„Es lässt sich nicht anders ausdrücken: Für die Stadt existierte der Krieg nicht. Es gab einen geheimen Bezirk, ein Reservat der Seele in jedem Leningrader, in welchem der Krieg nichtexistent war. Das geistige Leningrad, ganz auf den Krieg eingestellt und umgestellt, ignorierte den Krieg. Das kulturelle und das schöpferische Leben dieser Stadt ging weiter, als gäbe es keinen Krieg.“ Und so kam es niemals zu der schon offiziell terminierten Siegesparade auf dem Schlossplatz in Leningrad und zum Offiziersbankett im Hotel „Astoria“. „Die Stadt Leningrad, zerfasert und zerfleischt, deren letzten Lebensäußerungen noch der Krieg und die Blockade den Stempel aufdrückten, erkannte innerlich den Krieg nicht an“, schrieb Erwin Johannes Bach, der deutsche Musikwissenschaftler, Komponist und Schriftsteller, der sich wahrlich mit den Schrecken des 20. Jahrhunderts auskannte, sowohl von Hitler als auch von Stalin verfolgt wurde. „Das Wunder von Leningrad“, das auch einen ausführlichen „Nachsatz“ von Aljonna und Klaus Möckel zu dem Zeitzeugenbericht sowie weitere Texte und Briefe zum Leben und Schaffen von Erwin Johannes Bach enthält. ist sowohl unter edition-digital.de als auch im stationären und Online-Buchhandel zu haben.
Erwin Johannes Bach wurde am 13. Oktober 1897 in Hildesheim geboren, wo er gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Hans aufwuchs und das Abitur ablegte. 1916 bis 1918 erlebte er die Schrecken des Ersten Weltkriegs als Soldat in Frankreich; besonders erschütterte ihn der Tod seines Bruders, der 1917 an der Front fiel. Von 1921 bis 1926 studierte er in Berlin Musikwissenschaft und Philosophie und war danach als Konzertpianist, Musikpädagoge und Schriftsteller tätig. 1929 veröffentlichte er sein wichtigstes Werk „Die vollendete Klaviertechnik“. Ein bereits begonnener Lehr- und Dokumentarfilm mit Zeitlupenaufnahmen wurde 1933 von den Nationalsozialisten jäh abgebrochen. Als Jude und Kommunist 1934 mit seiner jungen Frau vor den Nationalsozialisten in die UdSSR geflohen, geriet er dort in die Stalinschen „Säuberungen“, erlebte Erniedrigung und Verbannung. Während des Zweiten Weltkriegs wurde die mittlerweile fünfköpfige Familie zeitweilig getrennt. Nach dem Vormarsch deutscher Truppen auf Moskau wurden Bach, seine Frau und die 1941 geborene Tochter Aljonna (jetzt Möckel) nach Leningrad evakuiert. Die beiden Söhne wurden in ein Kinderheim nahe Jaroslawl gebracht. 1947 kehrte die Familie nach Deutschland zurück, wo Bach die Leitung der Internationalen Musikbibliothek in Berlin übernahm. Er unterrichtete Meisterschüler aus dem In- und Ausland im Klavierspiel, übersetzte Gedichte und humoristische Prosa aus dem Russischen und beendete 1956 die Arbeit am „Sinfonischen Fresko“ RUF AN DIE MENSCHHEIT, nachdem seine ersten drei Sinfonien durch Flucht und Krieg verlorengingen. Nach einem Schlaganfall, der zum Verlust seiner pianistischen Fähigkeiten führte, unternahm er einen Suizidversuch und verstarb wenig später am 9. August 1961 in Berlin.