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Ein neues Leben in Santo Domingo, ein Kaminfeuer im Polizeiverhör und Michael Kohlhaas 1989 - Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

(lifePR) (Pinnow, )
Kleist und Neutsch, Heinrich von Kleist und Erik Neutsch – wie passt das zusammen? Das passt sogar besser als man auf den ersten, vielleicht etwas irritierten Blick glauben möchte. Aber in der erstmals 1808 als Fragment und erstmals 1810 in vollständiger Fassung veröffentlichten Novelle von Heinrich von Kleist und in der 179 Jahre später geschriebenen Erzählung „Claus und Claudia“ von Erik Neutsch geht es um dasselbe Thema – um Gerechtigkeit. Nachzulesen bei Kleist und im vierten der fünf aktuellen digitalen Sonderangebote, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 20.05. 22 – Freitag, 27.05. 22) zu haben sind – ein starkes, damals vieldiskutiertes Stück Neutsch.

In „Der Resident“ setzt Wolfgang Schreyer seine „Dominikanische Tragödie“ fort. Der Resident, das ist der neue US-Botschafter in der Dominikanischen Republik. Der dort 1962 seinen Dienst antritt. Sein Name: Henry W. Mitchell, 44. Er will die Dominikaner Demokratie lehren. Noch ist Präsident Kennedy am Leben …

In dem Krimi „Die letzte Zeugin“ von Heiner Rank hat Oberleutnant Heym anfangs ein Problem: Er hat einen Fehler gemacht und die falsche Frau als mutmaßliche Mörderin verhaften lassen. Aber dann greift er zu einem kleinen Trick …

Leibarzt am sächsischen Königshaus“ – so unspektakulär lautet der Titel des Romans von Wolfgang Licht. Es geht um Carl Gustav Carus, Arzt, Maler und Naturforscher, der 1827 überraschend in dieses hohe Amt berufen wird und drei Königen hintereinander dient.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Einige der Texte in dem heute präsentierten Buch bewegen sich im Spannungsfeld von Herkunft und Zukunft, beladen das Lebensschiff mit wichtigen Erinnerungen, die dem Vergessen widerstehen. Denn Vergessen birgt immer auch die Gefahr, frühere Fehler zu wiederholen und frühere Erfolge geringzuschätzen. Beides wäre fatal. In diesem Sinne lohnt sich besonders die Lektüre der letzten und zugleich wohl kürzesten Erzählung des heute präsentierten Buches – „Zeitzeuge des vorigen Jahrhunderts: Bruno Beye“. Das ist ein gleichsam stenografisches Porträt eines Künstlers, der 1945 etwas über fünfzig Jahre alt war und ein spannendes Stück Leben hinter sich hatte, in dem er sogar mal als eventueller Kultusminister einer deutschen Räteregierung im Gespräch und anders aus dem Ersten Weltkrieg herausgekommen war als er hineingekommen war – aus einem begeistertem Kriegsfreiwilligen der Generation Ernst Jünger war ein Kriegsgegner geworden. Übrigens anders als der Fremdenlegionär, Offizier und „In Stahlgewittern“-Autors Ernst Jünger. Aber zurück zu BB, über den es hieß, dass er in seinem Todesjahr 1976 noch so viele Ideen für Bilder gehabt habe, dass sie für ein weiteres Leben gereicht hätten. Und wer jetzt neugierig auf diesen Menschen und Künstler geworden ist, der sollte zu dem ebenfalls bei EDITION digital angebotenen Buch „B.B., der Augenmensch. Gedanken über den Maler Bruno Beye“ von Heinz Kruschel greifen, das mit den folgenden Sätzen beginnt: „Er lebt nicht mehr. In seinem letzten Lebensjahr besuchte ich ihn jeden Monat einmal. Er lag da und erzählte. Er konnte wunderbar erzählen und seine Erinnerungen artistisch modifizieren.“ Aber nochmal zurück zum heutigen FFF-Vorschlag:

Erstmals 2001 erschien im Geest-Verlag Ahlhorn „Ihr wilder Mut. Erzählungen“ von Heinz Kruschel: 18 Erzählungen aus dem Jahre 2001 zeigen mit psychologischer Gründlichkeit Schicksale, Fehler und Schwächen, die Wünsche und Sehnsüchte von Menschen im 20. Jahrhundert auf: Die Erinnerung des Großvaters an ein Ereignis in der Kindheit, für das er sich noch immer schämt; die infame Intrige einer 13-Jährigen, die sich in ihren Lehrer verliebt hat; die teilnahmslose Anteilnahme einer Bäuerin am langsamen Sterben des ungeliebten Mannes; die Liebe eines einsamen Kindes zum Hund der Tante; die Flucht eines Jungen aus einem zerstrittenen Elternhaus; die rührende Anteilnahme eines Mädchens an einem Verwahrlosten, der aus der Weihnachtsmesse geworfen wurde; der grenzenlose Mut eines glücklich verliebten Mädchens; ein die Angst besiegendes Mädchen; das Verhältnis der Menschen zu den Tieren, zu andersartigen Menschen, zu Älteren und Sterbenden. Die Erzählungen sind so vielschichtig und spannend wie das Leben. Hier ein erster Eindruck, der Anfang einer dieser 18 Lebensgeschichten:

Mutschekiepchen

Hermann ist sieben Jahre alt und kommt in die zweite Klasse. Er kann schon ANTON HAUT ANNA schreiben und PAPA LIEBT LILO. Von seiner Lehrerin wird er gelobt, aber von den Eltern nicht, denn Tante Lilo wollte früher einmal seinen Vater heiraten.

Hermann mag in seiner Klasse besonders Lari, die Lari aus Russland, die eigentlich Larissa heißt und neben ihm sitzt. Wenn sie die Schultreppe hinaufgehen, ist er immer hinter ihr und berührt sie manchmal.

Sie mag das nicht und wird rot.

Er hilft ihr in die Jacke.

Manchmal verdreht sie die Augen. Auch ihre Augen sind hübsch. Alles an ihr ist hübsch. Sogar ihre Schrift, findet Hermann.

Mit Hermann vertragen sich eigentlich alle, auch die Lehrerinnen mögen ihn. Wenn sich eine Lehrerin über ihn beschwert, bekommt er zu Hause von seiner Mutter einen leichten Backenstreich. Dem Vater verrät sie nichts. „Hast mal wieder nicht aufgepasst“, sagt sie dann, „warst vorlaut wie so oft, ach, Hermann.“

Eines Tages fährt er mit den Eltern zur Großmutter. Sie hat Geburtstag. Als er aus dem Auto aussteigt, stürzt er kopfüber auf das Pflaster. Alle schimpfen mit ihm.

Dabei wollte er doch nur ein Mutschekiepchen retten, das auf dem Pflaster krabbelte und nicht totgetreten werden sollte.

Ein Marienkäfer mit sieben Punkten und ohne Komma. Hermann hält es in der Faust und will es den Erwachsenen zeigen und erzählen.

Aber die hören ihm nicht zu. Sie reden alle auf ihn ein. „Musste das wieder sein, Hermann? Und die schönen neuen Sachen! Und du blutest ja! Komm rasch ins Haus. Hoffentlich gehen die Flecke raus. Was denkst du dir bloß dabei, Hermann?“

„Immer dasselbe mit dir. Bist eben unser kleiner Zwerg, ach.“

Hermann hört einfach weg.

Am Nachmittag geht er zu Tante Lilo. Sie sitzt in der Sonne auf dem Hof und beschriftet Gläser, in die sie Marmelade eingefüllt hat. Ihr wird er alles erzählen.

Sie sagt: „Nun sieh dir das an, du isst doch auch so gern Marmelade, hier habe ich Sauerkirsche und Pflaume und sogar die gemischten, willst du mal kosten, Hermann, koste doch mal.“

Hermann sagt: „Ich wollte sagen, dir erzählen ...“

„Welche du am liebsten isst, wolltest du sagen, Pfirsich, weiß ich doch, mein Junge, aber diesmal habe ich ganz neue Sorten, koste doch mal, schmeckt das nicht besser als die aus dem Aldi, aber Arbeit macht das, sag ich dir ...“

Hermann hat immer noch das Mutschekiepchen in der Faust und geht zu dem Pfirsichbaum, an dem er eine lebendige Straße von wimmelnden Blattläusen sieht. Er setzt das Käferchen ab, es beginnt gleich zu laufen, den Blattläusen nach. Die frisst es für sein Leben gern.

Am späten Nachmittag trifft er Anton und Anna, das alte Ehepaar aus ihrem Hause. Sie sind neunzig Jahre alt und stützen sich gegenseitig. Hermann begrüßt sie und sagt: „Das Mutschekiepchen, wisst ihr, es war, es wäre doch, da auf der Straße, ich musste doch ...“

„Die Kinder, sie haben es heutzutage auch nicht leicht“, sagt Anna zu Anton. Und fragt laut, ob Hermann denn auch Kreisel spielen könne, das würde er gern mitspielen. Anton lebt manchmal in einer anderen Zeit.

„Der Siebenpunkt“, sagt Hermann, „und die Tante Lilo und die Blattläuse, ob denn Mutschekiepchen noch lebt?“

„Der Kleine ist ja völlig durcheinander“, sagt Anna, „schlimm, aber wir hatten damals wirklich alle einen Kreisel, da hat der liebe Anton recht ...“

Da ist Hermann, als schwebe durch seinen Kopf ein Schwindel, so wie auf dem Riesenrad.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:

Erstmals 1973 erschien im Mitteldeutschen Verlag Halle – Leipzig der 2. Band dessen „Dominikanischen Tragödie“ von Wolfgang Schreyer unter dem Titel „Der Resident“: Santo Domingo, 1962: nur drei der Trujillo-Attentäter haben den Untergang des barbarischen Regimes erlebt. Sie schicken sich an, auch den alten Familien die Macht zu entreißen - kühn, um dem Land zu dienen, oder selbstsüchtig, skrupellos. Da kommt auf die karibische Insel der neue US-Botschafter, ein Amateurdiplomat und Mann John F. Kennedys. Im Geiste der „Allianz für den Fortschritt“ will Henry W. Mitchell den Streit schlichten, die Dominikaner Demokratie lehren.

Industriegigant und Bananenrepublik - zwei Welten prallen aufeinander, beide vital, doch zerrissen und defekt. Washington sucht die Entwicklung zu steuern, elegant und energisch ein südliches Schaufenster zu errichten, das die kubanische Herausforderung überstrahlt. Wird dem Botschafter dies glücken? Trotz privater Sorgen ist er ein Mann von bedeutender Schlagkraft, Redlichkeit und Frische. Gewinnt er diesen Mehrfrontenkrieg - den Kampf gegen die revolutionäre Stimmung, gegen das Komplott der Superreichen und seine internen Feinde? Das Buch zeigt Menschen mit ihren Hoffnungen und Begierden, der uralten Jagd nach Glück, Reichtum, Liebe, Karriere, Befriedigungen jeder Art ... Eingepfercht in Machtmechanismen und das Geflecht persönlicher Verstrickung. Die Ereignisse zeichnet es nach Dokumenten und der Erinnerung von Augenzeugen; und zwar sehr farbig, ohne eine Spur von Schwarzweiß.

Von den tropischen Schauplätzen führt der Roman bis in den obersten Stock des State Departements und in das Weiße Haus. Seine Kraft liegt in der Verknüpfung politischer Abläufe mit dem Schicksal der Handelnden, ihrem seelischen Mikrokosmos, umbrandet vom Strom der Zeit. Das packt wie die Dramatik des abenteuerlichen, hier so kühl und wahrhaftig erzählten Geschehens. Hier der Beginn dieses wie immer bei Schreyer akribisch recherchiert und mit guter Beobachtungsgabe und akribischer Recherche geschriebenen Buches – etwas Ungewöhnliches war am Vortag geschehen:

Erstes Kapitel

1

Als Henry W. Mitchell an jenem sonnigen Märzmorgen in den Wagen stieg, einen schwarzsilbernen Cadillac mit pompösen Heckflossen, war es schon recht warm. Wohl hatten die Zeitungen gewarnt: Achtung, Kälte, Nachttemperatur um 14 Grad! Aber solche Zahlen bedeuteten in Santo Domingo stets Celsiusgrade über Null. Er musste sich eben daran gewöhnen, die Presse gewissenhaft zu lesen, ganz anders als zu Hause in den Staaten; und zwar in jeder Hinsicht. An so vieles musste er sich jetzt gewöhnen! Hier begann ja ein neues Leben. Der diplomatische Dienst verlangte Selbstzucht, kühlen Realismus. Aber was für ein Genuss, Einfluss zu haben, als Staatsmann zu handeln und den Wirkungen nachzuspüren. Für einen Mann wie ihn, den Schreibtischarbeiter – scheinbar dazu bestimmt, im Hintergrund zu bleiben –, war dies vielleicht das Höchste.

Mitchell war 44, sah aber jünger aus durch das volle wellige Haar oder seine impulsive, verbindliche Art zu reden. Er hatte noch nie im Staatsdienst gestanden. Zeit seines Lebens war er Publizist gewesen, ein liberaler Intellektueller. Ungezählte Berichte und Magazingeschichten hatte er verfasst, dazu Bücher über den Strafvollzug, die Rassenfrage und den Bürgerrechtskampf; viermal war ihm der Benjamin-Franklin-Preis für den besten Artikel des Jahres verliehen worden. Er war Adlai Stevenson und John F. Kennedy in den Wahlkampf gefolgt. Und nun, dreizehn Monate nach Kennedys Amtsantritt, ging er als Botschafter in ein Land, das er von zwei Reisen her ein wenig kannte... Es war Freitag, der 9. März 1962. Die Vereidigung in Washington lag eine Woche zurück, seine Ankunft hier fünf Tage. Und doch war schon so viel geschehen, was seine Erwartungen enttäuscht oder auf bizarre Art übertroffen hatte.

Zu seiner Linken saß ein schlanker, brünetter Mann, der Chef des dominikanischen Protokolls. Der war mit sechs Regierungswagen in der Calle Leopoldo Navarro vorgefahren, um ihn und zehn seiner Gehilfen von der Residenz abzuholen. Wagen ohne Regierungsnummer, geschützt durch Sicherheitsbeamte. Sie mieden den kürzesten Weg zwischen der Botschaft und dem Nationalpalast, huschten ohne Eskorte durch das Lugo-Viertel. Denn am Vortag hatten Aufrührer mehrere Autos der Botschaft und auch des Konsulats zerstört, sogar Mitchells eigenen Wagen. Die Kolonne glitt hastig vorbei an weißen Gartenmauern, an den Barockfassaden der Villen. Polizisten verschafften ihr überall freie Fahrt – mit winzigen Gebärden, die daheim eher das Gegenteil bedeutet hätten: die Handfläche zum Fahrer ausgestreckt, die Finger gekrümmt, als ob sie einen Apfel hielten, das hieß weiterfahren. Passanten blieben stehen, starrten den Limousinen nach. Das war die neue Freiheit, libertad nueva; zu Trujillos Zeiten hätte niemand es gewagt, Staatspersonen anzustarren, da hielt man den Kopf gesenkt. Und überall, auf Mauern, Bordsteinen und Bäumen, die Parolen der Parteien. Auch das war libertad: Trujillo hatte nur eine Partei gekannt – seine eigene.

In Mitchells Brusttasche steckte das Beglaubigungsschreiben. Ein bedeutsames, doch schwerlich ganz ernstzunehmendes Dokument. Er hatte, gedrängt von Caroline, schon im Flugzeug die Durchschrift gelesen, beeindruckt und belustigt. Ein Hauch des 18. Jahrhunderts entstieg dem formelhaften Brief. Er trug Präsident Kennedys Unterschrift und sprach dessen Überzeugung aus, dass Henry Walter Mitchell fähig sein würde, sowohl die Interessen der Vereinigten Staaten als auch die der Dominikanischen Republik zu wahren. „Hoffentlich hat er recht“, hatte Mitchell zu Caroline gesagt... Und während man schon den Palasthügel hinauffuhr, fiel ihm ein, wie der siebenjährige Steve seine Ernennung aufgefasst hatte: „Du wirst Botschafter? O Daddy! Da reitest du auf einem Pferd und überbringst wichtige Briefe...“ Nun, im Prinzip hatte Steve schon recht gehabt.

Frank A. King stieg als erster aus, wie stets. Obwohl innerhalb der vier Meter hohen Palastumfriedung nichts mehr zu befürchten war, sah er sich rasch um; eine tief sitzende Gewohnheit. Der Schutz des Botschaftspersonals oblag ihm auch dann, wenn ganz andere dafür verantwortlich waren. Die Auffahrt glühte, flirrende Luft, grelle Reflexe – drei Jahre in diesem Land hatten ihn gegen die Hitze nicht unempfindlicher gemacht. Außerhalb klimatisierter Räume litt er wie am ersten Tag. Sein weißer Leinenanzug, frisch gestärkt, lag ihm wie eine Rüstung aus Sperrholz an. Er wünschte das Ende der Zeremonie herbei; dreißig Minuten sollte sie dauern. In Washington lag die Norm für Antrittsbesuche bei weniger als zehn Minuten. Dort trugen die Botschafter und auch der Präsident ihre Reden nicht vor, sondern tauschten nur die vorbereiteten Texte aus, was die Sache abkürzte. Hier aber hörte man sich gern reden.

Vor ihm schritt Mitchell zur Rechten des Protokollchefs an einem der Bronzelöwen vorbei über die gleißenden Marmorstufen, deren es 28 gab. Neben und hinter King gingen fünf weitere Zivilbeamte der Botschaft, der Leiter der US-Militärmission und die Attachés der drei Waffengattungen. Man hielt nicht gerade hervorragende Ordnung, es hatte nur eine Probe stattgefunden, aber im Ganzen klappte es doch. Je höher man stieg, desto näher rückten die Schatten der pfirsichfarbenen Nordwestfront (italienische Renaissance in Portlandzement, ein Gräuel). Vor den Säulen angelangt, drehten sich alle um, standen steif und still im rettenden Seewind, der hier oben kräftig blies, hörten die Fahnen flattern und sahen unten am Gitter den Dirigenten der Militärkapelle salutieren: ein aufgeputzter Major, sein Degen blitzte in der Sonne und die ersten Takte der Nationalhymne wehten dumpf herauf.

Eines war kaum zu übersehen: Für einen Mann, der ohne Übung im öffentlichen Auftreten war, machte der Botschafter es gar nicht schlecht. Er bewegte sich natürlich und stand auch gut, ganz unverkrampft. Es fehlten all die nervösen Gesten, die John Hill, der scheidende Geschäftsträger, so reichlich produzierte, wenn er sich zur Schau stellen musste.“

In der bekannten und beliebten DIE-Reihe des Verlages Das Neue Berlin (Delikte, Indizien, Ermittlungen) veröffentlichte Heiner Rank erstmals 1976 seinen Krimi „Die letzte Zeugin“: Oberleutnant Heym hat Zweifel. Aufgrund von Indizien musste er eine Frau unter dem Verdacht des Mordes verhaften. In ihrer Wohnung war Wolfgang Hellberger an einer Tablette, die sein Herz nicht vertrug, verstorben. Sie wusste, dass er an diesen Tabletten sterben würde, die ihr Arzt ihr verschrieben hatte. Die Beweise sind erdrückend. Und trotzdem zweifelt Heym. Er hat jemand anderen in Verdacht. Doch Verdacht allein genügt nicht. Es gibt nur einen Weg, die wahre Mörderin zu überführen. Dazu muss er alle Zeugen noch einmal verhören und Staatsanwalt Sommerfeld den Beweis liefern, dass seine Vermutungen richtig waren.

Die Zeuginnen sitzen im Vorzimmer des Staatsanwaltes und warten auf das Verhör. Es sind alles Frauen, denn der Ermordete hatte so seine Geheimnisse. Und eine von ihnen ist die Mörderin und wähnt sich noch in Sicherheit. Lassen wir den Staatsanwalt zu Wort kommen und – Oberleutnant Heym:
  1. Kapitel
„Meine Geduld ist zu Ende!“ Staatsanwalt Sommerfeld klappt energisch seinen Terminkalender zu. „Seit drei Wochen sitzt die Frau in Untersuchungshaft. Bei jedem Haftprüfungstermin haben Sie mir versichert, Sie stünden kurz vor der Lösung. Aber wie ich sehe, sind Sie mit diesem Fall nicht einen Schritt weitergekommen!“ Sommerfeld wirft den Kalender auf den Schreibtisch, lehnt sich zurück und schweigt.

Der Mann, an den die Worte gerichtet sind, antwortet nicht. Er nickt nur leicht, auf den Lippen ein dünnes Lächeln. „Als Staatsanwalt bin ich nicht nur Ankläger“, sagt Sommerfeld, und sein Ton klingt ein wenig freundlicher. „Ich habe für die Einhaltung unserer Rechtsnormen zu sorgen. Frau Ballhorn wird heute entlassen, und wenn Sie sich auf den Kopf stellen, mein lieber Heym. Was Sie als stichhaltige Fakten bezeichnen, überzeugt mich nicht.“

„Mich auch nicht.“

„Wie bitte?“

„Es ist doch ganz einfach.“ Oberleutnant Heym breitet entschuldigend die Hände aus. „Ich habe mich geirrt. Gleich zu Beginn meiner Untersuchung ist mir ein Fehler unterlaufen. Ich habe also noch einmal von vorn angefangen und die richtige Lösung gefunden.“

„Tatsächlich?“ Sommerfeld lächelt matt. Den Wunsch, eine spöttische Bemerkung zu machen, unterdrückt er. Er weiß, seinem Partner ist damit nicht beizukommen. Ironie läuft an diesem Menschen ab wie Wasser an einer Ente.

„Ich habe die fünf Zeuginnen noch einmal vorgeladen“, fährt Heym fort. „Ich bin ganz sicher, dass es mir gelingt, die Schuldige zu überführen. Falls Sie keine Einwände gegen meinen Plan erheben. Ich brauche nämlich Ihre Hilfe.“

Sommerfeld schweigt und betrachtet sein Gegenüber. Ein rundes, jugendliches Gesicht. Blondes, schon etwas schütteres, zu lustigen Locken geringeltes Haar. Randlose Goldbrille. Ein freundliches, ja verschmitztes Lächeln, das auf die Neigung hindeutet, den Genüssen des Lebens nichts schuldig zu bleiben. Wildlederjacke, brauner Pullover, graue Hose mit korrekten Bügelfalten. Kein Mensch würde in diesem netten jungen Mann die fast kriminelle Fantasie vermuten, mit der er sich in die Gedankengänge und Empfindungen seiner Gegner einschleicht. Dazu eine Ausdauer, die an Sturheit grenzt. Aber das ist schon nicht mehr Sache der Persönlichkeit, das gehört zum Beruf. Wer keine Ausdauer hat, darf seine Zivilklamotten reinen Gewissens an den Nagel hängen und zum Streifendienst zurückkehren.

„Na gut“, seufzt Sommerfeld. „Sie haben mich tatsächlich neugierig gemacht. Und das wollten Sie ja auch, nicht wahr? Also entwickeln Sie mal Ihren Plan.“

Heym erhebt sich, öffnet die Tür und gibt einen Wink ins Vorzimmer.

Ein Volkspolizist schleppt eine Kiepe voll Birkenholz herein.

Heym stellt den Kaminschirm zur Seite. Er zieht aus seiner Aktentasche Zeitungspapier, Kohlenanzünder, Streichhölzer, knüllt das Papier zusammen, stopft es in den Kamin.

„Was soll das? Was treiben Sie da?“, fragt Sommerfeld beunruhigt. „Wollen Sie eine Brandstiftung demonstrieren?“

„Ich brauche Feuer. Falls die Täterin hartnäckig leugnet, kann ich sie vielleicht mit einem kleinen Trick zum Geständnis bringen.“

„Sind denn Ihre Beweise so mager, dass Sie diese zweifelhafte Methode nötig haben?“

„Was ich habe, sind Indizien. Ohne Geständnis reichen sie vor Gericht nicht aus. Das wissen Sie doch besser als ich.“

„Finden Sie nicht selbst, Genosse Heym, dass so ein Kaminfeuer etwas merkwürdig aussieht? Wir sind hier in einem Dienstzimmer und nicht im Ferienheim.“

„Warum darf sich ein Staatsanwalt nicht ein Kaminfeuer leisten, wenn die Zentralheizung kaputt ist? Es gibt doch gewiss keinen Zweifel, dass Sie in der Lage sind, diesen Sachverhalt überzeugend glaubhaft zu machen. Nur für den Fall, dass jemand dumme Fragen stellt.“

„Ich beneide Sie um Ihren Optimismus. Aber reden wir überhaupt noch von der gleichen Sache? Ist es der Fall Hellberger, den Sie heute lösen wollen?“

„Er ist es.“

„Schön. Sie sagen, Sie hätten jetzt die richtige Lösung. Soll das heißen, dass Sie Frau Ballhorn nicht mehr für die Täterin halten?“

”Ja.“

„Aber es gibt noch den Tatbestand, dass Wolfgang Hellberger in der Wohnung der Frau Ballhorn an einer Medikamentenvergiftung starb?“

„Ja“

„Gilt noch, dass er der Geliebte der Frau Ballhorn war?“

„Ja.“

„Und dass sie triftige Gründe zur Eifersucht hatte?“

„Ja“

„Und dass sie im Besitz des tödlichen Medikaments war?“

„Ja“

„Und schließlich, dass sie erst zwölf Stunden nach Hellbergers Tod den Arzt rief?“

Heym nickt und scheint ganz davon in Anspruch genommen, die Birkenscheite im Kamin aufzuschichten.

„Waren diese Fakten“, fragt Sommerfeld hartnäckig weiter, „waren diese Fakten und die Lügen der Frau Ballhorn die Begründung der Kriminalpolizei für den Haftbefehl, den ich Ihnen unterschrieben habe und mit dem Sie die Frau in Untersuchungshaft brachten?“

„Ja.“

„Sind Sie im Besitz von Beweismitteln oder Zeugenaussagen, die an diesen Fakten etwas ändern?“

„An diesen Fakten ist nichts zu ändern.“

„Und trotzdem bilden Sie sich ein“, sagt Sommerfeld entrüstet, „Sie könnten heute eine andere Frau der Tat überführen?“

„Allerdings.“

„Dann erklären Sie mir das, zum Teufel!“

„Es wird sofort geschehen.“

Heym entzündet ein Streichholz und hält es an das Zeitungspapier. Er betrachtet einige Augenblicke die Flammen, die knisternd durch den Holzstoß züngeln, reibt sich zufrieden die Hände und wendet sich dem Staatsanwalt zu.“

Erstmals 1989 erschien im Mitteldeutschen Verlag Halle die Erzählung „Claus und Claudia. Nach neueren Dokumenten“ von Erik Neutsch, die auf Wunsch des Autors nicht auf neue Rechtschreibung umgestellt wurde: In Paris erreicht den DDR-Diplomaten Claus Salzbach die erschütternde Nachricht, dass seine Tochter Claudia eine tiefe Nervenkrise durchlebt. Sofort kehrt er in die Heimat zurück, doch womit er dort konfrontiert wird, erscheint ihm zunächst unglaubhaft: An der medizinischen Fachschule, an der Claudia studiert, werden Erziehungsmethoden praktiziert, die von erstarrtem Denken und Herzlosigkeit der Lehrkräfte zeugen, bis zu Verdächtigungen und Drangsalierungen gegenüber den Schülerinnen reichen und gegen die sich seine Tochter vergebens gewehrt hat.

Salzbach, wie weiland Michael Kohlhaas, beginnt um die Gerechtigkeit in der Beurteilung junger Menschen zu kämpfen, doch auch er stößt auf Anmaßung, Opportunismus, gar Feigheit. Als er schließlich Verbündete findet und die unhaltbaren Zustände an der Fachschule untersucht werden - welche Chancen hat da Claudia noch, ihre Krise zu überwinden?

Wie schon in seinen vorherigen literarischen Arbeiten zielt Erik Neutsch mutig und kritisch auf wesentliche moralische Fragen der DDR-Gesellschaft, wobei er den Leser auffordert, darüber mitzubefinden – ein ergreifendes, durchaus aktuelles Buch. Lassen wir uns darauf ein:

1. Kapitel

Der Mann, um dessen Schicksal es hier geht, um seines und das seiner Tochter, Claus Salzbach mit Namen, lebte seit Jahren im Ausland. Er stand im diplomatischen Dienst und war zuletzt im Auftrage der Regierung am Sitz der Unesco in Paris tätig.

Alle Leute, sowohl seine Vorgesetzten als auch jene, die sonst mit ihm zu tun hatten, kannten ihn als einen bescheidenen, verläßlichen, jederzeit seine Aufgaben gewissenhaft erfüllenden Menschen. So hatte er international die Republik stets würdig vertreten und ihr Ansehen durch sein entschlossenes und aufrichtiges Verhalten in aller Augen gestärkt. Dafür war ihm auch schon öffentliche Anerkennung zuteil geworden, verbunden mit Auszeichnungen und Orden.

Eines Tages aber, im vorletzten Herbst erst, ging ein heiliger Zorn mit ihm durch, und zwar von solcher Gewalt, daß er mit einem Schlag alle ihm auferlegten Konventionen mißachtete und zum Selbsthelfer wurde. Unerklärlich blieb lange, warum es ausgerechnet ihn, die Bedächtigkeit in Person, zu einem solchen Ausbruch der Gefühle hatte treiben können, und so soll auch hier nach den Gründen gefragt werden, wie es dazu kam.

Er selbst war nach allem nicht mehr bereit, Auskunft zu geben, doch ein Bündel von zahlreichen Dokumenten, Aktennotizen und Protokollen gewährt genügend Einblick, um die Geschichte zu rekonstruieren.

[*] Kapitel

Er ging mit Claudia durch den Park. Der Altweibersommer spann seine Fäden, und hier und dort färbte sich das Laub der hohen Birken und Buchen bereits gelb, rot und samtig braun. Auf dem See schwammen schwarze Schwäne.

Claudia aber, merkte er, wandelte im Augenblick neben ihm her wie geistesabwesend. Sie gewahrte das alles nicht, das Feuer im Blattwerk von Bäumen und Büschen, die Schwäne, auch den strahlend blauen Himmel nicht. Sie klammerte sich an seinen Arm und wiederholte des öfteren, mit zittriger und doch tonloser Stimme, die Sätze: „Ach, Vati, Vati, weißt du... Wie gut, daß du gekommen bist. Sie wollen mich fertigmachen ...“

So hatte er sie nicht in Erinnerung, sie, wie er stets geglaubt hatte, mit der fröhlichen, unbefangenen Art, sich dem Leben zu stellen, vergleichbar in dieser Hinsicht, diesem Charakterzug nur noch mit ihrer Mutter. Martina, dachte er mit einem Mal, das Bild seiner Frau vor Augen, als er seine Tochter prüfend von der Seite betrachtete, warum mußtest du von mir gehen, mich allein lassen, jetzt, wo ich deine Hilfe vielleicht am meisten gebrauchen könnte.

Sie war hübsch. Das hatte er jedesmal mit einem gewissen väterlichen Stolz konstatiert, wenn er Claudia ins Gesicht sah. Ihr dichtes und dunkles Haar fiel bis auf die Schultern. Ihre schön geschnittenen Züge in dem Oval, die Lippen, die Stirn, die klaren Augen - auch das erinnerte ihn an Martina. Doch sobald sie ihn jetzt anschaute, sprach aus ihrem Blick, ihren graugrün umrahmten Pupillen längst nicht mehr jene unschuldsvolle, fast schon naive Offenheit von einst, sondern eher eine tiefe, verzweifelte Traurigkeit.

Was bloß konnte er dagegen tun? Nein, sie war es nicht mehr. Claudia, das Ebenbild ihrer Mutter. Blaß wirkte sie jetzt, ihre Schlankheit zerbrechlich. Es überkam ihn, sie fest in die Arme zu nehmen, an seine Brust zu pressen und sie seine Wärme spüren zu lassen - wie früher als Kind. Am schwersten wohl fiel ihm, sich damit abfinden zu müssen, daß sie nun selbst eine Frau war mit ihren zweiundzwanzig Jahren und einem bitteren Leben schon hinter sich.

Nervenzusammenbruch - so lautete die Diagnose. Deshalb war sie in die Klinik für Neurologie der Universität in W. eingeliefert worden.

Claus Salzbach hatte vor einer Stunde erst mit dem Arzt gesprochen, der sie behandelte.

„Wie gut, daß Sie sich haben frei machen können ...“ Worte, wie er sie ähnlich nun auch von Claudia hörte. »Ihre Tochter ist ein sehr bewußt lebender Mensch. Um so rätselhafter erscheint es mir, warum sie zu den Tabletten griff. Nein, nein, nur ein angedrohter Suizid war es nicht, eher freilich ein Versuch im Affekt. Als künftige Hebamme aber wußte sie um die Folgen. Danken Sie daher Gott oder wem sonst, daß ihre Großeltern sofort die Schnelle medizinische Hilfe alarmierten. Wir pumpten ihr den Magen aus. Aber damit ist ja nicht ihr Konflikt, den sie unbestreitbar mit sich herumschleppt, aus dem Blut. Herr Salzbach ... Wenn ich Sie bitten darf ... Nach Ihrem Spaziergang im Park. Melden Sie sich noch einmal bei mir. Vielleicht erhalten wir dadurch tiefere Aufschlüsse. Prüfungsangst? Die Enttäuschung, in zwei Fächern letztens nur mit einer Vier bestanden zu haben? Das allein kann es doch wohl nicht sein. Nicht bei einer solch intelligenten jungen Frau ...“

Fast auf den Tag genau zwölf Monate hatte er sie nicht mehr gesehen. Denn nur einmal im Jahr wurde ihm Urlaub gewährt, den er dann stets dazu nutzte, nach Haus zu reisen, in die Republik. In Vietnam und Ägypten hatten sie Claudia noch ständig bei sich gehabt. Sobald jedoch die Kinder von Diplomaten das vierzehnte Lebensjahr erreicht hatten, so wollten es die unerbittlichen Vorschriften, war es ihnen für gewisse Länder nicht mehr gestattet, ihre Eltern dorthin zu begleiten. Claudia hatte eine Internatsschule besucht, in der sie aber unter der Trennung von Mutter und Vater so sehr litt, daß sie in ihr nicht leben konnte. Martinas Eltern nahmen sich ihrer an. Sie zog zu ihnen, und auch jetzt, nach ihrer Scheidung und trotz eigener Wohnung, quartierte sie sich oft bei ihnen ein, zumal sie fortan ihren Sohn betreuten, um ihr das Praktikum mit dem unregelmäßigen Schichtdienst zu erleichtern. Vor fünf Jahren zum letzten Mal hatten er und seine Frau wenigstens noch mit ihr, da sie erst siebzehn war, somit nicht volljährig, den Urlaub gemeinsam in Frankreich verbringen dürfen. Er entsann sich deutlich. In Honfleur am Kanal, in dem kleinen Restaurant in der unmittelbaren Nähe der uralten Holzkirche, beim Essen der Fruits de la mer und beim Wein, da hatte sie ihnen gestanden, daß sie verliebt sei und bald heiraten möchte.

„Sie wollen mich fertigmachen ...“, sagte sie jetzt. Mit dieser Behauptung verband sie zugleich unglaubliche Geschichten, Erlebnisse jedenfalls, die Claus nicht für möglich hielt, zumindest für übertrieben ihrerseits. Frau Baumholder, erzählte sie, die Leiterin der Abteilung Hebammenausbildung an der Medizinischen Fachschule, die der Universität in W. angeschlossen ist, Parteimitglied obendrein wie sie, habe es besonders auf sie abgesehen, betrachte jede Regung, jede Äußerung von ihr wie unter der Lupe und scheine nur auf einen Fehler von ihr zu warten.“

Erstmals 1998 erschien im Tauchaer Verlag „Leibarzt am sächsischen Königshaus“ von Wolfgang Licht: Im Jahre 1827 wird Carl Gustav Carus, Arzt, Maler und Naturforscher, überraschend zum Leibarzt am sächsischen Königshaus berufen. Vier Jahrzehnte lang liegt die Gesundheit der königlichen Familie in seinen Händen. Ein faszinierender Einblick in die Erlebnisse des „geheymen Medicinalraths“ und seinen Dienst bei Hofe unter den Königen Anton, Friedrich August II. und Johann. Und so hat alles begonnen:

DIE ERNENNUNG

Am 31. Mai 1827 starb in Dresden Friedrich August I. (geb. 1750) „der Gerechte“, seit 1806 König von Sachsen. Sein nur wenig jüngerer Bruder Anton (1755-1836) wurde neuer Herrscher. Zur gleichen Zeit hatten zwei Leibärzte ihr Amt aufgegeben. An einem Septemberabend dieses Jahres fand Carl Gustav Carus auf dem Schreibtisch seines Arbeitszimmers in der Klinik einen Brief seines älteren Kollegen Friedrich Ludwig Kreysig vor. Der Professor schrieb ihm, dass er beauftragt sei, Carus eine der frei gewordenen Leibarztstellen anzutragen; die zweite sei für Kreysigs Neffen Leopold Francke, ebenfalls Professor an der Akademie, vorgesehen. Carus fuhr sich mit einer Hand ins Haar. Er war höchst überrascht, voller Freude. Er trat ans Fenster, blickte auf die jetzt dunstverhangene Elbe. Er war unsicher. Angetan vom Beweis eines großen Vertrauens der höchsten Personen des königlichen Hauses kamen ihm auch Zweifel, Bedenklichkeiten, ob er einem solchen Amte vorstehen sollte. Schon eine längere Zeit hatte er erwogen, seine Professur für Geburtshilfe an der Akademie und die Direktion des Entbindungsinstituts niederzulegen. Er hatte diese Arbeit zunehmend als Bürde empfunden, war ihrer überdrüssig geworden. Nun wurde ihm eine erfreuliche Zukunft vorgestellt. Würden ihm aber die strengen Regeln am Hofe, die Zeremonien, die vielfältigen Beschwernisse der Leibärzte, von denen er hatte reden hören, nicht neue Beschränkungen auferlegen? Er dachte an Goethe, mit dem er Briefe wechselte, wissenschaftliche Arbeiten austauschte, der ihn auch als Künstler schätzte. Goethe - ein Vor- und Leitbild seiner eigenen Lebensgestaltung. Auch er hatte diese Entscheidung einst treffen müssen: »ob nach Hof oder nicht nach Hof«, und hatte lange das Für und Wider erwogen. Carus konnte sich heute nicht entscheiden.

Am nächsten Tage bat er Kreysig um eine Unterredung. Dem hoferfahrenen Leibarzt gelang es schließlich in einem langen Gespräch, die Bedenken von Carus zu zerstreuen. Das strenge Zeremoniell und die allzu steife Etikette hielte man unter Anton nicht mehr aufrecht, und weitere Veränderungen zum Guten stünden bevor. Carus nahm das Amt an.

Am 22. September, es war ein sonniger, fast windstiller Tag, wurden er und Francke mit Kreysig und dessen Frau in einer Kutsche an das linksseitige Elbufer nach Zschachwitz gefahren. Am Ufer hielt eine Gondel, in der sechs Ruderer in gelber und blauer Fischerlivree sich anschickten, die Ankömmlinge über den Fluss zu bringen. Als Carus, etwas steif vom Sitzen, die Kutsche verließ und die ankernde Gondel gewahrte, überkam ihn plötzlich wieder das Gefühl, sich in eine neue Abhängigkeit zu begeben. In einer gewissen Beklommenheit erlebte er die Überfahrt. Die Gondel hatte die baum- und strauchbewachsene Insel passiert und näherte sich nun dem Wasserpalais mit seinen geschweiften, an chinesische Bauweise anklingenden Dächern. Nachdem das Schiff angelegt hatte, betraten sie die anmutig geschwungene Freitreppe. Ein Höfling begrüßte die Ankommenden und geleitete sie in das behaglich eingerichtete Zimmer der Leibärzte. Schließlich erschien Graf von Vitzthum, sächsischer Minister und Geheimer Hofrat, dessen Familie zu Carus Patienten zählte, und führte ihn und Francke von Zimmer zu Zimmer, wo er sie den anwesenden Herrschaften vorstellte. Bemerkenswert fand Carus den Bruder des Königs, Prinz Maximilian, Vater der Prinzen Friedrich August und Johann. Der Hochbetagte war ein passionierter Musikliebhaber, der auch selbst immer noch musizierte. Ferner beeindruckte Carus die einäugige Gemahlin Antons, Königin Therese, eine Tochter Kaiser Leopolds, die er für eine ziemlich klar sehende Frau hielt. Anton selbst gab sich ungekünstelt. Er hoffe, sagte er in humorigem Ton, den „Doctores“ nicht viel zu tun zu geben. Und so waren sie nach einer halben Stunde entlassen ...

Carl Gustav Carus stand inmitten des mit stilvollen Möbeln eingerichteten Zimmers der Leibärzte. Er betrachtete die Intarsien an den Flügeltüren eines Schrankes. Sie zeigten geometrisch angeordnete pflanzliche und tierische Gebilde in seltsamer Verschlingung; helles in dunklem Holze. Er zog sich den Chippendale-Stuhl ans Fenster, um den Blick auf die Elbe zu haben, hoffte, in Betrachtung der besonnten Landschaft zur Ruhe zu kommen.

Unerwartet hatte sein Leben eine jähe Wendung genommen. Seine neue Stellung war ehrenvoller. Er hatte das Perpetuum mobile einer Entbindungsanstalt nicht mehr am Hause, und die Plage, zum zwanzigsten und dreißigsten Mal die Anfangsgründe der Hebammenkunst vorzutragen, war vorbei. Für seine ausgedehnte Praxis, die er ja behielt, und vor allem für seine wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeiten hoffte er, nun mehr Zeit zur Verfügung zu haben.

Carus blickte hinaus auf den vorbeifließenden Strom, die von den Wassern umspülte Insel vor dem Schloss. In den Scheiben der Fenster spiegelte sich schemenhaft sein Kopf. Sein Gesicht wie vergrößert, Linien und Furchen vertieft. Wie eine Woge überflutete ihn jetzt Erinnerung ...“

Eine der Haupteigenschaften und einer der Hauptvorzüge dieses Newsletters aus dem Hause EDITION digital ist übrigens seine Vielseitigkeit, wie Sie sicher auch schon bemerkt haben: Variatio delectat, Abwechslung erfreut, das wussten schon die Alten Lateiner. Und wir hoffen, dass Sie sich auch diesmal an der im wahrsten Sinne des Wortes der heutigen Sonderangebote erfreut haben und noch erfreuen werden, wenn Sie eines oder vielleicht sogar alle der hier zum Sonderpreis zu erwerbenden E-Books in Ihren Besitz gebracht haben. Denn Lesen kann man natürlich immer, aber besonders Sommerzeit ist Lesezeit – gewissermaßen Sommerlesezeit, denn jetzt ist es abends länger hell …

Viel Vergnügen beim Lesen und vielfältigen Begegnungen und Bekanntschaften mit anderen Menschen und Schicksalen, weiter einen schönen Mai, bleiben Sie immer noch auch weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.

EDITION digital Pekrul & Sohn GbR

EDITION digital war vor 27 Jahren ursprünglich als Verlag für elektronische Publikationen gegründet worden. Inzwischen gibt der Verlag Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) sowie Kinderbücher gedruckt und als E-Book heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Bücher ehemaliger DDR-Autoren werden als E-Book neu aufgelegt. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, mehr als 1.100 Titel. E-Books sind barrierefrei und Bücher werden klimaneutral gedruckt.

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