Wie in allen vier Oktober-Newslettern stammen auch die anderen vier heutigen Sonderangebote aus der Feder von Friedrich Wolf.
Die 1926 erschienene Erzählung „Kreatur - Verloren im Streben nach Besitz“ handelt in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die Wunden noch frisch und die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft voller Herausforderungen sind. In dieser Zeit kämpft der junge Student His mit den Widersprüchen des Lebens. Und er muss sich entscheiden …
Aus dem Jahre 1947 stammt die Erzählung „Fabriklegende oder Das Leben geht weiter“. Die junge Res ist hart im Nehmen, stark wie ein Schmied und unermüdlich in ihrer Arbeit. Doch das Leben meint es nicht leicht mit ihr - ein unbarmherziger Vater, harte Arbeit in der Fabrik und ein Geheimnis, das schwer auf ihrem Herzen lastet. Eines Tages bricht sie zusammen und ihr Leben ändert sich dramatisch. Gibt es noch einen Funken Hoffnung für Res?
Die 1948 entstandenen Erzählung „Abnutzungsgebühr“ spielt im November 1918 in Dresden: Der Krieg ist vorbei, aber für viele beginnt der wahre Kampf erst jetzt. In den kalten Fluren eines überfüllten Lazaretts, wo die Lebenden und Toten beinahe ununterscheidbar nebeneinander liegen, kämpfen die Verwundeten nicht nur gegen ihre physischen Wunden, sondern auch gegen eine unbarmherzige Bürokratie und die Wirren einer untergehenden Ordnung. Ein junger Arzt, selbst versehrt, wird unfreiwillig zum Anführer in einer Stadt, die zwischen Verzweiflung und Revolution schwankt. Aber wird er es schaffen?
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Was kann schon ein einzelner Mensch ausrichten? Oder doch mehr als gedacht?
1942 schrieb Friedrich Wolf die Erzählung „William, der Arzt, Sportler und Organisator“. Inmitten der Wirren des Zweiten Weltkriegs erhebt sich ein Mann wie kein anderer: William Jefimowitsch, ein Chefarzt und geborener Organisator. Friedrich Wolf erzählt die fesselnde Geschichte eines Mannes, der mit der Kraft eines Vulkans und der Leidenschaft eines Pioniers sein Lazarett führt. Von der rauen Landschaft des Urals bis zu den kriegsgebeutelten Fronten vor Moskau - William meistert jede Herausforderung mit unerschütterlichem Optimismus und unerbittlichem Arbeitseifer. Diese eindrucksvolle Erzählung zeigt, wie ein einzelner Mensch durch Freude an der Arbeit und unermüdlichen Einsatz Unmögliches möglich macht. Ein inspirierendes Leseerlebnis über Mut, Hingabe und die Macht des menschlichen Geistes.
Aber eine Frage bleibt noch. Sie wird gleich zu Beginn der Erzählung beantwortet:
Sein Vater, ein Apotheker aus Sewastopol, hat ihn William genannt. Sein Großvater war Mühlenarbeiter, seine Mutter Haushälterin. Aber warum heißt ein Russe aus Sewastopol William? Der riesige, vollblütige Lazarettchef zuckt die Achseln. „Fragen Sie meinen Vater! Er ist an allem schuld! Nicht bloß an mir, auch an dem Namen. Er war ein Verehrer des amerikanischen Präsidenten William Taft. Er hat mich nach ihm benannt. Sehen Sie, so ist das!“
In der Erzählung „Der Wachposten“ von Friedrich Wolf entfaltet sich eine Atmosphäre voller Spannung und Romantik. Die folgende Leseprobe fängt einen Moment ein, in dem die nächtliche Stille, durchbrochen von mysteriösen Geräuschen, die Sinne des Protagonisten auf höchste Alarmbereitschaft setzt. Die Verbindung von Natur, Poesie und der drohenden Gefahr verstärkt die Intensität der Szene, während der Protagonist zwischen seinen inneren Gefühlen und der realen Bedrohung hin- und hergerissen ist. Was wird geschehen, wenn der Schein der Romantik der harten Wirklichkeit weichen muss?
Ich verzog mich an die Seitenecke der Mauer, von wo ich die Ereignisse an der Rückwand bemerken und zugleich, wenn Not, die störende Bestie in wenigen Sprüngen nach dem vorderen Tor ablenken konnte. Es war eine wunderbare warme Augustnacht. Aus dem Garten hoben die alten Nussbäume und Kastanien ihre dicht belaubten Häupter über das Gemäuer. Seitlich führte eine schmale Steige zu dem Weinberg hinan. Das Schiefergestein strahlte noch die Tageswärme aus. Dennoch hatte sich im kühlen Talwind des Stromes an der Wärmegrenze ein leichter Nebelschleier gebildet, der vom Rhein her den Berg hinaufwehte und die Villa umlagerte. Wohl von dieser Erscheinung kam mir plötzlich ein Vers in den Sinn, den ich schnell wieder fallen lassen wollte, der sich aber direkt an mich klammerte:
„Schon stand im Nebelkleid die Eiche,
Ein aufgetürmter Riese, da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.“
Es war ein Vers aus meinem Lieblingsgedicht „Willkommen und Abschied“, das der junge Goethe niedergeschrieben, als er nachts von seiner Friederike von Sesenheim nach Straßburg geritten war. Ich sprach die Verse vor mich hin und lauschte. – Nichts.
„… die Winde schwangen leise Flügel,
Umsausten schauerlich mein Ohr;
Die Nacht schuf tausend Ungeheuer…“
Ich wusste, Ernas Vater, der neben seinen Weinbergen eine Pferdezucht hatte, würde als alter Kavallerieoffizier mit Heinz, wenn er ihn nachts bei seiner Tochter antraf, kurzen Prozess machen. Meine Fantasie sah durch die Nacht hindurch deutlich die fertige Szene. Plötzlich knallten irgendwo zwei dumpfe Schüsse. Ich fuhr hoch, lauschte sprungbereit. War es Einbildung? Waren es die Weinbergswärter, die oft solche Schreckschüsse abgaben? Oder war es wirklich … ich rannte zur hinteren Mauer, atemlos horchend.
Tiefe Stille. Die Erde schien zu atmen.
Nichts sonst.
In der Erzählung „Kreatur - Verloren im Streben nach Besitz“ fängt Friedrich Wolf die innere Zerrissenheit und den Kampf seiner Protagonisten ein, die in einer Zeit nach dem Ersten Weltkrieg mit existenziellen Fragen konfrontiert sind. Die folgende Leseprobe zeigt Marie und Hunschringer in einem Moment, der die Spannung zwischen körperlicher Leidenschaft und dem unerfüllten Streben nach mehr verdeutlicht. Während Marie scheinbar ein Gefühl von Glück und Zufriedenheit verspürt, wird Hunschringer von der Erkenntnis überrollt, wie leer und unbefriedigend sein eigenes Leben geworden ist – ein Leben, das er im Streben nach Erfolg und Besitz vergeudet hat.
„Schaffet nit so viel!“ Das klingt Marie den ganzen Weg ins Ohr, da sie am Morgen zur Villa Hunschringer fährt, „schaffet nit so viel!“
Der Hoppfuß ist gar so kein Simpel! Schaffen von früh bis spät macht krank, neidig, gierig! Glück macht gut! Sie hat es erfahren!
Schnell steigen Marie und Hunschringer in den Wagen. Die Blutentnahme soll noch am Morgen stattfinden. Der Wagen saust: Schaffet nit so viel! Schaffet nit so viel!
Die Augen schließen …
„Sind Sie müde?“
„Glücklich.“
„Seit kurzem?“
„Ja!“
Hunschringer schaut nach der Uhr. „Wir müssen Sie etwas equipieren, Marie! Sie sollten zum mindestens ein Kleid für das Haus und einen Straßenmantel haben! Oder sind Sie dagegen?“
„Bestimmen Sie darüber!“
Sie fühlt, wie ihr Leben rollt, wie ihr Glück sich ballt.
Schaffet nit so viel!
Schaffet nit so viel! saust der Wagen.
*
Der Professor begrüßt Hunschringer freundschaftlich.
Sie treten in einen kleinen Operationssaal. Marie streift ihr Kleid ab, sie wird behorcht, der Arm gestaut.
Während der Professor sich reinigt, führt man ein Gespräch über die Jagd und über eine Küstenfahrt in Dalmatien. Doch Hunschringer ist nicht bei der Sache. Sein Blick haftet an Marie. Er muss an seine hilflose, flaumzarte Frau denken, die nur noch ein Gegenstand der Sorge und Pflege ist. Einst war sie eine feine helle Blume. Sie war reich, vornehm, gepflegt; doch Lust schenkte sie ihm nie und kein Kind. – Erfolge, Arbeit, Arbeit, Erfolge!
Und nun steht dieses Weib da, wie ein mächtiges Tier, mit einem Schoß, Geschlechter zu tragen, und mit Brüsten, Riesen zu säugen! Zorn rast in ihm hoch, Wut über sich selbst, an dem das Leben vorbeifloss! Kann man mit Edelsteinen und Banknoten den Durst stillen!
„Glänzend!“, knurrt der Professor und lässt aus der Vene durch eine große Hohlnadel das dunkle Blut in zwei Gläser laufen: „Wird Ihnen übel?“
Marie lacht aus voller Kehle, dass die Nadel hüpft und der dunkle Strahl auf den Boden schießt.
In „Fabriklegende oder Das Leben geht weiter“ zeigt Friedrich Wolf die unbarmherzige Härte des Lebens in einer Fabrik und die persönliche Not der Arbeiterinnen. Die folgende Leseprobe bringt uns in den dramatischen Moment, in dem Res, die starke und unermüdliche Frau, plötzlich mit einer Situation konfrontiert wird, der sie nicht mehr entkommen kann. Der unerwartete Zusammenbruch offenbart nicht nur ihre körperliche Erschöpfung, sondern auch das Geheimnis, das sie so lange mit sich getragen hat. Doch inmitten des Lärms und der Hektik der Fabrik kommt der Moment, der alles verändert.
Und dann kommt es doch früher, als sie dachte. Sie hat gerade die Kette ihrer Webmaschine gespannt, den Schalthebel eingedrückt, während sie mit der anderen Hand die „Lade“ vorzieht. Da spürt sie einen Stoß im Leib, als breche sie auseinander. Um Gottes willen, nur jetzt nicht! Sie macht einen Schritt, will hinaus und sinkt nieder.
Ihre Nachbarin, das Emmale, hat ihre Maschine schnell abgestellt. „Ist dir schlecht, Res?“ Auch die schwarze Marie, eine junge Frau, ist hinzugesprungen: „Was hast du?“ Plötzlich erkennen die beiden, worum es geht.
„Einen Arzt!“, ruft das Emmale.
„Nein, ach Mädels, helft mir doch!“, stöhnt die Res, während nun auch die Hilda, die Anni und die andern hinzukommen.
„Zurück! Seid wohl närrisch, alle von den Maschinen wegzurennen!“, fährt die Marie sie an. „Los, Anni, lauf zur Hebamme, zur Fräulein Minna, sie soll sofort hierher!“
„Lasst mich, Mädels, gebt mir ’ne Decke!“, bittet, mit den Zähnen wie vor Kälte klappernd, die Res. „Es hat ja keinen Wert mehr!“ Und plötzlich schreit sie auf.
In der Erzählung „Abnutzungsgebühr“ bringt Friedrich Wolf die dramatischen Ereignisse nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zum Leben. Die Leseprobe zeigt einen Moment, in dem die Verwundeten aus den Lazaretten Dresdens sich für den Frieden einsetzen und dabei mit den letzten Überbleibseln des alten Regimes konfrontiert werden. Der 7. November 1918 markiert eine Phase des Umbruchs, in der die Revolutionäre gegen die alte Ordnung kämpfen. Doch die vorübergehende Komik, die in der Furcht der Gendarmen vor vermeintlichen Seuchen zum Ausdruck kommt, weicht bald den blutigen Auseinandersetzungen, die die Zeit des Aufstands prägen.
Am kommenden Tag, dem 7. November, demonstrierten die gehfähigen Insassen unserer sämtlichen Lazarette. Es kam darauf an, dass auch die Kameraden von Dresden-Neustadt über die Absperrung der Augustusbrücke zu uns gelangten. Ich stand mit den Altstädter Demonstranten an der Brühlschen Terrasse. Ein Zug mit Transparenten rückte von der Neustädter Seite heran. Ein starkes Aufgebot berittener Gendarmerie hatte die Brücke abgeriegelt. Immer näher kam der Zug. Der Zusammenstoß schien unvermeidlich. Plötzlich rissen die Gendarmen die Pferde herum und preschten davon. Was war geschehen? Die Lazarettinsassen trugen auf der Vorderseite ihrer Transparente die Aufschrift: VORSICHT! ISOLIERBARACKEN! Die Gendarmen aber – dies lesend – sahen offenbar in ihrem kindlichen Gemüt die Typhusbazillen leibhaftig wie blutgierige Geier auf sie losflattern. Schreckerfüllt waren sie davongeprescht, während die Demonstranten ihre Transparente umdrehten, und nun stand auf der anderen Seite in riesigen Lettern : NIEDER DER KRIEG! ES LEBE DER FRIEDE!
So marschierten sie über die Brücke zu uns.
*
Das war am Morgen des 7. November 1918. Doch schon zwei Monate danach, am 17. Januar 1919, bei unserer Demonstration nach der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, rötete unter den MG-Feuerstößen der Noskesöldner in der Wettinerstraße Arbeiterblut auch das Dresdener Pflaster.
Vorerst aber überwog das Satyrspiel den Ablauf der Tragödie. Mitte November meldete man mir, dem Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats, in der Stadt befinde sich immer noch eine militärärztliche Dienststelle, die heimkehrende Soldaten als kv (kriegsverwendungsfähig) registriere. Ich fuhr mit zwei Kameraden hin und fand tatsächlich dort den „königlichen“ Generalarzt M. in voller Büroschlacht mit seinem ganzen Stab, die Heimkehrer auf „Kriegsverwendungsfähigkeit“ untersuchend. Auf meine wohl nicht sehr leise Belehrung, dass der Arbeiter- und Soldatenrat sämtliche alten Militärämter aufgelöst habe, starrte mich der Generalarzt fassungslos an und stieß dann die Worte hervor: „Wenn dem so ist, weshalb halten Sie dann den Dienstweg nicht inne?“ Hoffnungslos, dem alten Herrn klarzumachen, was inzwischen geschehen war. Man konnte ihn nur nach Hause schicken. Erst später erkannten wir, dass diese alten Herrschaften gar nicht so harmlos waren, sondern bereits nach einigen Wochen die „Baltikumer“ auf uns hetzten und sich die Hände rieben, während Arbeiterblut auf Dresdens Straßen floss.
Friedrich Wolf war von Beruf Arzt, der sogar ein besonderes medizinisches Fachbuch geschrieben hat.1928 veröffentlichte er in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart, Berlin und Leipzig „Die Natur als Arzt und Helfer. Das neue naturärztliche Hausbuch“, das erst jüngst neu aufgelegt wurde.
Sein Beruf zeigt sich aber auch in einigen seiner Texte. So ist es sicher kein Zufall, dass die Handlung in den beiden Erzählungen „Abnutzungsgebühr“ und „William, der Arzt, Sportler und Organisator“ des heutigen Newsletters in einem Lazarett spielt. Auch Wolf selbst hat den Krieg als Arzt erlebt. Er war 1914 bei Kriegsausbruch Truppenarzt an der Westfront und wurde angesichts von Tod und Leid zum entschiedenen Kriegsgegner. Er wusste also genau, wovon er sprach und schrieb.
Und Friedrich Wolf hat sich zeitlebens entschieden für Gesundheit eingesetzt – im individuellen wie im gesellschaftlichen Sinne. Davon zeugen auch seine Erzählungen, mit denen er für eine gesunde, gerechte und in diesem Sinne menschfreundliche Gesellschaft stritt.
Bleiben Sie ansonsten weiter vor allem schön gesund und munter und der Welt der Bücher gewogen. Die neuen Sonderangebote für den nächsten Newsletter, der am 1. November herauskommt, sind schon gepackt und stammen auch wieder alle von Fredrich Wolf.
Aus dem Jahre 1948 stammt seine Erzählung „Der Wachtmeister und die Hanne“. Im verschneiten Berlin der Nachkriegszeit, inmitten von Trümmern und Hoffnungslosigkeit, begegnet der mürrische Polizeiwachtmeister Schrimpf abends nach Dienstschluss einer jungen Frau namens Hanne, die verzweifelt mit ihrem neugeborenen Kind Schutz sucht. Was als eine routinemäßige Kontrolle beginnt, verwandelt sich schnell in eine unerwartete Verantwortung, die Schrimpfs Leben auf den Kopf stellt. In einer Welt, die sich am Rande des Zerfalls befindet, entdeckt er durch die Fürsorge für Mutter und Kind einen Funken Menschlichkeit, der ihm längst verloren schien. Eine ergreifende Erzählung über Pflicht, Mitgefühl und die Kraft des Überlebens.