dis nu alles mitten unter die Trümmern.
Tja, wenn man bedenkt, was der Krieg so für Werte vernichtet hat!"
Erstmals 1973 erschien im Verlag Neues Leben Berlin der Roman „Heiße Ware unterm Lilienbanner. Ohne Lizenz des Königs“ von Klaus Möckel: Frankreich Mitte des 18. Jahrhunderts. Antoine Brac, jung und mittellos, kommt nach Paris, um sein Glück zu suchen. Er findet eine Stadt voll überschäumenden Lebens vor, in der aber auch Halsabschneider und Spitzbuben aller Art Hochkonjunktur haben. Mutig stürzt er sich ins Getümmel, steht jedoch schon bald ohne jeden Sou da, gerät sogar unschuldig ins Gefängnis. Nachdem ihm eine zwielichtige Geliebte zur Freiheit verholfen hat, ergreift Antoine die Chance, in die Dienste eines Verlegers zu treten und Schriften unters Volk zu bringen, für die es keine Lizenz des Königs gibt. Eine Tätigkeit, die ihn auf die Galeere oder an den Galgen bringen kann. Die Handlung des Buches ist erfunden, das historische Kolorit und die Verhaltensweisen jener Zeit indes sind detailgetreu nachgestaltet. Der Romanist und Schriftsteller Klaus Möckel legt mit diesem abenteuerlichen Roman ein kenntnisreiches Werk vor, in dem es um Liebe, Macht und Intrige geht, das aber zugleich ein noch wenig bekanntes Element der Zeit Ludwig XV. beleuchtet: die gefährliche Arbeit der illegalen Buchverkäufer. Ein dickes Lob konnte der Autor nach dem Erscheinen seines Buches zum Beispiel vom „Jugendschriftenausschuss Hannover im Gesamtverband Niedersächsischer Lehrer“ lesen: „Möckel versteht es... die Probleme... in eine spannende, atemberaubende Handlung zu verweben. Von französischen Schriftstellern hat er die Kunst des flotten und pointierten Erzählens übernommen. Es gelingt ihm, seine Gestalten so ans Herz zu schreiben, dass sie nach Beendigung der Lektüre noch eine Zeitlang in uns weiterleben.“ Und so fängt dieses lesenswerte Buch in der besten Tradition französischer Schriftsteller an:
„Erster Teil
1
Eine pfirsichfarbene Sonne am Himmel, Wolken, die dem puderbestaubten Gelock herrschaftlicher Perücken glichen. Das Wetter war freundlich an diesem 11. Mai 1753, die Bäume, die Büsche standen in saftigem Grün, und über den Fluren stiegen die Lerchen empor. Zwei Männer in unterschiedlicher Kleidung, der Ältere in einem Mantel aus bester flämischer Wolle, der Jüngere in einem einfachen Reiseumhang aus grauem Serge, erklommen einen Hügel, von dessen Höhe aus man in der Ferne einen Flusslauf und die Türme einer großen Stadt sehen konnte. Oben angekommen, schauten sie einen Augenblick lang schweigend in das Land, dann hob der jüngere prüfend die Hand in die Luft und sagte: „Der Wind weht von Süden. Er hat mich über sieben Flüsse und siebzehn Berge hierher gebracht. Er ist mein Bruder, er meint es gut mit mir. Er blies, als ich zu Hause aufbrach, er bläst jetzt, da ich angelangt bin in Paris. Der Beutel ist leer, aber das Herz voller Hoffnung. Der Wind verrät mir, dass sich mein Leben ändern wird. Er sagt mir, dass ich Reichtum erlangen und glücklich sein werde.“
Der Ältere, untersetzt und mit einem Gesicht wie ein Posaunenengel, lachte über diese Rede, dass ihm seine silberne Gürtelschnalle auf dem Bauch tanzte. „Du bist ein sonderbarer Bursche, Antoine Brac. Hätte ich nicht gestern Abend drei Flaschen des besten Bordeaux mit dir geleert, hätte ich nicht erlebt, wie du den beiden Auvergner Raufbolden die Köpfe gegeneinanderstießest, weil sie sich freundlichst meiner Louisdor annehmen wollten, dann würde ich dich für einen Träumer halten, für einen Naiven, einen Narren, dem die Gesetze unserer Welt völlig fremd sind. Ich kenne die Hauptstadt, und mir tun all die armen Hanswürste leid, die glauben, das Land verlassen zu können, um hier ihr Glück zu machen. Wer nicht von altem Adel ist und ein Empfehlungsschreiben für unseren König, den Kanzler des Reichs oder wenigstens den Herzog von Richelieu bei sich trägt, sollte lieber bei seinen Hühnern und Schweinen bleiben. Er kann betteln gehen, er findet nicht einmal als Lakai eine Stelle. Rotes Gold scheffeln, reich werden, das ist es, was alle wollen und was keiner schafft. Und was hätte der liebe Südwind schon für dich getan, wäre nicht zufällig die Karosse des mitleidigen Jean-Baptiste Labrosse an dir vorbeigerollt, hätte dich dieser uneigennützige und edle Mensch nicht aus dem Staub der Straße zu sich emporgehoben.“
Der Dicke klopfte sich bei diesen Worten auf die Brust und lachte erneut. Antoine Brac, hochgewachsen, schlaksig, war keineswegs verärgert. Er legte die Hand aufs Herz, machte eine Verbeugung, die jedem Höfling zur Ehre gereicht hätte, und erwiderte: „Der Wind hat es Ihnen ins Ohr geflüstert, Monsieur Labrosse, der Wind. Hören Sie ihn nicht? Jetzt, da sich unsere Wege trennen, erzählt er Ihnen gerade, dass es nicht gut ist, wenn man außer seinem runden Bäuchlein allzu viel schwere Goldfüchse mit sich herumschleppt. Man sollte sie wandern lassen, am besten in die Taschen derer, die noch eine kleine Last tragen können. Sie haben ein gutes Werk an mir getan, als Sie mich mitnahmen. Lassen Sie es mich doch vergelten. Gestatten Sie mir, Ihnen etwas von Ihrer Bürde abzunehmen.“
„Zum Teufel, mein Junge, du gehst ran“, sagte Labrosse, dem das Lachen in der Kehle stecken geblieben war. „Weißt du, wie viel Schweiß und Mühe es mich gekostet hat, diese goldenen Louis und silbernen Ecus zusammenzubekommen? Fünfzehn große Foliobände würden nicht reichen, um all die Anstrengungen des braven Bürgers Labrosse aufzuschreiben, der Mut und Verstand genug hatte, sich zu einem sehr unbraven Vertreter seiner Zunft emporzurackern. Glaubst du etwa, mir hätte in meinem Leben nur einer jemals einen kupfernen Sol vermacht?“ Er zerschnitt mit einer heftigen Handbewegung die Luft. „Nein, mein Lieber. Weder geborgt noch gar geschenkt.“ Er klimperte in seiner Tasche herum. „Diese klingenden Dingerchen springen lieber von uns fort als zu uns hin. Und was mich angeht, so will ich dich davor bewahren, ihnen schon an deinem ersten Tag in Paris allzu sehr nachtrauern zu müssen.“
Antoine Brac rümpfte die Nase, die ihm etwas zu groß im sonst ebenmäßigen Gesicht stand, hob resigniert die eckigen Schultern und betrachtete angelegentlich den silbern ziselierten Griff seines Wanderstocks. Was für eine lange Rede um ein paar runde Metallstücke, dachte er. „Dann wirst also du, alter Kamerad“, sagte er zu dem Stab, „schon bald einem anderen dienen. Ich werde dich gegen Speise, Trank und ein anständiges Lager eintauschen, denn was man auch beginnt, man soll's ohne Knausern tun. Nun gut“, wandte er sich plötzlich an den Pausbäckigen, der noch immer ein unzufriedenes Gesicht machte. „Wenn Sie meinen, Monsieur Labrosse, dass Ihre goldenen Louis in Ihrer Tasche sicher genug untergebracht sind, dann will ich nicht weiter drängen. Es soll unserer Freundschaft keinen Abbruch tun, und ich danke Ihnen ehrlichen Herzens für die erwiesene Hilfe. Meinen Dank Ihrem Kutscher, Ihren Bediensteten und den vier Pferdchen, die sich eine zusätzliche Portion Hafer wohl verdient haben. Die letzte Meile werde ich besser zu Fuß zurücklegen, damit es eines Tages von mir heißen kann: Zu den Ungeschickten gehörte er nicht; er kam á pied (zu Fuß) in die Stadt und verließ sie á cheval (zu Pferd).“
Er reichte dem anderen die Hand und wollte sich zum Gehen wenden, aber Labrosse hielt ihn zurück. Sein Gesicht hatte sich aufgeheitert, offenbar war er doch nicht bereit, es bei diesem leicht getrübten Abschied zu belassen. „Einen Augenblick, mein Lieber“, sagte er. „Wenn man dem alten Jean-Baptiste auch die Goldfüchse nicht so schnell aus der Tasche luchst, ein guter Rat ist von ihm bisweilen schon zu bekommen. Du hast das Herz auf dem rechten Fleck, Antoine, und es wäre jammerschade, würdest du dich in der Not an irgendeinen schmutzigen Seelenfänger verkaufen. Merk dir die Rue Saint-Jacques und den hinteren Eingang zum Haus mit den drei kupfernen Lettern. Wenn du nicht mehr anders zurechtkommst, klopf dort an. Sag, dass dich Monsieur Labrosse schickt. Du kennst mich jetzt und kannst dir denken, dass an jener Tür keine Almosen verteilt werden. Für einen ehrlichen Kerl aber, der Mut und Verstand hat, gibt es etwas Besseres, eine gut bezahlte Arbeit. Trotzdem, geh erst hin, wenn du dein Glück an elf anderen Stellen versucht hast. Denn eine verdammt gefährliche Sache ist's, mit der man dir dort kommen wird, und ist der Rubikon erst einmal überschritten, gibt es kein Zurück.“´
Und schon sind wir mittendrin in der abenteuerlichen Handlung und wollen natürlich wissen, wie es mit Antoine weitergeht und ob er tatsächlich am Hintereingang des Hauses mit den kupfernen Lettern in der Rue Saint-Jacques anklopft. Also bleibt uns eigentlich nur noch eines – „Nehmse Platz, Herr Jeheimrat! und mindestens ein Buch zur Hand“, würde wohl Kleinekorte sagen. „Die Auswahl is ja wull groß genuch, und es sind allet scheene Schwarten, oder? Das mit mir natürlich och …“
Viel Spaß beim Lesen und Erleben der vielen großen und kleinen Geschichten, der Zeitreisen, Zeitsprünge und Salongespräche, und da der Jahrhundertsommer sich nun wohl doch so langsam verabschiedet hat, einen schönen (Lese)Herbst und bis demnächst.