1997 veröffentlichte Katharina Schubert im tabu Verlag München ihren Roman „Ein blindes Pferd darf man nicht belügen“: Das Leben in der Eifel ist hart für die Bauern im frühen 20. Jahrhundert. Auch der Junge Hubert muss neben der Schule auf dem kleinen elterlichen Hof mithelfen, der die vielköpfige Familie nur knapp ernährt. Am liebsten fährt er mit Großvater Johann auf dem Hundewagen. Als sie für die tote Großmutter einen Baum pflanzen, kann Hubert sich nicht vorstellen, dass er selbst einmal ein alter Mann mit Enkeln sein wird. Doch wir können es nachlesen, Huberts Leben in dem Dorf Kambach, das keineswegs fernab des Weltgeschehens liegt und das Hubert während fast eines Jahrhunderts nur dreimal verlässt ...
Und hier ein Ausschnitt vom Beginn dieses Buches, in dem es um die Kindheit von Hubert geht und um „Bäume für die Toten“:
„Mach Platz, Hubertchen.“ Großvater Johann schob den Jungen zur Seite. Mit einem Spaten lockerte er den Boden um einen kleinen Baum, der dem Kind bis zur Nasenspitze reichte. Obwohl er noch keine Blätter hatte, wusste Hubert, dass es eine Buche war. Geschickt hob der Großvater das Bäumchen aus der Erde. „So, jetzt kannst du mit anfassen.“ Sie wollten es für die verstorbene Großmutter vor ihrem Haus einpflanzen. So war es Brauch. Zusammen trugen sie die junge Buche zum Waldweg. Dort warteten Fritz und Bello, Großvaters Bernhardiner. Sie waren vor einen vierrädrigen Karren gespannt. Als sie Großvater und Enkel kommen sahen, begannen sie zu wedeln. „Willst du zurückfahren?“, fragte der Großvater. Was für eine Frage! Hubert strahlte. Sie luden das Bäumchen auf. Dann setzte sich Hubert auf den Platz, auf dem Großvater sonst saß, und los ging die Fahrt. Es war ein schöner Frühlingstag im April des Jahres 1914. Die Sonne hatte schon richtig Kraft. Bald würden die Bäume wieder in vollem Grün stehen. Hubert schien es, als ob Eichen, Buchen und Tannen links und rechts des Weges nur so an ihnen vorbeifliegen würden. Auch den Hunden machte es Spaß. Sie liefen von ganz allein. Er musste sie nicht antreiben. „Brav, brav“, lobte er sie. Großvater Johann saß neben ihm und rauchte seine Pfeife. Hubert spürte, wie er ihn beobachtete. Aber er kannte sich aus mit Hunden, obwohl er erst sechs Jahre alt war. Das hatte er vom Großvater gelernt. Solange Hubert denken konnte, fuhr der Großvater morgens mit seinem Hundekarren vom Hof. Er kaufte bei den Bauern in der Umgebung Eier, Butter, im Sommer auch Obst und Gemüse und verkaufte alles auf dem Markt in der Kreisstadt wieder. Oder er fuhr zu den Arbeitern, die die Eisenbahnstrecke bauten. Das waren vielleicht verrückte Kerle. Große, starke Männer mit dunklen Augen und vielen Tätowierungen auf ihren Armen. Viele kamen aus Kroatien, einem fernen Land. Sie vermissten ihre Familien und fühlten sich fremd in dieser Gegend. Wenn Hubert den Großvater begleitete, freuten sie sich. Sie zeigten ihm, wie man Schienen verlegte, und versprachen, dass auch hier bald eine Dampflok fahren würde.
Inzwischen fuhr die Dampflok auf den Schienen, aber Hubert konnte den Großvater nicht mehr auf seinen Touren begleiten. Seit Ostern ging er nämlich zur Schule. Doch daran wollte er im Augenblick nicht denken. Vor ihnen lag Kambach. Als sie auf die holprige Dorfstraße bogen, nickte der Großvater dem Enkel augenzwinkernd zu. Hubert steifte sich auf das Brett. „Schneller, schneller!“ Die Hunde legten sich ins Zeug. Aus allen Ecken des Dorfes kamen Kinder angerannt. Sie liefen neben dem Karren her und feuerten die Hunde an. An der alten Linde wurden Fritz und Bello langsamer. Dann bogen sie rechts ab. Beide kannten den Weg zum Hof genau. Vor dem kleinen Haus mit seinem schiefen Dach, den winzigen Fenstern und der bröckelnden Lehmfassade stand Paula, Huberts jüngste Schwester, und popelte. „Es ist gemein, dass ich nicht mitdurfte“, beklagte sie sich, ohne den Finger aus der Nase zu nehmen. „Gib den Hunden Wasser“, lenkte Großvater Johann sie ab. Während er und Hubert die Hunde ausspannten, lief Paula zu einem Eimer, der vor dem Stall stand, und kippte Wasser in einen großen flachen Holznapf. Sofort rannten Fritz und Bello zu ihr und tranken. Paula konnte man kaum noch sehen. Sie war nicht viel größer als die beiden. Im Stall muhten Frida und Erna, die beiden Kühe. Sie warteten darauf, gemolken zu werden. Außerdem besaß die Familie Theisen noch drei Schweine, ein halbes Dutzend Hühner und Kaninchen sowie zwei Ochsen, aber die waren mit dem Vater unterwegs. Im Winter schliefen die Bernhardiner im Kuhstall. Großvater Johann mochte das nicht. Hunde, die nach Kuhmist rochen! Aber da er sie nie festband, schafften sie es immer wieder, ihn zu überlisten. Hubert ging zum Großvater, um ihm beim Einpflanzen der Buche zu helfen. Aber der war schon fertig und trat die Erde gerade fest. „Buchen werden groß und alt. Man darf sie nicht zu dicht ans Haus pflanzen. Sonst nehmen sie einem später das Licht.“ Er lächelte. „Irgendwann wirst du mit deinen Enkelkindern unter dieser Buche spielen.“
Ein autobiografischer Roman – so bezeichnete Ulrich Hinse sein erstmals 2002 im damaligen Scheunen-Verlag Kückenshagen veröffentlichtes Buch „Wer will schon nach Meck-Pomm?“: Zuerst war es der Titel, der neugierig machte. Dann war es das Bild. Ein Elefant auf dem Weg nach Mecklenburg-Vorpommern? Ein Tierbuch? Hier hat ein Polizeibeamter seine privaten und dienstlichen Erlebnisse aus den Jahren nach der Wende zu Papier gebracht. Zugegebenermaßen ein Wessi. Wer aber nun geglaubt hat, hier rechnet ein frustrierter Wessi mit den Ossis ab, liegt total falsch. Sehr offen beschreibt der Autor, bis vor etwa einem Jahrzehnt Leiter der Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamtes in Meck-Pomm, seine Beweggründe, in den Nordosten der Republik überzusiedeln. Das Buch lebt von dem Wechsel zwischen dienstlichen Erfahrungen einerseits und privaten Erlebnissen andererseits, die mit dem Umzug aus dem Rheinland in ein kleines mecklenburgisches Dorf bei Schwerin verbunden waren. In emotionaler Nähe zu den erlebten Ereignissen berichtet Hinse von den Schwierigkeiten, Befremdlichkeiten, aber auch von lustigen Begebenheiten, die sich in den mehr als zehn Jahren seit der Wende ergeben hatten. Überraschend freimütig nennt er Kollegen beim Namen, schildert er dienstliche und private Ereignisse. So setzt er sich durchaus kritisch mit den Ereignissen von Rostock-Lichtenhagen und Bad Kleinen auseinander. Die nachdenklichen Geschichten erlauben gelegentlich mit spürbarem Zynismus und Sarkasmus einen Blick hinter die Kulissen der Polizeiarbeit. Wobei sich durch die Erzählungen die Zahl seiner Freunde vermutlich verringert haben dürfte. Die heiteren Episoden beschreiben mit zutiefst menschlicher Sicht die positiven und negativen Erfahrungen, die gesammelt wurden, nachdem der Autor von Deutschland nach Deutschland gezogen war. Am Schluss kommt Hinse zu dem Ergebnis, und hier erschließt sich, warum der Titel einen Elefanten zeigt, dass sowohl ein dickes Fell als auch ein hohes Maß an Sensibilität erforderlich waren, um nicht zu resignieren oder zum Fremden in einem Umfeld zu werden, das letztlich ihn und das er angenommen hat. Das Buch ist nicht nur für Polizeibeamte aus Mecklenburg-Vorpommern interessant. Es dürfte sich manch einer wiederfinden oder auch in seinen Urteilen oder Vorurteilen bestätigt sehen. Aber das Buch ist weder ein Wendereport noch ein Polizeireport. Es sind ganz einfach die Geschichten des täglichen Lebens, die jeder von uns erlebt, aber keiner aufschreibt.
Allerdings beginnt Hinses Buch gar nicht mit Mecklenburg-Vorpommern, sondern als erstes Wort findet sich „THÜRINGEN“: „Im Oktober 1990 fand mit Freunden und Kollegen bei Würzburg eine Weinprobe statt. Die gelöste weinselige Stimmung ließ bei uns spontan den Plan aufkommen, nicht wie sonst über Würzburg, Frankfurt und Mainz, sondern über Schweinfurt, Meiningen und Eisenach nach Bonn zurückzufahren. Immer schön in Grenznähe, man konnte ja nicht wissen. Je näher die ehemalige Demarkationslinie, die Staatsgrenze West der früheren DDR, der „eiserne Vorhang" kam, desto größer wurde die gespannte Erwartung. Uns fiel auf, dass plötzlich in jedem Ort im Westen Gebrauchtwagenhändler wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Fahrzeuge, die noch vor wenigen Monaten ihr Ende auf dem Schrottplatz erwarteten, wurden zu indiskutablen Preisen angeboten und als „Schnäppchen" offeriert. Leichtes Unbehagen machte sich bei meiner Frau und mir breit. Eine derart offensichtliche Übervorteilung konnte doch nicht unbemerkt bleiben. Die Menschen „drüben“, wir waren ja noch in Bayern, mussten doch alle aus dem Westen für Abzocker halten. Oder waren sie blind? Oder nur gierig auf Westautos? Wie trat man uns entgegen?
Es war ein Sonntagmorgen. Wir näherten uns der ehemaligen Grenzkontrollstelle. Das Wetter war unserer Stimmung angemessen. Neblig, trübe, kalt. Noch vor wenigen Monaten wäre hier die Welt für mich zu Ende gewesen. Bei einem Grenzübertritt hätten Festnahme, Durchsuchung, Vernehmung, Haft und andere Unannehmlichkeiten gedroht. Einen Angehörigen der Staatsschutzabteilung des Bundeskriminalamtes zu erwischen, hätte dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR, kurz MfS genannt, seinerzeit bestimmt viel Vergnügen bereitet ...
Aus dem Nebel schälten sich die Gebäude der Grenzanlagen. Leere Fensterhöhlen, eine Würstchenbude ohne Besucher dort, wo früher die Zollabfertigung gestanden hatte. Schlagbaum, Betonsperre und Zaun waren verschwunden. Der Wachturm war unbesetzt, die Eingangstür bewegte sich quietschend im Wind. Ein Hauch von Verfall lag über dem jetzt einsamen ehemaligen Grenzkontrollpunkt. Kein Grenzer war zu sehen, keine Kontrolle zu erwarten. Freie Fahrt für freie Bürger. Die Straße führte in Windungen abwärts. Fast schien es so, als seien wir allein auf der Straße. Es gab kaum Verkehr. Kein Haus und keine Menschenseele waren zu sehen. Aus dem Tal quoll Rauch und verfing sich mit dem Nebel in den Tannen. Gelblicher, leicht schweflig stinkender Qualm. „Man riecht die Dörfer, bevor man sie sieht", stellte Karin sachlich fest. Hinter der nächsten Kurve sahen wir die ersten Häuser von Henneberg. Auch hier war kein Mensch auf der Straße. „Die sind bestimmt alle in der Kirche“, meinte meine Frau. „Kann sein, schließlich ist Sonntag“, bemerkte ich. Die Straße führte an dem Ort vorbei und es reizte uns nicht sonderlich, die Bundesstraße 19 zu verlassen. Der nächste Ort war Sülzfeld. Schmucklose, graue Häuser mit bröckelndem Putz und ungepflegten Vorgärten waren das, was uns in Erinnerung blieb. Aus den Kaminen quoll der gelbliche stinkende Rauch, der uns seit dem Grenzübertritt nach Thüringen begleitet hatte. Auch hier war keine Menschenseele zu sehen. Unser erster Eindruck von den neuen Ländern war merkwürdig fremd und eher abweisend.
Karin hatte recht: Man roch die Orte, bevor man sie sah. In Meiningen kreuzte das erste Polizeifahrzeug unseren Weg. Ein grauer Wartburg mit Blaulicht. Wie putzig. Der anfänglich abweisende Eindruck von Land und Orten, der unser Unbehagen zunächst noch verstärkt hatte, wich langsam der Neugier. Die Straßen wurden belebter, der Fahrzeugverkehr nahm zu und bestand nicht nur aus Trabbis, wie wir das noch vor Kurzem im Fernsehen gesehen hatten. Wir bogen Richtung Eisenach ab. Eine Villa aus der Gründerzeit war bereits renoviert und sah toll aus. Bei näherem Hinsehen entpuppte sie sich als Zweigstelle der Deutschen Bank. „Die Banker wohnen und arbeiten im Feinsten und haben sich die Rosinen bereits aus dem Kuchen gepickt“, stellte Karin fest. Unsere Vorurteile über die Banker, die wir natürlich auch als gelernte Wessis pflegten, fanden sich voll bestätigt. Zu einer Besichtigung der Stadt Meiningen konnten wir uns nicht durchringen. Sie wurde nach kurzer Beratung auf irgendwann verschoben. Was sagte uns schon Meiningen? Klar, sie war früher einmal eine fürstliche Residenzstadt gewesen. Mehr aber auch nicht. Wir wollten weiter. Weiter durch den Thüringer Wald nach Eisenach und zur Wartburg. Die kennt man auch als Wessi. Entweder wegen Luther oder der heiligen Elisabeth. Je nach Konfession. Thüringen hat eine schöne Landschaft mit viel Wald, so hatten wir gelesen. An diesem Tag erschloss sich uns das Land leider nicht in seiner Schönheit. Wie auch? Nebel und trübe, nasskalte Witterung nahmen der Landschaft ihren Reiz und uns den Wunsch des genaueren Kennenlernens. Vielleicht haben wir ja noch einmal später Gelegenheit, die Reize zu genießen, trösteten wir uns. Gegen Mittag erreichten wir Schwallungen. Das kleine Dorf unterschied sich durch nichts von den Orten, die wir bisher durchfahren hatten. Mitten im Ort bemerkten wir eine äußerlich schmucklose Dorfkneipe, die auf einer Schiefertafel Mittagtisch anbot. Den gelben, schwefligen Qualm, der auch hier durch den Nebel zwischen die bröckeligen Fassaden der Häuser gedrückt wurde, ignorierend, traten wir ein. Trübes Licht, Tresen und Tische aus Sprelacart, der DDR-Variante des westdeutschen Resopals, verräucherte Luft und die lautstarke Unterhaltung sichtbar angetrunkener Gäste, die ihren Frühschoppen ausgedehnt hatten, empfingen uns. Bei unserem Erscheinen erstarb die lebhafte Diskussion schlagartig. Gäste und Wirt, der hinter dem Tresen einige Biere und Schnäpse einschenkte, musterten uns von oben bis unten. Das Ergebnis der Studien war allen im Gesicht abzulesen. Aha, Fremde und Wessis. Was die hier wohl wollen?
Wir wollten etwas zu essen und zu trinken. Schnell und eifrig wurde durch die Gastwirtstochter ein Tisch eingedeckt und eine handgeschriebene Speisekarte gereicht, auf der die Preisauszeichnung fehlte. Die Karte war zu unserer Überraschung ausgesprochen umfangreich. Das hätten wir in dieser kleinen Dorfkneipe nicht erwartet. Aber wer weiß schon, was sich hinter den angepriesenen Gerichten wirklich verbarg. Unsere Skepsis vermochten wir zu verbergen und entschieden uns für eine Soljanka als Vorspeise, weil sie sich für uns so fremdartig und irgendwie russisch anhörte.“
Von der Soljanka zu einem Stück Stollen. 1985 erschien im Kinderbuchverlag Berlin „Ein Montag im Oktober“ von Jürgen Jankofsky: Die zwölfjährige Katrin soll mit ihrer Klasse etwas über ein Denkmal herausfinden, das an Opfer des Zweiten Weltkrieges erinnert. Dabei muss sie erfahren, dass Geschichte nicht nur etwas Langweiliges ist, das in Schulbüchern steht, sondern auch Familiengeschichte sein kein, Geschichte, die schmerzt. Nur zögerlich nämlich gibt Katrins Großvater zu, den sie sehr mag und der auch immer fürsorglich für sie da ist, dass er in jener Zeit Dinge getan hat, für die er sich heute noch schämt. Diese Geschichte versucht das alltägliche Grau totalitärer Alltage aufzuhellen. Und sie beginnt natürlich mit dem Anfang und mit dem
„ERSTEN KAPITEL in dem erwacht und sehenswert verrückt getanzt wird
Noch segelte Katrin weit draußen zwischen Traum und Erwachen. Aus einem Meer leise plätschernder Musik schnellten ab und zu Erinnerungen. Immer schneller entglitten sie aber in dämmrige Tiefen, tanzten zu keinem Bilderreigen mehr zusammen. Dann sang ein Kinderchor: „Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit ...“
Katrin blinzelte. Zaghaft, vorsichtig erst. Doch dann - draußen vor ihrem Fenster schneite es wirklich! Im orangefarbenen Licht der Straßenbeleuchtung schwebten märchenhaft dicke Flocken vorbei. Das Bücherregal, „Das Tagebuch der Anne Frank“ noch aufgeschlagen, das Puppensofa, das lustige, nach dem Märchen „Die große Rübe“ selbstgemalte Bild, die gelbe Umhängetasche, fertig für die Schule, Schreibtisch, Hocker, Schrank ... - ihr Kinderzimmer. „Fünf vor sechs, fünf Uhr fünfundfünfzig“, sprach's über der Musik. Katrin kuschelte sich tief ins Bett, schloss die Augen, versuchte, ein Zipfelchen ihres entfliehenden Traumes zu erhaschen. Noch blieben einige Minuten Zeit bis zum Aufstehen. Aber aus der Küche schepperte Geschirr. Der Pfeifkessel sirente los, verröchelte jedoch, bevor er Dauerton schrillte. Und Katrin wusste: Opa ist da, ist da, solange sie nur denken kann, war immer da, seit die Eltern vor zehn Jahren den Unfall hatten. Immer war Opa für sie da, immer. Katrin reckte sich wohlig. Da schallte es „Verdimmich, verdimmich aber auch!“ durch die Wohnung. Nun hielt's Katrin nicht länger im Bett. Mit langen Beinen angelte sie nach ihren Pantoffeln, die gestern Abend wieder irgendwo gelandet waren, und flitzte in die Küche. „Was ist denn, hast du was?“ Der Großvater, ein rundlicher, untersetzter Mann, nickte Katrin zu. „Guten Morgen sagt man erst mal.“ Katrin umhalste ihren Großvater. „Aber warum hast du ...?“ „Da, die gute Hose“, sagte der Großvater, „schöne Bescherung!“ Ein großer Fettfleck glänzte auf dem braun-grün gewürfelten Stoff. „Damit kann ich doch unmöglich zum Direktor!“ „Wieso zum Direktor?“ „Hab ich dir doch erzählt, oder? - Kollege Treichel, hat er gesagt, gleich am ersten Tag im neuen Jahr kommen Sie zu mir. Wir haben was zu bereden!“ „Was zu bereden?“ Katrin bückte sich nach dem Stück Butter, das ihrem Großvater vom Teller gerutscht war und das er offenbar mit dem Knie auffangen wollte, rieb dann mit einem feuchten Lappen an dem Fleck herum. „Die Kollegen meinten, dass es vielleicht wegen meines Betriebsjubiläums ist. Stimmt, Januar siebenundvierzig kam ich. Da werden es jetzt fünfunddreißig Jahre.“ „Fünfunddreißig?“, fragte Katrin. „Aber hast du neulich nicht gesagt, du wärst hier bald fünfundvierzig Jahre in der Braunkohle?“ „Na ja, schon, aber ...“ Der Großvater brummte irgendetwas Unverständliches. Seine Hände wischten über den Fleck, der vom Dranherumreiben nur größer geworden war. „Hol mir mal 'ne andre Hose!“ Katrin lief in die Stube, brachte die frische Hose und huschte ins Bad. Als sie gewaschen und gekämmt wiederkam, griff der Großvater gerade nach den breiten Hosenträgern, die gegen seine Kniekehlen baumelten, und streifte sie über die Schultern. Der Frühstückstisch war fertig gedeckt. Die Teekanne dampfte. „Du hast ja den großen Stollen angeschnitten!“, rief Katrin. „Wolltest du doch erst Ostern.“ Der Großvater schmunzelte. „Für dich mach ich doch alles, Frollein!“ Und wie zur Bekräftigung seiner Worte fuhr er mit den Daumen zwischen Hosenträger und Hemdschulter, spannte die Träger bis über seine Ohren und ließ sie herabflappen. „Ach Opa!“ „Was heißt hier: ach Opa!“ Der Großvater tat entrüstet. „Als wäre ich sonst anders.“ „Na eben“, sagte Katrin und griff nach einem Stück Stolle, „bist schon der Beste.“ „Der Allerbeste, hoffe ich!“ Der Großvater pochte gegen seine Brust und zwinkerte. Dann setzte auch er sich an den Frühstückstisch. Katrin beugte sich zu ihm hinüber und küsste ihn auf die frischrasierte Wange. „Oh - da müsste ich mir wohl 'nen Schlips umbinden?“ „Na, das fehlte noch“, sagte Katrin. „Schlips auf kariertem Hemd und dazu Hosenträger - kannst du ja zur Disko gehen!“ „Disko? - Warum eigentlich nicht?“ Der Großvater stand wieder auf. „Den ersten Tag, ich meine, den ersten normalen Tag im neuen Jahr soll man ruhig ein bisschen verrückt beginnen!“ Der Großvater summte zum Radio. „Sechs Uhr und“, brachte der Ansager noch heraus. Schon kurbelte der Großvater nach lauter Musik, fand natürlich. „Darf ich bitten, mein Frollein?“ „Aber Opa.“
Im Jahre 2000 legte Walter Kaufmann in der edition reiher im Karl Dietz Verlag Berlin sein Buch „Gelebtes Leben. Ein Geschichten-Kaleidoskop“ vor: Ein buntes Kaleidoskop von Geschichten erwartet den Leser dieses Buches. Unerwartete Geschichten, überraschende Geschichten, aufschlussreiche Geschichten – bemerkenswerte Begebenheiten, die es wert waren, aufgeschrieben zu werden, um in Erinnerung zu bleiben. Sie sind persönlich und politisch, meistens beides und immer Menschengeschichten. Und meist schwingt die eigene Biografie des jüdischen Jungen mit, dessen Adoptiveltern in Auschwitz umgebracht wurden. Ihre Schauplätze sind so verschieden wie die Geschehnisse, die sich darin ereignen. Sie spielen in Australien und in Israel ebenso wie in Prerow auf dem Darß, in Duisburg, in London und in Chicago, auf den Fidschi-Inseln und auch beispielsweise in Mecklenburg, 1998: „Ich dachte daran, wie erfolgsgewiss er in die Wende gegangen war, nachdem ihn die geschrumpfte und immer mehr schrumpfende Seereederei des Ostens hatte entlassen müssen - kein Problem für ihn: Blühende Landschaften, auch Mecklenburg würde aufblühen und Gaststätten gefragt sein. „Die Schnauze voll, er hatte die Schnauze voll“, hörte ich sie sagen.“
Und im Unterschied zu unserer sonstigen Verfahrensweise wollen wir heute gleich zwei Kaleidoskop-Geschichten zum An-Lesen präsentieren. Beide spielen in Australien, wo der Reporter und Schriftsteller, Fotograf und Seemann Walter Kaufmann lange Zeit gelebt hatte. Hier Text Nummer eins:
„Mit dem Silberstift
Melbourne 1948
Donnerstags, nach Ladenschluss, schrieb Mr. Markowitz die Lohnabrechnungen säuberlich mit hartem Silberstift, dass auch die für uns bestimmten Durchschläge gut lesbar waren, und weder Bert, der dienstälteste Hochzeitsfotograf, ein hochaufgeschossener schlaksiger Mann, noch Alfons, der wegen seines Buckels - Bucklige bringen Glück - bei vielen Jungvermählten gut ankam, bezweifelten, was der Chef da zusammenrechnete. Seine makellos aufgereihten Ziffern wirkten unumstößlich. „You can’t fault them“, sagte Bert. Jüngst dazugekommen und noch auf Probe, wunderte ich mich nicht wenig, dass ich am Zahltag kaum schlechter abschnitt als die ausschließlich auf Bestellung, on request, arbeitenden Kollegen, während ich auf gut Glück zu Hochzeiten geschickt wurde, die Mr. Markowitz den Vorankündigungen in Zeitungen entnommen hatte. Anders als bei mir, gab es bei Bert und Alfons einen gewissen Kaufzwang - hätten sie mir da nicht weit mehr als nur ein paar Schillinge voraus sein müssen? Nun, schlafende Hunde soll man nicht wecken, und auch ohne dass der Chef mir jedes Mal zuraunte: „Behalt’s für dich, sag’s keinem“, hätte ich sicher kein Wort zu den beiden gesagt.
Das ging so bis hinein in den Sommer und Herbst. Bert und Alfons vertrauten ihrem good old Abe, wie Mr. Markowitz sich leutselig nennen ließ, nach wie vor, zumal auch für sie ein Wochenverdienst von rund zwanzig Pfund (der Durchschnittslohn lag in jener Zeit bei der Hälfte dieser Summe) beachtlich war. Keiner der beiden rechnete auf, wie oft sie eingesetzt gewesen waren. Nur ich tat das: Hatte mich mein Verdienst während der Probezeit verwundert, jetzt, da ich weit mehr Hochzeiten als zu Anfang fotografierte, verwunderte mich, dass meine Einnahmen nicht stiegen. Wirklich stutzig aber wurde ich erst nach jenem Samstag im Spätherbst, als mich der Chef zu der Trauung einer verflossenen Freundin von mir schickte - was er wohl vermieden hätte, wäre ihm die Verbindung bekannt gewesen.
Auch ich war ahnungslos, und es war schon ein merkwürdiges Gefühl, als ich nicht irgendeine Frischvermählte, sondern Yvonne zu den Orgelklängen aus der Kirche schreiten sah, strahlende Braut, stolzer Bräutigam, und dass ich die Fassung bewahrte und mir meine Aufnahmen gut gelangen, war unter den Umständen bemerkenswert. Tage später allerdings geriet ich dann doch außer Fassung. Nämlich als mich ein Brief von Yvonne erreichte, in dem sie mir für die „really lovely photos“ dankte und meinte, dass mich die Bestellung von über hundertundvierzig Pfund, „die mein Papa spendiert hat“, sicher freuen würde. Ich rechnete meinen jüngsten Verdienst durch - und wurde zornig, War mir nicht von allen Einnahmen ein zwanzigprozentiger Anteil zugesagt gewesen, und war ich nicht auch diesmal wieder mit nur zwanzig Pfund bedacht worden: „Behalt’s für dich, sag’s keinem!“
Und hier ist Text Nummer zwei:
„Die Stimme Jack Londons
Melbourne 1950
So viel wusste ich natürlich - zu tun gibt’s immer für den Decksmann eines Schleppers, auch im Hafen: Rostklopfen, Farbewaschen, Labsalben. Und wer poliert die Messingbeschläge, scheuert das Deck, macht klar Schiff im Ruderhaus und reibt die Scheiben blank? Mochte Kapitän Maloy auch Pfeife schmauchend den nächsten Einsatz abwarten und Spinks, der Maschinist, sich auf Deck im Schatten der Aufbauten ausstrecken, mochten sich auch die beiden Leichtmatrosen Pat und Jim hin und wieder an Land verkrümeln, nichts davon galt für den Decksmann - und der war ich.
Also suchte ich mir Arbeit und bald glänzte es an Bord, dass ich mir einbildete, auch ich hätte mir inzwischen ein paar Vorrechte verdient - nicht gerade lange Rauchpausen oder ein Schläfchen in der Kammer oder gar beim Chinesen vor den Hafentoren ein Süppchen schlürfen, aber doch ab und zu in einem Buch blättern. Immer hatte ich irgendeinen Roman dabei: London, Melville, Crane, Bret Harte - bewunderte Autoren jenes Jahres, aber dass ich durch Martin Eden meinen Posten auf dem Schlepper verlor, ausgerechnet wegen meiner Anteilnahme an einem tagsüber hart schuftenden und nachts zäh an seinen Büchern schreibenden Helden, traf mich hart. Total in die Handlung vertieft, die Stimme Jack Londons im Ohr, überhörte ich die Stimme des Schlepperkapitäns, der von der Brücke zu mir herunterrief: „Kommen Sie mal hier rauf, Decksmann!“ Und eben dort, wo ich sechs Wochen zuvor angemustert hatte, sprach er mir die fristlose Entlassung aus: Sacked on the spot! „An Bord“, ließ er mich wissen, „liegt immer was an“ - und dann zählte er all die Pflichten auf, womit ich mich längst abgeplagt hatte: „Rostklopfen, Farbewaschen, Labsalben – und den gottverdammten Rest!“ Jack London, dachte ich aufgebracht, was zum Teufel hast du mir da eingebrockt!
Bereits 1998 hatte Ernst Klatt seinen Lebensbericht „Der Durst der Seele. Mein Weg vom Pimpf zum NVA-Offizier, CIA-Agenten und Alkoholiker“ verfasst. Bearbeitet und herausgegeben wurde er von Jürgen Borchardt: Ein erschütternder Bericht über ein dramatisches Schicksal im 20. Jahrhundert: Der Autor erzählt vom Leben der Deutschen im Westpreußen der 30er Jahre, von den Freuden eines Kinderherzens, dem friedlichen Nebeneinander der Deutschen und Polen, die plötzlich Feinde werden im Kriege. Ergreifend ist die Trauer des Kindes über den Verlust lieber Menschen und dann auch der Heimat. Der Junge findet eine neue Heimat, erlebt Kriegsende, amerikanische und sowjetische Besatzung in einem westmecklenburgischen Dorf. Schließlich erfüllt sich ein Kindheitstraum: eine Karriere als Soldat und Offizier. Dies während der „wilden“ 50er Jahre, in der DDR. So rätselhaft wie plötzlich aber gerät der Offizier, Frauenheld und fröhliche Trinker in die Mühlen des kalten Krieges: Entlassung aus der Nationalen Volksarmee, Anwerbung durch die CIA, Zuchthaus in der DDR. Ein Absturz ohnegleichen. So unmerklich wie heimtückisch packen ihn nun aber die Klauen eines noch grausameren Gegners: Der Trinker aus Fröhlichkeit wird gefangen von König Alkohol. In schier übermenschlichem Ringen, nach Jahrzehnten, entkommt er - die Freiheit aber bleibt bedroht. Ein in unserer Literatur ungewöhnlicher Lebensbericht.
Hier ein Stück aus diesem wahrlich ungewöhnlichen Report – ein Stück, aus dem sich alles Weitere ergibt:
„Am Wendepunkt
1958. An einem Dienstag ging ich wie üblich zum Dienst. Zwei Stunden später musste ich zum Regimentskommandeur. Der Stabschef und der Politoffizier waren auch da. Mir wurde der Befehl Nr. 358 des Ministers für Nationale Verteidigung der DDR vorgelesen: Auf Grund eines Selbstmordversuches wäre ich mit sofortiger Wirkung vom Oberleutnant zum Soldaten degradiert und in Unehren aus den Reihen der NVA ausgeschlossen. Ich hätte alle Auszeichnungen zurückzugeben. Einige Wochen zuvor war ich noch vor allen Offizieren des Regiments ausgezeichnet worden, für die sehr guten Ergebnisse bei einer Kompanieübung (Angriff und Schießen mit scharfem Schuss). Ich hatte etliche Auszeichnungen, insgesamt an die 20 Belobigungen, darunter einige Geldprämien – für Offiziere ganz selten.
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Innerhalb von zwei Stunden hatte ich den Entlassungsschein und mein Geld. Ich stand auf der Straße. Als ich wieder klar denken konnte, fragte ich mich: Entlassung, ohne dass ich überhaupt befragt wurde? So geht das doch nicht! Aber es ging. In mir wallte es, ich grübelte und grübelte. Selbstmordversuch, das war lächerlich; ich und Selbstmord – nie und nimmer! Ob mein Schwager, wegen Spionage zu viereinhalb Jahren verurteilt, der Grund war? War es Alkohol? Getrunken wurde natürlich, das machten fast alle, nach Dienstschluss. Aber ich kam nie betrunken zum Dienst. Oder war es der neue Regimentskommandeur, der nach oben zeigen wollte, auch er griff endlich durch? Überall in der Partei wurde ja „gesäubert“, warum nicht auch in der Armee! Mein Anrennen gegen dieses Unrecht blieb ohne Erfolg. Da ließ ich mich auf eine Sache ein, die für mich schlimme Folgen haben sollte. Ich lernte einen Mann kennen, der für die Amerikaner arbeitete … Eines Tages sollte ich nach Westberlin, zu der Zeit kein Problem; es gab noch keine Mauer. Man brachte mich nach Oberursel im Taunus – Zentrale und Agentenschule der CIA in der Bundesrepublik Deutschland …“
Das waren also einige Blicke auf das vorige, das zwanzigste Jahrhundert. Es wird von Historikern nicht ohne Gründe ein Jahrhundert der Extreme genannt. Und es war eines mit zwei Weltkriegen, die nicht nur viel Leid und Schmerz unter die Menschen gebracht haben, sondern auch fast alles kräftig durcheinandergewirbelt haben. Ein Stück davon lässt sich auch in den Texten der aktuellen Deals der Woche im wahrsten Sinne des Wortes ab-lesen. Aber es gab im 20. Jahrhundert auch Glück und Spaß und Freude und Heiterkeit. Auch das findet sich in diesen Geschichten aus dem vorigen Jahrhundert (wie merkwürdig das klingt, auch wenn es stimmt). Es sind eben alles Menschengeschichten. Und wie haben Sie das, Ihr zwanzigstes Jahrhundert erlebt?