Eine andere Frau und ihr fast 100 Jahre währendes, nicht einfaches Leben steht im Mittelpunkt der Erzählung „Fast ein Jahrhundert. Das lange Leben der Alma M., geborene S.“ von Ingrid Möller. Ein unspektakuläres, aber dennoch spannendes und dennoch lebenswertes Leben. Ebenfalls um Lebensfragen und um schwierige Entscheidungen eines Pfarrers zu DDR-Zeiten geht es in der Novelle „Sonntagspredigt oder Heimkehr auf die Insel“ von Siegfried Maaß. Und noch einmal steht ein Menschenschicksal im Mittelpunkt eines Buches, diesmal allerdings ein ausgesprochen weibliches und noch dazu ein höchst ungewöhnliches, das einer Zeitreisenden. Auch im elften von insgesamt 16 Teilen dieser Zeitreisenden-Saga von Hardy Manthey geht es um Maria Lindström alias Aphrodite und die außergewöhnliche Lebensgeschichte dieser Frau. „Zum Ursprung – 15 000 Jahre zurück“, so lautet der Titel dieses fantastischen Romans. Das fünfte und letzte Angebot dieses Newsletters stammt von einem gewissen Nikolai Bachnow, der von einem gestohlenen Tierreich in einem Zauberland erzählt. Aber wer war oder ist eigentlich Nikolai Bachnow? Doch bevor wir eine erste Antwort auf diese Frage am Ende dieses Newsletters geben, zunächst einmal zurück zu Kaplan Berger und zum Beichtgeheimnis.
Erstmals 1980 erschien in der Blaulicht-Reihe des Verlages Das Neue Berlin als Heft 206 die Kriminalerzählung „Ich morde heute zehn nach zwölf“ von Steffen Mohr: Der junge, fortschrittliche Kaplan Berger erfährt im Beichtstuhl von einem geplanten Mord und kann den gerade aus der Haft Entlassenen nicht von seinem Vorsatz abbringen. Was soll er tun? Er kann doch das Beichtgeheimnis nicht brechen. Da er Zeitpunkt und Ort kennt, begibt er sich an den künftigen Tatort. Aber es ist schon zu spät. Bei der Vernehmung durch die Kriminalpolizei schweigt er natürlich. Wie kann er nur den Täter seiner gerechten Strafe zuführen, ohne das Beichtgeheimnis zu verletzen? Hier die erste Begegnung mit Kaplan Berger:
„O Herr, lass mich durchhalten, dachte der für einen Kaplan vielleicht zu gut gewachsene und mit einem zu schönen Gesicht begabte junge Mann. Natürlich kam ihm sein Aussehen, die braunen Augen zum Beispiel und das, rotblonde an Tippy Honnigans Wuschelkrause erinnernde Haar, gerade in einer Großstadtgemeinde zugute. Wusste man doch, dass die Jugend von Popstars wie Honnigan und Konsorten schwärmte. O Herr, barmte er innerlich, aber auf seinen Gesichtszügen malte sich nichts weiter als unbeschwerte Freundlichkeit. Im Miniradio lief mit angemessener Lautstarke das Pokalspiel Erfurt gegen Jena, das Kaplan Berger langweilte.
Der große Zeiger der Sakristeiuhr klickte und zog langsam auf fünf. Flüchtig sah der junge Priester auf die Uhr, die über dem kleinen römischen Kreuz hing. Dann schaltete er das Radio aus, versteckte es in der untersten Lade des Paramentenschranks und streifte sich den glänzend schwarzen Talar über Pulli und Jeans. Nun ähnelte Kaplan Berger doch einer geistlichen Person. Von der Krause abgesehen, glich er fast aufs Haar einer der milden Heiligengestalten auf den großen bunten Bildern des Fräulein Klepzig. Zu ihrem Ärger waren diese bonbonsüßen Darstellungen heiliger Männer und Frauen vor einem Dutzend Jahren aus der Kirche entfernt und durch, wie sie unentwegt mäkelte, „hässliche moderne Fratzen“ ersetzt worden. Seitdem lehnten sie nebeneinander an der dem Fenster gegenüberliegenden Wand des Wäschebodens. Die gute Pfarrhaushälterin vergaß bei keiner großen Wäsche, auf ihrer Ausstellung Staub zu wischen.
Das alles wusste der Kaplan. Es interessierte ihn ebenso stark, wie ihn weibliche Wesen überhaupt interessierten. Lutz Berger hatte sich, eigentlich bereits ab seinem fünfzehnten Lebensjahr, den Idealen seines Berufes verschrieben. Dazu passte nun einmal keine Frau, war sie nun reizvoll und attraktiv oder eine alte Jungfer. O Herr, seufzte er noch einmal und schritt, als der große Zeiger auf eine Minute vor die Zwölf rückte, durch die niedrige Sakristeitür hinaus in die Kirche.
Punkt fünf Uhr begann an jedem Sonnabend die Beichte. Erwartungsgemäß fand Kaplan Berger das Gotteshaus leer. Durch die Scheiben des Seitenschiffs drang gedämpftes Licht. Das reichte im Sommer voll aus, um den Gläubigen, die bis sieben beichten kamen, das Lesen im Gebetbuch zu erleichtern. Den Kindern half es, die Krakelschrift auf ihren Sündenzetteln zu erkennen. Tiefere Dämmerung herrschte dagegen im Beichtstuhl. In dessen mittleren Teil nahm Berger Platz und zog sogleich den violetten Vorhang hinter sich zu. Er schaltete ein schwaches Lämpchen ein. Das wollte er beim Eintreten eines Beichtkindes in den Seitenteil selbstverständlich wieder ausknipsen.
Der Kaplan mochte die Beichte nicht, weil er der Auffassung war, es sei richtiger, sich mit seinen Mitmenschen an einen Tisch zu setzen, um normal und bequem über alle Probleme zu reden. Freilich bestand diese Möglichkeit. Und wie oft hatte er junge Leute in seinem Zimmer unter dem Dach empfangen, damit er ihnen eine Last abnehmen oder gar einen Weg weisen konnte, Schwierigkeiten in der Lehre, zu Hause oder in der Schule zu klären! Leider gab es diese mittelalterliche, die sogenannte Ohrenbeichte noch, zu der man sich in eine „Holzkiste“ zwängen musste und das Beichtkind in die „Kiste“ nebenan kroch. Da kniete es nieder, während er, der Priester, saß, und wisperte einem das Register seiner Sünden durch ein Gitter in der Trennwand ins Ohr. Unnatürlich. Unnormal. Was wollte man machen? Die Gläubigen selbst verlangten nach solcher Geheimniskrämerei. Lutz Berger verstand sie nicht.
Er hatte ein in braunes Leder gebundenes Buch vorgenommen, das hier immer lag, und sann über die Worte nach: „Wahrlich, Petrus, ich sage dir: Ehe der Hahn heute Nacht kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.“ Es war reiner Zufall, dass der Kaplan gerade über diesen Text meditierte. Das rote Leseband hatte an der Stelle gelegen. Irgendwo oben, vielleicht im Himmel, verhallte der letzte Schlag der Kirchturmuhr. Der junge Geistliche hörte trippelnde Schritte, die sich dem Beichtstuhl näherten. An der Art, wie diese Schritte mit Andacht auf dem steinernen Boden auftraten und doch jenen Krach veranstalteten, den mit Eisen benagelte Schuhe in einer leeren Halle hervorrufen, erkannte er die Haushälterin, Fräulein Klepzig.“
Erstmals 2012 veröffentlichte die edition NORDWINDPRESS Dalberg-Wendelstorf die Erzählung „Fast ein Jahrhundert. Das lange Leben der Alma M., geborene S.“ von Ingrid Möller: Am 15. Dezember Anno Domino 1902 wurde in Straßen bei Eldena dem Büdner Heinrich Schult und seiner Ehefrau Anna geborene Bergmann ein Mädchen geboren und getauft auf den Namen Alma. Ein langes Leben - ja, aber kein besonderes - mag mancher sagen, der die Erzählung liest. Aber den Alltag zu bewältigen in diesem 20. Jahrhundert, das zwei Weltkriege, Inflation und Mangeljahre einschließt, verlangte den Menschen viel ab. Und so prägte sich ein Verhalten, das heute mitunter Stirnrunzeln auslösen mag, aber in der Generation in dem mecklenburgischen Landstrich nicht untypisch ist. Herkunft und Erziehung prägten Wertmaßstäbe, die erhalten blieben, auch außerhalb des Dorfes und der dortigen Familie. Wir sind also in Straßen. Moment mal, wo bitte sind wir?
„Straßen ist ein kleines Dorf. So klein, dass es kaum in einem Lexikon zu finden ist. Es liegt im Südwesten Mecklenburgs, in der sogenannten Griesen Gegend, nahe Eldena. Für Anna Schult aber ist es die Mitte der Welt, ihrer Welt. Hier, in der Büdnerei Bergmann, wurde sie am 3. Januar 1861 geboren, hat am 27. Januar 1888 den Eldenaer Landwirt Heinrich Schult geheiratet, der den kleinen Hof übernahm. Vor ihm war sie gewarnt worden, denn sein Vater Christian stand in einem denkbar schlechten Ruf. Zwei Ehefrauen – eine geborene Graf die erste, Rose die zweite, mit der er fünf Kinder hatte - hatte er vom Hof gejagt und dennoch eine dritte - geborene Möhring - gefunden. Doch den Spitznamen „De Düwel“ hatte er weg. Anna Bergmann aber befand, dass sich die Bosheit auf den Sohn nicht vererbt hatte. Kindersegen war ihr reichlich beschieden. Jetzt, Mitte Dezember 1902, soll sie ihr neuntes Kind gebären. Mit nahezu zweiundvierzig Jahren. Das erste war ein Junge und kam ungebeten, als sie noch jung und unverheiratet war. Schon lange hat sie ihn nicht mehr gesehen. Früh musste er aus dem Haus. Mit siebenundzwanzig heiratete sie. Am 1. April 1888 kam ihr erstes gemeinsames Kind zur Welt, Otto. Im Abstand von zwei Jahren gebar sie die übrigen: Ida, Minna, Wilhelm, Heinrich, Emma und Richard.
Und nun? Was dies wohl wird? Eigentlich schon peinlich, in ihrem Alter. Sie schreit nach der Hebamme, denn die Wehen haben eingesetzt. Ja, ja. Sie kommt gleich. Dann geht es schnell. Das Kind ist winzig. „Ne lütte Diern! (Ein kleines Mädchen)“, sagt die Hebamme. Aber ihre Stimme klingt irgendwie anders als sonst, während sie das Kind wäscht und ihm den Klaps auf den Po verpasst. Sie muss kräftiger zulangen, bis das Würmchen einen zaghaften Laut von sich gibt. „Wies mi de Lütt! (Zeig mir die Kleine)“, sagt die Wöchnerin argwöhnisch. Die Hebamme wickelt ein Leinentuch um den kleinen Leib und reicht das Neugeborene der Mutter.
Die seufzt. Wenn das Awmarachen man nicht umsonst war! „Kümmt de dörch? (Kommt sie durch)“ Die Hebamme zuckt die Schultern. „Berrer, se ward gliek döfft (Besser, sie wird gleich getauft).“ Man läuft, den Pastor zu holen. Der ist nicht erreichbar. Dann den Lehrer. Eine Bibel ist im Haus, eine Schüssel Wasser von der Pumpe auch. Es eilt. „Woans sall se heiten (Wie soll sie heißen)?“ „Alma“. Na dann! Die Formalitäten werden schriftlich festgehalten: Am 15. Dezember Anno domini 1902 wurde in Straßen bei Eldena dem Büdner Heinrich Schult und seiner Ehefrau Anna geborene Bergmann ein Mädchen geboren und getauft auf den Namen Alma. Die Einzelheiten - wie die sonstigen Vornamen - kann der Pastor dann später im Kirchenbuch eintragen.
Anna Schult atmet auf. Eine Heidin ist die Lütte nun nicht mehr, falls ... Aber allen Unkenrufen zum Trotz zeigt das schwache Kind einen starken Lebenswillen. So hat es mit der offiziellen Taufe Zeit bis zum 5. Januar 1903. Sie erhält die zusätzlichen Namen Johanna und Marie. Sobald Alma laufen kann, wuselt sie um die Mutter herum. Die reagiert genervt: „Gah mi vor de Fäut weg! (Geh mir vor den Füßen weg)“ Aber einmal kommt sie in der Küche doch nicht schnell genug weg und wird verbrüht. Ihr Leben lang wird sie überzeugt sein, dass sie deshalb so dünne Haare hat.
Dann läuft sie hinter den Geschwistern her, was ihr auch nicht immer gut bekommt. Am sichersten ist sie noch bei der Oma, an deren Schürzenzipfel sie sich nun hängt. Die Oma ist gäuding zu ihr, warnt sie aber ein bisschen zu viel vor den Gefahren des Lebens. Möchte Alma den Jungen nach in den Wald, heißt es: Dort gibt es Räuber und andere fremde Leute. Wenn die Jungen zur Elde baden gehen, heißt es „Bliew du man bi Oma’n, lat de Jungs man versupen! (Bleib du man bei Oma, lass die Jungs man ersaufen)“ Oder wenn sie auf Bäume klettern und Krähennester ausnehmen: „Lat de man dalplumpsen und sick dat Genick bräken! (Lass die man runterplumpsen und sich das Genick brechen)“ Alleinsein und Dunkelheit geht natürlich gar nicht, da spuken ja die Gespenster rum.
Als Alma vier ist, zieht die Familie um nach Eldena auf eine Bauernstelle. Nun sind sie keine Büdner mehr, sondern was viel besseres, nämlich Bauern. Stolz dürfen sie jetzt den „Buernweg“ (Bauernweg) benutzen. Allerdings verschulden sie sich hoch. Die Felder liegen weit auseinder, sind nur zeitraubend zu bewirtschaften. Gespart wird an allem. „Gaud Bodder“ (Gute Butter) kommt nicht auf den Tisch. Dafür Pökelspeckschwarte in Eintopf.
Alma schmeckt das so wenig wie ihren Geschwistern. Heimlich steckt sie Schwarten in ihre Schürzentasche oder wirft sie gleich unter den Tisch zu den Hunden, wenn die nicht vorher durch den Befehl „Hunn’n rut!“ (Hunde raus) rausgejagt worden sind. Für Gäste - wenn es denn mal welche gibt - hat die Mutter einen aufmunternden Spruch parat „Esst, leiwe Gäst, schont de Wust und langt äwer den Bodder weg!“ (Esst, liebe Gast, schont die Wurst und langt über die Butter weg) Holzpantoffeln - hölten Tüffel - müssen möglichst lange halten. Wenn es einigermaßen warm ist, heißt es „barst“ (barfuß) lopen.
Aber es gibt auch Feste. Weihnachten zum Beispiel. Da schlägt der Vater eine Fichte im Wald, stellt sie in der Stube auf, hängt Äpfel und steckt Kerzen dran. Und wenn die Glocke ertönt, dürfen die Kinder kommen. Alle fassen sich an und wandern um den Tannenbaum, wobei sie Weihnachtslieder singen. Dann dürfen sie ihre Geschenke auswickeln. Bei den Jungen ist es immer ein Pferdegespann, das der Vater geschnitzt hat. Bei den Mädchen eine Puppe mit Lehmkopf, festgenäht in einem Schuhkarton. Immer wieder zur Vorsicht ermahnt, dürfen die Kinder die Festtage über damit spielen, dann wird alles wieder eingesammelt, bis zum nächsten Jahr, wo sich die Zeremonie wiederholt.
Als Alma zur Schule kommt, kann sie ganz sicher kein Wort Hochdeutsch (denn das konnten die Kinder der nächsten Generation noch nicht einmal), aber sie kommt gut mit. Es kränkt sie, dass die Kinder ihr „Dickhals!“ nachrufen, denn ihr wächst ein Kropf. Ihr Vater tröstet sie, kauft ihr neue Kleider, die sie dann im Kuhstall auf dem Melkschemel vorführen muss. „Dreih di nochmal!“ (Dreh dich noch mal) heißt es dann, und „Du büst noch de Hübschte von allen!“
Das bringt sie auf den Gedanken, ihre Mutter zu bitten: „Kannst mi nich eins awnähmen laten?“ (Kannst du mich nicht mal fotografieren lassen) „Woans kümmst du up sowat! Dat wier ja rutsmeten Geld! Nu segg mal sülwst: wotau wist du‘n Foto von di hebbn? - „Tau’n Ankieken.“- „Dann kiek man in’n Pisspott, dor kannst du di ok ankieken.“ („Wie kommst du auf so was! Das wäre ja rausgeschmissenes Geld! Nun sag mal selbst: Wozu willst du ein Foto von dir haben?“ - „Zum Angucken.“ „ Dann guck in den Nachttopf, da kannst du dich auch angucken.“)“
Ein knappes Jahrzehnt vor der Jahrhundert-Biographie von Alma, 2004, brachte Siegfried Maaß im BK-Verlag Staßfurt erstmals seine Novelle „Sonntagspredigt oder Heimkehr auf die Insel“ heraus: Brückstedt - eine fiktive Kreisstadt in der realen DDR. Ein alleinstehender Mann beantragt ein Reisevisum, um seine schwer erkrankte Mutter in Westdeutschland besuchen zu dürfen. Das Visum wird ihm verweigert „Wenn Sie wenigstens verheiratet wären“, wird ihm lakonisch erklärt. Aber der Antragsteller ist katholischer Pfarrer. Jahre später kann er endlich das Grab seiner Mutter besuchen und zugleich seine jüngere Schwester, die einst mit ihrem Freund nach Westdeutschland floh. Doch sie glaubt nicht, was er ihr berichtet und hält ihm vor, sich zwar um das Seelenheil anderer zu kümmern, aber seiner eigenen Mutter in ihren letzten Stunden nicht beigestanden zu haben. Der schon in der gemeinsamen Kindheit im Elternhaus entstandene Konflikt zwischen den Geschwistern spitzt sich zu; die von einem freudlosen Leben gezeichnete Schwester, vereinsamt und dem Alkohol zugeneigt, bietet keine Chance zu einem geschwisterlichen Ausgleich. Enttäuscht und mit sich selbst unzufrieden und sich zugleich seines Anteils an dem endgültigen Bruch mit seiner Schwester bewusst, verlässt der Pfarrer vorzeitig den Wohnort seiner Schwester. Während der nächtlichen Bahnfahrt begegnet er einer schwarz gekleideten Dame, die sich auf dem Weg nach Brückstedt zur Beerdigung ihrer Mutter befindet. Es ist die ehemalige Polizistin, die damals zu ihm gesagt hatte: „Wenn Sie wenigstens verheiratet wären ...“ Eine scheinbar ganz private Geschichte mit einem politischen Hintergrund, vor dem sich der Konflikt von einst zu einem ganz aktuellen ausweitet und seine Konsequenzen fordert. Hören wir den Anfang dessen, was der alleinstehende Pfarrer berichtet:
„Gestern bin ich aus S. zurückgekehrt. Einen Tag früher als beabsichtigt. Ich glaube, niemals zuvor hatte ich eine solche Erleichterung bei der Heimkehr von einer Reise empfunden. Als wäre ich auf der Flucht gewesen und endlich an einem sicheren Ort angekommen. Den sicheren, mir gut bekannten Ort hatte ich wirklich erreicht. Aber war ich vor Marie, meiner Schwester, tatsächlich geflohen? Oder gar vor Lydia?
Ich wusste es nicht und wollte jetzt auch nicht darüber nachdenken. Während der ganzen langen Fahrt hatte mich kaum etwas anderes beschäftigt als mein Verhältnis zu meiner Schwester Marie. Wäre nicht die schwarz gekleidete Frau mit dem Schleier vor ihrem Gesicht zu mir ins Abteil gekommen, hätte ich wahrscheinlich noch während der Fahrt etwas Abstand gewonnen und auch etwas schlafen können. Doch ohne Marie zu kennen und von unserer gestörten Beziehung zu wissen oder auch nur zu ahnen, auf welche Weise ich meine Schwester verlassen hatte, lenkte sie meine Gedanken ungewollt in die entgegengesetzte Richtung unserer Fahrt – nämlich zurück zu Marie und damit auch in jene Zonen meines Bewusstseins, die ich gern endgültig hinter mir lassen wollte. Erst nachdem sich unsere Wege getrennt hatten, gelang es mir, ruhiger zu werden und mich auf meine Heimkehr zu freuen. Durch keine weiteren belastenden Überlegungen wollte ich meine Freude trüben lassen.
Auf dem Markt unserer kleinen Stadt verließ ich den Bus, mit dem ich aus unserer Kreisstadt gekommen war. Es erschien mir als glücklicher Zufall, dass er abfahrbereit am Bahnhof gestanden hatte, als ich die Stufen hinab stieg und schwer an meinem Koffer schleppte. Auf diese Weise entging ich der Entscheidung, mit einer Taxe fahren zu müssen, was für mich eine verschwenderische Ausgabe bedeutet hätte.
Vom Busfenster aus beobachtete ich meine ungebetene Reisegefährtin, von der ich mich bereits im Zug verabschiedet hatte. Flüchtig genug, um erkennen zu lassen, dass meinerseits kein weiterer Gesprächsbedarf bestand. Jedoch ausreichend beherrscht, um nicht als unfreundlicher und nachtragender Schwarzkittel, der einmal erlittenes Unrecht nicht verzeihen kann, in Verruf zu geraten.
Offenbar war sie bereits am Bahnsteig von ihrem Bruder in Empfang genommen worden; eindringlich, als wäre es von besonderer Bedeutung, hatte sie mich wissen lassen, dass er sie abholen wolle. Mit einem großen, kräftig wirkenden Mann sah ich sie aus dem Bahnhofsportal heraustreten. Er trug einen dunklen Anzug und eine schwarze Krawatte auf weißem Hemd. Den Koffer seiner Besucherin behandelte er, als sei er völlig leer und wechselte ihn leichthändig und schwungvoll auf die andere Seite, um seine Schwester mit der rechten Hand unterfassen zu können. Noch bevor mein Bus abgefahren war, hatten die beiden mit einem Taxi bereits den Bahnhofsvorplatz verlassen.
Für die etwa zwanzig Minuten währende Fahrt bis Burghausen richtete ich mich auf meinem Platz so bequem wie möglich ein. Von der langen Bahnfahrt schmerzte mich jede Faser meines Körpers. Am liebsten wäre ich im Mittelgang auf- und abgelaufen, unterließ es jedoch der anderen Fahrgäste wegen. Vielleicht konnte ich mich am Nachmittag mit Gartenarbeit wieder etwas in Schwung bringen. Doch mit dieser stillen Hoffnung betrog ich mich selbst. Auf meinem Schreibtisch würde ein Berg Arbeit auf mich warten. Und auch meine Sonntagspredigt schrieb sich nicht allein.
Zu dieser Stunde war der Bus aus der Kreisstadt nahezu leer. Nur einige Frauen fuhren mit mir, die mich beim Einsteigen erstaunt angesehen hatten. Sie arbeiten als Kassiererinnen in unserem ländlichen Supermarkt. Auf der Rückfahrt würde der Bus gut besetzt sein, weil viele Pendler in die Kreisstadt fahren. Obwohl mir die Augen zufallen wollten, blickte ich während der Fahrt aus dem Fenster. In der waldlosen und flachen Landschaft, in der Fremde kaum Sehenswertes entdecken können, fühlte ich mich sofort wieder heimisch. Seit meiner Kindheit bin ich es gewöhnt, weit ins Land blicken zu können und kann Gebirge kaum länger als eine Urlaubswoche ertragen - schon bald spüre ich dann Beklemmungen, fühle mich eingezwängt und sehne mich nach der Ebene zurück.
Ähnlich erging es mir auch in S. Eingebettet in einen Talkessel, der von dichten Wäldern umgeben ist, erlaubt die Stadt keinen Blickkontakt mit dem Horizont. Lediglich vom Schloss aus, dem höchsten Punkt der Stadt, kann man über die Wipfel hinwegsehen. Aus dem Bus heraus erkannte ich nun die Turmspitzen der beiden Burghausener Kirchen, die mir stets wie ungleiche Geschwister erschienen. Hoch aufragend und erhaben der Turm der evangelischen St. Petrikirche, eines romanischen Bauwerks, mit dem nicht allein die Gemeinde, sondern auch die Stadt renommiert. Dagegen der kurze, gedrungene Turm „meiner“ Kirche - als stünde sie, schlicht und unansehnlich, ganz im Schatten der anderen. Dennoch erkannte ich auch „meinen“ Turm, dessen Schieferdach sich im Maimorgenlicht dunkel abhob. Von diesem Augenblick an konnte ich es kaum erwarten, endlich mein Ziel zu erreichen. Außerdem war ich neugierig zu sehen, wie Juliane auf meine verfrühte und damit unerwartete Ankunft reagierte.“
Erstmals 2013 veröffentlichte die EDITION digital die 2., überarbeitete Auflage des 11. Teils der nur als E-Books erscheinenden Zeitreisenden-Reihe von Hardy Manthey. Der Titel des fantastischen Romans lautet „Zum Ursprung – 15 000 Jahre zurück“: Ein Leben voller Abenteuer liegt hinter unserer Zeitreisenden. Was musste Maria Lindström, die sich selbst stolz Aphrodite nennt, nicht alles überstehen! Auf dem Flug zum Pluto wurde sie ohne ihre Zustimmung als Versuchsperson benutzt und unfreiwillig schwanger. Das war aber nur der Anfang einer langen Leidensgeschichte. Der Sturz durch Raum und Zeit in die Vergangenheit sollte die Leidensfähigkeit der Zeitreisenden auf eine harte Probe stellen. Ihr Schicksal in der Sklaverei und ihre erzwungenen Hurendienste sind für sie unvergessene traumatische Erlebnisse. Es war ein ewiger Überlebenskampf, der sie tief in ihrem Herzen geprägt und für immer geformt hat. Dass sie später zu Macht und großem Reichtum gelangte, hat daran nichts geändert. Am Ende blieb ihr nur die Flucht. Ihr Leben danach auf dem Planeten der Frauen war ebenso spektakulär. Vielleicht hat sie es aber doch geschafft, dort das Rad der Geschichte ein Stück weiter zu drehen. Die Abenteuer in der Zukunft hätten sie beinahe das Leben gekostet. Doch ihr Wirken hat auch dort für ein Umdenken gesorgt und die Macht der Unsterblichen für immer gebrochen. Zurück in ihre Welt, die Welt des 23.Jahrhunderts, war ebenfalls kein Spaziergang. Die Freude, Bruder und Schwester zu sehen, wurde schnell von dunklen Machenschaften verschiedener Kreise getrübt. Für den Entschluss, zurück in die antike Zeit zu reisen, wurde sie nicht belohnt. Das Land der Pharaonen wollte sie ebenfalls nicht haben. Nun soll sie den Kampf gegen außerirdische Zivilisationen in einer fernen Vergangenheit, in der Steinzeit, aufnehmen. Wird ihr das gelingen? Zunächst einmal aber lernen wir am Anfang des Buches Aphrodite in all ihrer weiblichen Schönheit kennen, die durch keinerlei Kleidung verhüllt wird – gänzlich nackt:
„Aphrodite schlägt die Augen auf und sieht, wie sich der Sarkophag gerade öffnet. Wie gewohnt steigt sie aus und streift sich dabei mit den Händen den letzten Rest der grünen Flüssigkeit vom Körper. Dabei stellt sie überrascht fest, dass sie nicht die geringsten Spuren der Schwangerschaften und der Geburt der beiden Kinder an sich erkennen kann. Sie hatte sich damit abgefunden, dass eine hässliche Narbe vom Kaiserschnitt zurückbleibt. Doch ihr Körper erscheint perfekter denn je. Sind auf Wunsch der Männer ihre Brüste noch größer geworden? Nicht dass die Brüste ihr jetzt zur Last werden! Die Männer sind mit ihren Fantasien scheinbar maßlos geworden. Sie denken nicht daran, dass zu viel des Guten für eine Frau zu einer echten Belastung werden kann. Am Po hat sie auch zugelegt. Oder war sie schon immer so gebaut? Was solls, sie muss sich nehmen, wie sie eben ist. Sie schaut sich um. Überrascht stellt sie fest, dass die Sarkophage auf der anderen Seite auch schon offen sind. Hat sie etwas verpasst? Wo sind die Kinder?
Sie hört eine unbekannte tiefe Stimme hinter sich sagen: „Hallo, Mutter. Wie geht es dir? Bist du wohlauf?“ Aphrodite dreht sich um und sieht einen jungen Mann vor sich stehen. Der hübsche schlanke junge Mann trägt eine Kombination aus einem silbrig schimmernden Stoff. Er hat einen prächtigen schwarzen Lockenkopf und strahlend blaue Augen. Aphrodite weiß, es sind ihre Augen, die sie ihrem Sohn mitgegeben hat. Der junge Mann vor ihr hat sehr viel Ähnlichkeit mit ihren anderen Söhnen. Nur hat dieser pechschwarzes Haar und scheint auch größer als ihre Söhne Alexander und Adam zu sein. Woher er wohl die schwarzen Haare haben könnte? Aber der junge Mann gefällt ihr auf den ersten Blick und darum sagt sie: „Hallo, Söhnchen! Hallo, Marotti! Du siehst gut aus. Wie geht es dir? Komm zu deiner Mama und lass dich umarmen!“
Jetzt geht sie auf ihren Sohn zu. Auch er kommt ihr entgegen und schaut sie dabei nur so komisch an. Aphrodite drückt ihn fest an ihre Brust. Sie spürt es jetzt ganz deutlich, das ist ihr Sohn. Plötzlich wird Aphrodite bewusst, dass sie immer noch völlig nackt ist. Aha, darum hat ihr Söhnchen so komisch geguckt. Er ist mein Kind, er darf mich so sehen, entschuldigte sie sich und genießt die Nähe des jungen Mannes. Der junge Marotti bekommt einen roten Kopf, ihm gefällt aber auch spürbar ihre innige Umarmung und er sagt: „Mutter, du bist einfach nur umwerfend. Du fühlst dich richtig gut an. Alles an dir ist so herrlich weich und warm. Jetzt begreife ich, warum Männer in deiner Nähe den Verstand verlieren.“ Er löst sich zaghaft von ihr. „Aber du solltest erst einmal unter die Dusche gehen und dir dann etwas anziehen. Auch wenn du meine Mutter bist, bleibst du immer noch eine wahnsinnig schöne Frau. So eine schöne Frau, wie du es nun mal bist, darf nicht völlig nackt vor einem Mann herumlaufen. Du bist Verlockung und Lust pur. Auch oder gerade deshalb solltest du deinen Sohn nicht so sehr verwirren!“
„Ach, neuerdings stört es dich, wenn ich nackt vor dir herumlaufe? Ja, ich sehe es jetzt auch, du bist ein richtiger Mann geworden!“, sagt Aphrodite spöttisch, löst sich ganz von ihrem Sohn und geht unter die Dusche, die wie aus dem Nichts aus der Wand kommt. Sie genießt die Dusche und seift sich extra ein. Ihr Sohn: „Soll ich dir den Rücken einseifen?“ „Das wäre lieb von dir, mein Sohn, ich meine Marotti!“, sagt sie und hält ihm schon ihren Rücken hin. Mit viel Gefühl wird jetzt ihr Rücken eingeseift. An ihren Po traut er sich aber nicht heran. Aphrodite genießt seine sanften Hände. Nach der Dusche stellt sie wie immer die Luftdusche an. Der angenehm warme Luftstrom duftet nach Kräutern, die in den Bergen Siziliens gedeihen. Mit geschlossenen Augen glaubt sie, in ihrem Palast in Syrakus zu stehen. Für einen kleinen Moment fühlt sie sich gar ins antike Syrakus zurückversetzt. Doch die Illusion ist nur von kurzer Dauer. Etwas traurig steigt sie aus der Dusche. Ihr Sohn empfängt sie mit einem Tuch und reibt sie jetzt auch sorgfältig ab. Der junge Mann braucht dafür auffallend lange. Er nutzt das Tuch, um seine Mutter gründlich zu erkunden. Man merkt ihm an, dass er mit viel Genuss ihre Rundungen ergründet. Aphrodite nimmt es locker und genießt seine Aufmerksamkeit.
Plötzlich fühlt er sich ertappt und reicht Aphrodite, verlegen geworden, das Tuch: „Mutter, du bist wirklich eine schöne Frau!“ „Für deine Gefühle brauchst du dich nicht zu schämen. Dass eine Frau bei einem Mann allein durch ihre Erscheinung, ihre Anwesenheit Gefühle auslöst, ihn erregen kann, ist etwas ganz Natürliches. Für dich, der solange körperlos gelebt hat, ist es etwas Neues. Du musst lernen, damit umzugehen. Jeder Mann muss lernen, seine Gefühle zu kontrollieren und sich nicht wie ein Tier, nur vom Trieb gesteuert, auf die Frau, das Lustobjekt in seinen Augen, zu stürzen. So wie ich jetzt aussehe und beschaffen bin, das habe ich euren Künsten zu verdanken. Ich bin euer Fantasieprodukt. Ihr wolltet es doch so, dass ich als Frau mit allen weiblichen Attributen üppig ausgestattet werde. Die Macht, die ihr über mich habt, hat das möglich werden lassen. Oder irre ich mich?“, behauptet Aphrodite. Sie weiß nicht, ob es wirklich so gut ist, Produkt ausufernder Männerfantasien zu sein. Sie ist es, die mit diesem Körper leben muss.“
Erstmals 2003 veröffentlichte ein Nikolai Bachnow bei der bei LeiV Buchhandels- und Verlagsanstalt als Band 8 Aljonna und Klaus Möckel „Das gestohlene Tierreich“: Etwas Unvorstellbares passiert im Zauberland: das Tierreich mitsamt seinem König, dem Tapferen Löwen, wird gestohlen. Ein Riese streut Schrumpfpulver über dem Wald aus, so dass Bäume und Sträucher, aber auch die Tiere um ein Vielfaches kleiner werden. Dann rollt er alles wie einen Teppich zusammen und schleppt es als Spielzeug für seine Kinder in die Berge. Das Unglück könnte nicht schlimmer sein! Während die Tiere größte Mühe haben, sich an ihre neue Lage anzupassen, stehen der Scheuch, Betty, Jessica und andere, die ein Waldfest besuchen wollten, dem Ereignis fassungslos gegenüber. Sie nehmen die Spur des Riesen auf, doch wie sollen sie helfen? Wieder einmal müssen sie unerwartete Hindernisse überwinden, gefährliche Abenteuer bestehen. Sie geraten in die Fänge doppelköpfiger Geier und Jessica mit Betty sogar in die Gefangenschaft des Riesenmädchens Bomm. Doch mit Hilfe eines Steinbocks und eines klugen Marabus gelangen sie schließlich ans Ziel. Gemeinsam mit den Tieren kann letztendlich die schwierige Aufgabe der Rückverwandlung in Angriff genommen werden.
„Mit dem letzten Band der Reihe beweist Nikolai Bachnow noch einmal, zu welch fantastischen Ideen er fähig ist. Die Geschichte vom Tierreich ist toll und macht dieses Märchen zu etwas ganz Besonderem“, hieß es in einer begeisterten Rezension von Karolin Kullmann. Dieses Buch, 2003 bei LeiV (Leipzig) mit Illustrationen von Hans-Eberhard Ernst schienen, ist das achte von mehreren Büchern, die an die bekannte Reihe des Russen Alexander Wolkow anschließen. „Endlich befindet man sich wieder in Gefilden, die nicht mehr futuristisch oder abstrakt anmuten", lobte Kritikerin Karolin Kullmann. Und so geht es los:
„Erster Teil: Das unheilvolle Pulver
Der Riese
Ein dumpfes Geräusch ertönte in der Ferne, ein Stampfen, das sich wiederholte und immer lauter wurde. Der Tapfere Löwe, Herrscher des mitten im großen Zauberland gelegenen Tierreichs, hob den Kopf. Er hatte nach einem ausgezeichneten Mahl am Fuße seiner Felsenburg in der warmen Mittagssonne gedöst, doch nun wurde er wach. Die Laute waren ungewöhnlich, wenn nicht sogar beunruhigend.
Der Hase hoppelte herbei, einer seiner Minister. „Hörst du das Trampeln, Herr?“, rief er aufgeregt. „Es scheint näher zu kommen. Was mag das sein?“
Der Löwe erhob sich. „Das möchte ich auch gern wissen. Ganz schön unverschämt, so unsere Mittagsruhe zu stören.“ Er gähnte.
Das Geräusch verstummte, erscholl aber nach einigen Minuten erneut und noch stärker. Ein Trapsen wie von Riesenstiefeln, die Gehölz niederwalzten, Baumstämme zerbrachen. Dem Hasen zitterten vor Angst die Pfoten, der Puschelschwanz und die langen Löffel. „Das klingt wie ein Schritt. Als stapfte ein Riese heran!“ „Ein Riese bei uns? Bist du noch bei Verstand? Wo soll der herkommen?“
Inzwischen flatterten erschrocken Vögel durch die Luft, verkrochen sich in ihren Nestern und Baumhöhlen. Wildschweine, Füchse, Rehe flüchteten ins Unterholz. Nun waren die Schritte schon ganz nahe. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, jagte der Hase davon, verschwand in seinem Bau. Der Löwe dagegen stieß ein wütendes Gebrüll aus. Er würde es dem Eindringling zeigen.
Doch er kam nicht dazu, den Feind ins Auge zu fassen. Ein Schatten verdunkelte die Sonne, eine Schuhsohle, fast so groß wie der Vierbeiner selbst, senkte sich auf ihn herab, so dass er mit einem jähen Satz zur Seite springen musste, wenn er nicht zertreten werden wollte. An der Stelle, wo er gerade noch gestanden hatte, wurden ein Strauch zermalmt, ein paar mächtige Steine in den Boden gedrückt, als sei der aus Wachs. Eine Stimme, die das Löwengebrüll um ein Vielfaches übertönte, sagte dröhnend: „Das ist lustig. Das wird den Kleinen gefallen.“
„Wer bist du? Wer ist das, die Kleinen? Was soll ihnen gefallen?“, wollte der König des Tierreichs fragen, verstummte aber bereits nach den ersten Worten. Der Kerl, der wie ein Turm vor ihm stand, griff nämlich in einen Sack und streute mit weitem Schwung, so als säe er Korn aus, ein graues Pulver in die Gegend. Über die Wälder, die Wiesen, die Tiere und Vögel. Der Löwe duckte sich, versuchte auszuweichen – vergebens. Das schrecklich stinkende Zeug rieselte in dichten Schwaden auf ihn, die Pflanzen und Steine ringsum herab.
Der hat Schlimmes mit uns vor, will uns vielleicht sogar ersticken, schoss es dem Löwen durch den Kopf. Doch weiter kam er mit seinen Gedanken nicht. Die Beine knickten ihm weg, der Kopf wurde schwer, die Augen fielen ihm zu, und ohne etwas dagegen tun zu können, sank er betäubt zu Boden. Genau wie die anderen Wald-, Sumpf- und Steppenbewohner, die Vierbeiner und Vögel, die Schlangen, Echsen und Lurche. Selbst wenn sie sich gerade in ihren Höhlen aufhielten oder in letzter Minute dorthin geflohen waren, konnten sie nicht entrinnen. Das Pulver und sein beißender Geruch verbreiteten sich überall, drangen in jedes Loch, jede Ritze. Höchstens trat die Wirkung manchmal später ein, war ein bisschen schwächer. Auf jeden Fall aber reichte sie aus, den Tieren das Bewusstsein zu nehmen, so dass sie stumm dalagen, sich nicht mehr regen und keinen Laut mehr von sich geben konnten.
Aber noch etwas anderes, ganz Eigenartiges geschah! Es betraf neben Tieren und Vögeln auch die Bäume, Büsche, Pflanzen und sogar die Steine. Niemand außer dem Kerl, der das Pulver verstreut hatte, bemerkte anfangs die Veränderung, dämmerten doch alle in tiefer Benommenheit dahin. Und selbst als der Löwe wieder zu sich kam, begriff er die neue Lage nicht. Um ihn herum war es stockfinster, er fühlte sich eingequetscht, der Boden unter ihm schwankte und es kam ihm vor, als trüge man ihn davon. Ich bin in einen großen Teppich eingerollt, dachte er, der Riese hat mich betäubt und ein Tuch um mich geschlagen, er will mich in seine Höhle schleppen, vielleicht um mich am Spieß zu rösten. Ich muss mich unbedingt befreien.
Nach und nach gelang es dem Vierbeiner, sich etwas Raum zu verschaffen. Er streckte die Pfoten aus und kroch langsam ins tiefe Dunkel hinein - er sah nirgends Licht. Nein, da war nicht bloß eine Decke um ihn und allein war er hier auch keineswegs: Er stieß auf Steine, Gesträuch, Bäume, genau wie bei sich zu Hause. Vögel flatterten vor ihm auf und ein Reh sprang über moderndes Holz.
Denn in Wirklichkeit hatte der Riese nicht nur ihn, sondern den ganzen Wald eingepackt. Als Spielzeug für seine Zwillinge. Er beherrschte einige Zaubertricks und hatte das Pulver so zusammengemixt, dass alle Lebewesen und Gegenstände auf eine ihm genehme Größe schrumpften. Zufrieden hatte er zugeschaut, wie das gesamte Tierreich unter ihm kleiner und kleiner wurde, bis es sich nur noch als großer grüner Teppich darbot. Mit groben Händen hatte er diesen Teppich vom steinigen Untergrund gelöst und ihn mit allem, was darauf wuchs, fleuchte oder kreuchte, zu einer riesigen Rolle geformt. Ähnlich wie man den Kunstrasen in einem Fußballstadion zusammenwickelt. Dann hatte er den Packen unter den Arm genommen und war davongestapft, auf sein weit entferntes heimatliches Tal zu.“
Nun wird es aber wirklich Zeit, die Identität von Nikolai Bachnow zu klären, des würdigen Nachfolgers und kräftig-in-die-Fußstapfen-Treters von Alexander Wolkow. Allerdings gibt es gar keinen Nikolai Bachnow – jedenfalls nicht einen einzigen, sondern gewissermaßen zwei. Lassen Sie mich dazu der Einfachheit und Bequemlichkeit halber das komplette Vorwort zu dem gerade vorgestellten Band 8 der Nikolai-Bachnow-Bücher „Das gestohlene Tierreich“ zitieren: „Als Alexander Wolkow Mitte des vorigen Jahrhunderts seine Bücher über das Zauberland jenseits der Weltumspannenden Berge veröffentlichte, in denen er sich am berühmten „Zauberer von Oz“ des Amerikaners Lyman Frank Baum orientierte, konnte er nicht ahnen, welchen Erfolg er damit haben würde. Nicht nur in der damaligen Sowjetunion fanden die Geschichten vom Mädchen Elli, dem Weisen Scheuch, dem Tapferen Löwen und dem Eisernen Holzfäller zahlreiche Leser, sie wurden auch in viele Sprachen übersetzt. In der DDR wuchsen Generationen von Kindern mit den sympathischen Helden auf, und die Wolkow-Bücher überlebten schließlich sogar die Wende.
1992 wurde der „Zauberer der Smaragdenstadt“ im LeiV Verlag Leipzig neu herausgebracht und stand, genau wie einige weitere Bücher der Märchenreihe, in den Bestsellerlisten für Kinderliteratur lange an vorderster Stelle. Es ist nicht erstaunlich, dass sich in Russland und anderswo bald Autoren fanden, die an diesen Erfolg anknüpfen wollten. Nach einigen Experimenten mit russischen Schriftstellern, die, den neuen Zeiten Rechnung tragend, die Wolkowschen Gestalten zum Teil auf ferne Atolle und ins Weltall schickten, kam der Verlag auf die Idee, wieder die ursprüngliche Wirkungsstätte in den Mittelpunkt zu rücken. Klaus und Aljonna Möckel, die sich als Schriftsteller bzw. Übersetzerin in der DDR einen Namen gemacht hatten, übernahmen unter dem Pseudonym Nikolai Bachnow (Nikolai als russische Version von Klaus; Bachnow nach dem Mädchennamen Bach der Übersetzerin), die Aufgabe, weitere Geschichten für die sympathischen Helden zu erfinden.
Natürlich sollten die Leser – Kinder und Erwachsene, die diese Bücher früher verschlungen und inzwischen selbst Kinder hatten - den Bezug zum bisherigen Geschehen herstellen bzw. den Übergang nachvollziehen können. Neue Gestalten waren schon in den letzten Wolkow-Bänden aufgetaucht, Söhne und Nichten der ursprünglichen Heldin Elli bestanden gefahrvolle Abenteuer, und in drei Bänden des Nachfolge-Autors Kusnezow wirkten weitere Helden mit. Doch das ursprüngliche Zauberland rückte dadurch in den Hintergrund, war kaum noch fassbar, das Geschehen oft verwirrend und zu abstrakt dargestellt.
Um diese Situation, die von vielen Lesern als unglücklich empfunden wurde, zu beenden und gleichzeitig die wichtigsten Verbindungen fortzuführen, konzentrierten sich Aljonna und Klaus Möckel erneut auf die Grundzüge der Zauberland-Serie. Sie hielten, zumindest in den ersten Bänden, an einigen der neueren Figuren wie dem Kapitän Charlie oder Chris Tall, Ellis Sohn, fest, stellten aber die vertrauten Gestalten wieder mehr ins Zentrum. Mit der Zeit formte sich ein neues Ensemble, in dem neben dem Scheuch, dem Löwen und dem Holzfäller besonders Goodwins Enkelin Jessica und die Puppe Prinzessin Betty, die der Scheuch zur Frau genommen hatte, herausragten, zu dem aber auch witzige Gestalten wie der Hobbyzauberer Pet Riva, die starke Spinne Minni oder der schlaue Mäuserich Larry Katzenschreck gehörten.
1996 kam es zur Veröffentlichung des ersten Bachnow/Möckel-Bandes „In den Fängen des Seemonsters“, in dem sich die Bewohner des Zauberlandes mit einer Verschmutzung im Muschelmeer, dem Reich der Fee Belldora, auseinandersetzen müssen. „Manches hat sich im Zauberland verändert“, schrieb seinerzeit die Kritikerin Karolin Kullmann im Internet, „aber dennoch hat man von der ersten Seite an das Gefühl, wieder im wundervollen Märchenreich zu sein ... Mit dem Autor Nikolai Bachnow, der von nun an das Schreiben neuer Geschichten übernimmt, hat die Reihe viel dazu gewonnen.“ Und die Rezensentin, die auch zu den späteren Büchern Kritiken verfasste, sprach am Ende die Hoffnung aus, „dass auch die Nachfolger mithalten können“.
Von dem Autorenpaar entstanden in den Jahren 1996 bis 2003 acht Bände, die nun auch digital vorliegen. Aljonna und Klaus Möckel hatten sich vorgenommen, gut verständlich, spannend, mit Fantasie und Humor zu erzählen, so wie es für Kinder (und Erwachsene) sein sollte. Der Leser mag nun selbst urteilen, ob sich die Hoffnung der Kritikerin erfüllt hat.“
So, das war jetzt vielleicht ein bisschen ausführlich. Aber nun ist hoffentlich alles ge- und erklärt. Und es bleibt nur noch die bekannte Schlussformel unserer wöchentlichen Newsletter mit den aktuellen Deals der Woche der EDITION aus Godern nahe der Landeshauptstadt Schwerin: Viel Spaß beim Lesen und bis demnächst.