Auf ungewöhnliche Weise schreibt Herbert Friedrich über ungewöhnliche Situationen in seinem Buch „In des Teufels Küche und andere Erzählungen“.
Ebenfalls von Herbert Friedrich stammt „Dorado oder Unbekanntes Südland“: Der junge Holländer Daniel Hillebrant arbeitet bei der Handelscompagnie seines Landes in der kambodschanischen Königsstadt Lauweck. Er weiß, dass sein Schwiegervater Abel Janszoon Tasman, ein erfahrener Schiffsmann, dessen Expeditionen jedoch nicht den erhofften Erfolg haben, ein unglücklicher Mensch ist … Was wird er tun?
Unternehmungslustige Jungen und Mädchen raten kräftig aneinander und lernen sich schließlich gegenseitig schätzen in der Feriengeschichte „Ein Blechpottorchester“ von Gerhard Dallmann.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Die Geschichte der Gussmanns ist weit mehr als eine Familiengeschichte, es ist auch die Geschichte des Dritten Reiches und sie zeigt, wie sich die Menschen unter den damaligen Zeitumständen verhalten haben. Und was dieses Wissen für heutige Zeiten bedeuten könnte.
Erstmals 1986 erschien im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar der Roman „Die Geschichte der Gussmanns“ von Wolfgang Licht: Die Geschichte der Gussmanns beginnt mit Wilhelm, einundzwanzig Jahre alt, gelernter Dreher. An einem kalten Morgen im Herbst 1927 verlässt er die Pflegeeltern und kommt in die fremde Stadt. Mehr als die Kälte treibt ihn die Erwartung: Er wird seine Mutter sehen. In seiner Vorstellung ist sie jung, weißhäutig und von sanfter Natur. Hier muss die Geschichte stocken.
Sie verändert die Richtung, und eines Tages begegnet Wilhelm dem jungen Mädchen Elisabeth. Alles an ihr ist hell: die Haut, die Haare, selbst die Brauen. Diese hier, weiß Wilhelm, hat er gesucht. So könnte Elisabeth in die Geschichte der Gussmanns eintreten, aber sie zögert. Dieser dürftig gekleidete, magere Bursche, arbeitslos zumal, gleicht wenig dem Bild, das sie sich von dem Geliebten erträumt hat. Sein Drängen erschreckt sie, die Liebe dachte sie sich anders.
Doch die Geschichte, einmal begonnen, nimmt nun ihren Verlauf. Wolfgang Licht beschreibt in diesem Roman mit subtiler Genauigkeit das Werden und Wachsen einer Familie. Es ist eingeschlossen in die Geschichte des Dritten Reiches und vollzieht sich auf dem in jenen Jahren mitunter schmalen Grat zwischen Gut und Böse, Humanismus und Barbarei. Und so beginnt die bewegende Geschichte:
„Teil 1
- Kapitel
Bertha, seine Ziehmutter, hatte versucht, ihm diese Reise auszureden. Am letzten Tage noch. In dunkler Küche, beschienen vom Herdfeuer, machte sie ihm Vorhaltungen. Das Gesicht im Glutschein unbewegt, die Augen gekniffen, als sehe sie sein Geschick. Sich ins Ungewisse trollen. Nun, wo er heraus sei aus dem Gröbsten. Pflichten habe er ihr gegenüber und Erich. Nicht dieser Mutter. Aber wahrscheinlich sei er ein Abenteurer. Und darin gleiche er ihr. Da war Wilhelm vor sie hingetreten, die Arme an den Leib gepresst, und hatte sie angestarrt, bis Bertha, für den Augenblick erschrocken, höhnisch auflachte: Schlagen, was? So kommt es an den Tag. Er war ohne Abschied aufgebrochen.
Seit er sprechen konnte, hatte Wilhelm seine Mutter verteidigt. Als Kind verkündete er, sie würde bewacht. Dämonen, der Schwarze Mann, verhinderten, dass sie sich um ihn kümmerte. Zehnjährig befand er, ein Mann, sein Vater, habe Schuld. Er verlange von der Mutter, Wilhelm zu vergessen. Doch sie litte um ihn. Soviel stehe fest. Und sie sei arm. Deshalb habe sie ihn auch weggeben müssen. Unter Qual. Damit Wilhelm ein Heim bekäme. Das tägliche Essen.
Diese Geschichte hatte er sich so oft vorgesagt, bis er vergaß, dass er selbst sie ausgedacht hatte. Vielleicht hatte er diese Version ersonnen, weil Bertha ihm nicht erlaubte, sie als Mutter anzunehmen. Sie verstand sich als Beschließerin, bei der er logierte. Niemals war sie zärtlich zu ihm. Du vergisst nicht den Tag deiner Einschulung. Du warst zeitig aufgestanden. Die Wohnstube blendete vor Sonne. Auf deinem Essplatz lag die Zuckertüte, womit du nicht gerechnet hattest. Du warst zu Bertha gerannt, hattest sie umhalst. Sie fasste dich bei den Handgelenken, zog deine Arme von sich ab und sagte: Bleib mir vom Leibe. Ihr Griff war nicht hart, und sie blickte freundlich, aber du hattest dich in Grund und Boden geschämt. Dagegen setztest du das Bild deiner Mutter: Die war jung, weißhäutig und von sanfter Natur.
Wilhelm waren diese Erinnerungen unangenehm. Er wollte wie seinen Körper auch das Gemüt beherrschen. Es gibt, dachte er, einen natürlichen Grund, warum Lucy, die Mutter, niemals gekommen ist. Sie wollte sein Verhältnis zu Bertha nicht beschädigen. Nun würde er sie aufsuchen. Er wollte sie sehen, endlich kennen.
Da erblickte er die Stadt. Sie lag hingestreckt über die Ebene. Wie ein Krake, eine bizarr gegliederte Masse mit funkelnden Lichtern und Feuern. Lautlos. Und wie unter Atemstößen, als habe er Brust und Lunge, färbte sich jetzt der Himmel über ihr hellblau um weißliche Inseln.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters.
1978 veröffentlichte Herbert Friedrich im Kinderbuchverlag Berlin „In des Teufels Küche und andere Erzählungen“: Ein trüber Januarnachmittag auf dem Dorf, zwei Jungen und plötzlich ein Dietrich, ein Nachschlüssel, in ihrer Hand: Der Sonnabendnachmittag verliert seine Langeweile. Nun wird ihnen nichts mehr verborgen bleiben, Abenteuer warten, Entdeckungen. Das Schloss lockt, mit Gängen und Wendeltreppen, die Küche - Wolf kennt sie, seine Mutter arbeitete dort -, und plötzlich finden sie Geld. Sie sind wahrlich in des Teufels Küche geraten.
Von einem Musiker, einem Schriftsteller, einem alten Sportler erzählen diese Geschichten, von jungen Menschen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten, und von Dietmar, der eine Stunde im Schrank verbringt, während seine Klassenkameraden eine Mathearbeit schreiben - von ungewöhnlichen Situationen, denen Herbert Friedrich auf ungewöhnliche Weise nachspürt. Hier der Beginn der titelgebenden Erzählung:
„IN DES TEUFELS KÜCHE
Klaus Blüher ging ziellos durch das Dorf.
Es war gegen drei Uhr nachmittags, als er Wolf traf; vom Kirchturm schlug gerade die Uhr. Später wünschte er, er hätte Wolf nie getroffen oder nicht den Dietrich bei sich gehabt, den Diebeshaken, den Nachschlüssel. Doch das war viel später.
Jetzt sagte Wolf: „He, Klaus“, und er sagte: „Tag, Rainer.“ Dann schlenderten sie die Straße entlang, blieben hier und da stehen, das war im Januarwind nicht gerade die angenehmste Beschäftigung.
Und der Dietrich war ein sperriger Gegenstand, von doppelter Schlüssellänge etwa, den er in der Anoraktasche spazierentrug. Ab und zu spürte er ihn, anfangs hatte er sogar Angst, der Dietrich erdolche ihn, wenn er plötzlich ausrutschte und hinstürzte. Man hatte von solchen Sachen gehört. Später vergaß er ihn völlig.
Auf die Felder hatte es etwas Schnee gebröckelt, im Ort hatte er sich nicht gehalten. „Mieser Tag“, sagte der kleine Wolf und schien froh, dass da noch einer aus dem Bau gekrochen war. Wolf rieb sich das spitze Kinn, um das erster Flaum spross; rasieren musste er sich aber noch nicht, genauso wenig wie Blüher. Die Sonne wollte den ganzen Tag nicht richtig herauskommen; der Dorfteich war mit einer Eisdecke überzogen, die zu dünn war, um darauf herumschlittern zu können. Wenn sie heute hätten auf die Baustelle gehen müssen, dann hätten sie sich immer mal am Koksofen gewärmt und auch eine geraucht, obwohl Klaus Blüher nicht viel vom Rauchen hielt, dazu war er zu sparsam.
Wolf wirkte irgendwie bullig neben ihm, gedrungen, mit Händen, die zuzupacken verstanden, vor allem bei Meinungsverschiedenheiten.
„Wo ist dein Bruder?“, wollte dieser Wolf wissen, wohl aus dem Grunde, weil sie zu dritt einen Skat hätten spielen können.
Aber Klaus Blüher machte sich auch nichts aus Skat, und lange erklären, dass Micha noch über den Schularbeiten hockte, das wollte er nicht. Er begnügte sich, mit den Schultern zu zucken.
Nun hätte Rainer Wolf, der Kleine, ihn abfragen können, wo seine anderen Brüder und Schwestern wären, außer Haus, verheiratet, zur Untermiete, dem Elternhaus entschlüpft, und dafür bieten können, wo die eigenen Geschwister waren. Da hätten sie eine Weile Gesprächsstoff gehabt.
Fröstelnd steuerte Klaus Blüher auf die Wartehalle zu, stellte sich hinein, um sich einen Moment aufzuwärmen. Wohlig fühlte er, wie das kleine Gehäuse den Wind abhielt. Wolf stellte sich dazu, fingerte an den Taschen herum und holte schließlich eine Zigarette heraus, die er in den Mund schob, dann suchte er weiter. Feuer hatte aber auch Klaus nicht. Da steckte Wolf die Zigarette wieder weg.
Klaus stülpte die Kapuze über den Kopf; der Stoff raschelte, und die Kapuze war nun etwas wie eine Taucherkugel oder ein Weltraumhelm für ihn. Oder wenigstens ein Arbeitsschutzhelm von der Baustelle. Wolf blickte finster vor sich hin, vielleicht weil er fror, weil er nicht rauchen, nicht Skat spielen konnte, weil er die große Langeweile eines Sonnabendnachmittags hatte.
„Stell dir vor“, barmte Wolf, „ich kauf doch von Hintze das Moped, für achtzig Mark, und schon auf der ersten Fahrt hält mich die Polizei an und sagt, wenn ich mich noch mal mit einem solchen Drahthaufen auf der Straße blicken lasse, dann bin ich Mode.“ Klaus Blüher unter seiner Kapuze musste tüchtig spannen, was der kleine Wolf da erzählte. Der Stoff raschelte unentwegt an seinen Ohren.
„Was erwartest du für achtzig Mark von einem Moped“, sagte er schließlich. Seine ganze Verachtung für solchen Handel legte er in die Stimme, das hob Wolfs Laune natürlich nicht. Zum Ausschlachten, zur Ersatzteilgewinnung konnte man so einen Schlitten bestenfalls noch gebrauchen, aber sonst …
„Da hätte ich die achtzig Mark auch gleich in den Dorfteich schmeißen können.“ Wolf redete sich die Wut aus dem Bauch, und Klaus Blüher verschränkte die Arme, um die Hände zu wärmen. Auch die Füße wurden ihm kalt.
Achtzig Mark, das war Wolfs Lehrlingsentgelt für einen ganzen Monat. Wolf malte das weidlich aus, und Blüher wusste das alles selber; er hörte nicht gern diese kleine geizige Stimme, die ihm dies vorrechnete. Er bekam noch weniger Geld in die Hand. Und gab mehr zu Hause ab.
„Hättest du dir das vorher überlegt“, sagte er, indem er sich hinsetzte. Er schlug die Füße gegeneinander.
Wolf schob sich neben ihn auf die Wartebank und schimpfte, weil ihn dieser krumme Hintze also übers Ohr gehauen hatte.
Indes spielte Klaus Blüher mit dem Gedanken, wieder nach Hause zu gehen, einen Kaffee zu trinken, Mutter hatte auch Kuchen da, und Micha war vielleicht mit seinen blöden Hausaufgaben fertig. Es verdross ihn, hier zu sitzen und Wolfs Geschimpfe anzuhören und auf irgendetwas zu warten, was an diesem Sonnabend auf sie zukommen konnte. Dazu erschien ihm freilich eine Wartehalle als der angemessene Platz.
Lindenbach war ein lang gezogenes Nest. Außer dieser Wartehalle gab es noch eine im Unterdorf. Und alle Stunden fuhr der Autobus. Sonnabends fuhr er seltener. Und da kannst du warten. Darauf, dass das Kino anfängt oder die Diskothek in Hufen oder der Jugendtanz in Grünberg, wo sie stundenlang anstanden vor dem Saal und das Warten auskosteten. Und nach Hufen und Grünberg fuhr auch der Autobus, wenn du lange genug auf ihn gewartet hast. In fünfunddreißig Minuten kannst du mit ihm in der Bezirksstadt sein, da unten im Elbtal. Cafés, Musik, Eissporthalle … Aber dazu brauchst du Geld.
„Wir hocken da wie dämlich“, beschwerte sich Wolf, „es sieht gerade aus, als wollten wir verreisen.“
Klaus Blüher blickte wortlos auf die Straße. Er reiste gern. Einmal Spreewald, Touristenflut auf dem Wasser, Großmutter im Erzgebirge, großer Bruder in der Stadt. Eine richtige Reise aber war das nie geworden, immer ein Ausflug nur. Anton war im November mit einem Schiff über das Schwarze Meer gefahren. Das war: reisen.
Nun hatte Anton die Farbbilder gekriegt und auf der Baustelle gesagt: „Leute, wer Lust hat, der komme am Sonnabend zu mir, da zeig ich die Bilder.“ Der Lehrling Blüher hatte schon Lust dazu. So übel war der Sonnabend gar nicht. Man musste nur die paar Stunden hinbringen, bis Anton seine Gäste empfing.
Ein dicker Mann stellte sich in die Wartehalle, Schal um den Hals geschlungen, und studierte den abgegriffenen Fahrplan.
Klaus Blüher stand auf und ging steif auf die Straße. Wolf wäre imstande gewesen und hätte den Dicken um Feuer gebeten. Wolf kam ihm glücklicherweise nach.
Blüher steckte die Hände ein, da fühlte er den Dietrich. „Schau, was ich hier habe“, sagte er, selber fast überrascht, und zog den Dietrich aus der Jacke.
In Wolfs spitzem Gesicht ging die Sonne auf. „Menschenskind, Klaus.“ Sie drehten den Rücken zum Wind, während Wolf den Dietrich befingerte, als könne er nun damit Feuer für seine Zigarette schlagen.
„Woher hast du den?“
„Hat zu Hause herumgelegen. Vielleicht noch von meinem Vater.“
Jetzt hätten sie sich also über ihre Väter unterhalten können. Klaus Blühers Vater war verstorben, noch ehe Micha geboren worden war. Wolfs Vater hatte es vorgezogen, Frau und vier Kinder zu verlassen und zu einer Freundin zu ziehen. Da käme freilich in einer Unterhaltung Blühers Vater besser weg. Sie sprachen aber nicht über die Väter; sie hatten den Dietrich. Nun waren sie doch zu dritt, der Dietrich, der Rainer und der Klaus.
„Man müsste was schließen damit. Hast du es schon probiert?“
Klaus wusste nicht, warum er den Dietrich eingesteckt hatte. Er hatte im Schuppen eine Wattejacke gefunden und darin den Dietrich. „Ich wollte ihn Micha zeigen“, erklärte er.
Ein Radfahrer kam die Straße herab. Wolf hielt den Dietrich so, dass der Arm ihn verdeckte. Der kleine Wolf war wie ausgewechselt. Er spähte dem Radfahrer nach.
Auf einmal versprach der Nachmittag interessant zu werden. Wolf strich an dem Zaun entlang und blieb an einem Gartentürchen stehen, wobei er den Dietrich handhabte, als wollte er ihn in das Schloss einführen. Er ging aber im gleichen Augenblick weiter, lachend, äußerst vergnügt. Dann gab er Klaus den Dietrich zurück.
Jetzt war das nicht mehr Wolf neben ihm, sondern der Große Wolf, der ungesehen in alle Häuser von Lindenbach eindringt, der Meisterdetektiv oder -einbrecher, der die Leute erschreckt. Alle Häuser zählte er auf, in die er mal einen Blick werfen wollte. Zum Lehrer Hurtig etwa, wieso der so schlau sein konnte. Und zu seinem Alten, der die Mutter mit vier Kindlein im Stich gelassen hatte; der wohnte freilich in der Stadt. Vater, hier steht dein Jüngster. Und zum Hintze, wegen des Mopeds. Achtzig Mark, du Lümmel, für einen Haufen Schrott … Der kleine Wolf kannte schon einige, denen er einen Schreck zudenken wollte. Dieser Dietrich hier war ihm wie ein Zauberschlüssel, der sämtliche Türen öffnete, zu tausend Abenteuern, unbekannten Fernen, unermesslichen Schätzen.
„Probieren wir es mit der Schule.“ Wolf flüsterte jetzt, und das war verständlich, denn die Schule tauchte hinter der Straßenkrümmung auf, an den Hang gelehnt, sonnabendlich still. Die Fenster waren noch immer mit riesigen weihnachtlichen Schneesternen beklebt, so wie Schulfenster die Angewohnheit haben, als Plakatflächen die Jahreszeiten oder die Tagesereignisse zu kommentieren. Kein Mensch zeigte sich da. Zwar trollten die Jungen vorbei, doch bog Wolf zielstrebig in die kleine Einfahrt zum Schulhof ein, wo die entlaubte Eiche stand; dort krächzten Raben.
„Was willst du in der Schule?“, spöttelte Klaus Blüher. „Früher wolltest du dauernd raus, heute willst du rein.“
Rainer Wolf lachte leise. Der „Schrecken von Lindenbach“ ginge dann in die Schule, wann immer er Lust verspürte, wie auch an jeglichen anderen Ort. Und jetzt hatte er eben einen Hang nach der verdammten Schule, die ihm sauer genug geworden war. Aus der sechsten Klasse hatten sie ihn entlassen, das hing ihm heute noch an. Er hatte keine normale Lehre, sondern nur eine Teilausbildung als Maurer aufnehmen können. Kelle und Mörtel! Wolf fluchte sich den Ärger aus dem Hals.
Klaus Blüher war hier neun Jahre zur Schule gegangen; geschenkt hatte sie ihm nichts. Die erste Klasse musste er wegen einer Krankheit wiederholen; kein guter Start, mein lieber „Schrecken von Lindenbach“. Doch dann war es gelaufen. Mutter mit den beiden kleinen Kindern, die großen gerade in der Lehre, der Vater tot, der Klaus kränklich. Und endlich hatte sie zwei zugleich in der ersten Klasse, den Micha und den Klaus, weil eben der Klaus hängengeblieben war. Und dann robbt sich der Klaus hoch, mit dem Micha zusammen, geht raus aus der Acht und wird Zimmermannslehrling, ein Holzwurm sozusagen. Und der Micha geht weiter in die Neun …
Nebeneinander standen die beiden Jungen vor dem Hofeingang. Von hier waren ihre Kinderträume ausgegangen, Spiele und Streiche, in Schulpausen erbrütet. Wer stellt sich ins Tor?
Wolf drückte die Klinke nieder. Die Tür war verschlossen, der Dietrich griff nicht. Es gab Häuser, die waren für den „Schrecken von Lindenbach“ unerreichbar.
Klaus war sehr zufrieden, dass das Schulgebäude nicht nachgegeben hatte. Was hätten sie auch zu sehen bekommen: staubige Korridore, abgeschlossene Zimmertüren, eine vergessene, zusammengerollte Landkarte.“
1974 veröffentlichte Herbert Friedrich im Verlag Neues Leben Berlin „Dorado oder Unbekanntes Südland“: Der junge Holländer Daniel Hillebrant arbeitet bei der Handelscompagnie seines Landes in der kambodschanischen Königsstadt Lauweck. Gefesselt von der Schönheit Südostasiens, der Exotik seiner Natur, der Anmut seiner Menschen, erkennt er aber bald die Intrigen, die unsauberen Geschäfte am Königshof und innerhalb der niederländischen Faktorei. Auf dem Meer und an Land wütet eine erbarmungslose Konkurrenz, der auch der mutige, lebensbejahende Abel Janszoon Tasman, ein erfahrener Schiffsmann, durch dessen Fähigkeiten und dessen Ehrgeiz sich die holländischen Kaufleute reiche Landstriche und neue Seewege erhoffen, zum Opfer fällt. Seine Expeditionen, die unter schweren Bedingungen verlaufen, haben nicht den erwarteten Erfolg. Daniel Hillebrant weiß, dass Tasman, dessen Tochter er geheiratet hat, ein unglücklicher Mensch ist, der rastlos und schließlich auch rücksichtslos nach Glück und persönlichem Erfolg sucht. Hier der spektakuläre Anfang:
„Erstes Kapitel
I.
Der, der herrscht, hatte zur Audienz befohlen. Er trug viele Titel: der König von Kambodscha, der von der Gottheit Erleuchtete, der Souveräne Meister, der alle Staatsmacht in sich vereinte, der oberste Anführer der Streitkräfte, der höchste Beamte. Herbefohlen hatte er die Holländer aus ihrer Niederlassung in seiner Hauptstadt. Da war Daniel Hillebrant gegangen, in der Maischwüle, in der unbarmherzigen Sonne. Man hatte ihm Harmen Broeckman mitgegeben, damit die Verhandlung gedeihe. Und da saß er im dürftigen Schatten einer Arecapalme neben dem alternden Broeckman und starrte auf die zinnenbewehrte Mauer mit dem verschlossenen Tor.
In der ersten Stunde des Wartens hatte Daniel kein Gedanke bewegt, der nicht mit seiner Mission zusammengehangen hätte. Er war jung, Mitte Zwanzig. Er wollte vorwärtskommen wie jeder in der holländischen Niederlassung. Er lebte ein knappes Jahr jetzt in diesem weltfernen Land, beauftragt mit Reiskauf, mit Fellkauf, befasst, holländische Schiffe mit Gütern für Japan zu beladen, und instruiert, den Portugiesen gute Waren wegzuschnappen.
Der, der herrscht, ließ ihm viel Zeit zum Denken, darüber, wer hier herrscht in dieser Stadt Lauweck und in diesem Land, das von der Mutter der Gewässer Mekong durchströmt wurde. Die Luft schmeckte nach fauligen Wurzeln und nach Fischen, nach dem Teer der Dschunken und nach Segeln und Dschungel. Und war noch eine Weile Beglückung in Daniel gewesen, dass er zum König gehen durfte, um die Sache einer ganzen Niederlassung zu vertreten, ja die eines Generalgouverneurs, der weit entfernt in Batavia residierte, so merkte er doch bald, dass er ein Opfer war.
In diesen Stunden des Wartens auf den König, unter den Augen der Mandarine, unter dem Gelächter vorbeistreunender Portugiesen, die Wetten abschlossen, wann er vorgelassen werde, spürte der junge Mann, dass, was Erhöhung schien, in Wirklichkeit Erniedrigung war. Er spürte, dass da etwas auf seinem Rücken ausgetragen werde.
So hatte der Leiter der Niederlassung, Wuysthoff, auf diesen Gang zum Hof verzichtet, beileibe aber nicht, weil er unbedingt dem angekündigten holländischen Schiff auf dem Fluss entgegenfahren müsse. Lange genug hatte es allerdings auf sich warten lassen. Vielmehr, dachte Daniel Hillebrant, hatte man ihn als den rangniedrigsten Kaufmann geschickt, um dem König zu zeigen, dass die holländische Faktorei nicht nach Befehl springt.
Der korpulente Wuysthoff hatte ihn in dieser Sache selbst noch über Broeckman gesetzt, der doppelt so alt war wie er, zugleich aber Broeckman mitgeschickt wie einen Aufpasser oder Hund. Und das musste alle demütigen, Daniel, Broeckman. Und den König.
In den ersten Stunden hatten Daniel und Broeckman noch miteinander gesprochen, hatten sich beraten über ihr Vorgehen, einig über die Winkelzüge des Herrn Wuysthoff. Sie hatten versucht herauszufinden, in welcher Angelegenheit sie der König zu sprechen wünsche. Sie waren die anstehenden Sachen durchgegangen. Vor fünf Jahren hatte sich der König von einem gestrandeten holländischen Schiff die dreizehn Geschütze angeeignet. Davon würde er kaum sprechen, und es war auch besser, nicht mehr daran zu rühren. Vor drei Jahren hatte der, der da herrscht, neuntausend Gulden gegeben, damit der Handel eingerichtet werden könne. Doch bereits im letzten Jahr hatte er das Geld bis zum letzten Stuiver zurückerhalten. Wie viel Jahre lag es zurück, dass die Holländer eine portugiesische Fregatte im Fluss erobert hatten, wie lange hatten sie prozessiert? Wurde da erneut Genugtuung verlangt? Wollte der König bei den Holländern herumhorchen, weil plötzlich ein portugiesisches Schiff aus Manila angelangt war? So viele Fragen.
Wenn sie sofort Einlass gefunden hätten in diesen ummauerten Königssitz, wäre Daniel Hillebrant unbeschwerter hineingegangen.
Es war gut, nicht allein mit Broeckman vor dieser Mauer auszuharren. Es war gut, die beiden Sklaven bei sich zu haben. Denn diese trugen das Geschenk für den König, zwei Ellen feine weiße Leinwand. Auch einige chinesische Buchspiegel hatten sie einstecken, damit die Frauen des Königs ihre Schönheit bewundern konnten. Karge Gaben alles in allem. Man schenkte lieber, wenn man eingeladen und nicht herbefohlen wurde. Aber es waren doch Dinge, die dem König zeigten, dass man kein Bettler war. Dass man etwas hatte. Vor Jahren hatte der erste Leiter der Niederlassung Gewehre mit zerbrochenen Schnapphähnen gegeben, die man lieber ins Wasser geschmissen hätte. Mit solchem Kram konnte man heute dem König nicht mehr kommen.
Vor einer Stunde, kurz nach Mittag, hatte sich das Tor geöffnet.
Aber nicht der König war erschienen oder ein Mandarin, der sie hineingeleitet hätte, sondern des Königs Elefant. Den Königssessel trug das Tier, und aufgeputzt war es wie zu einem Ausritt. Da bereits hatte Broeckman gesagt, dass es nun besser wäre zu gehen, als hier zu stehen und zu gaffen. Herbefohlen und stehengelassen, vorbeigeritten wie vor einem Dreck!
Nicht die Musikanten des Königs hatten gepfiffen, sondern in den Schirmpalmen am Fluss die bunten Vögel mit ihrem seltsam hallenden Ton. Als die Musikanten dann endlich doch pfiffen und trommelten, war es vor dem zweiten Tor gewesen, hinter der Biegung der Mauer. Daniel Hillebrant, herankeuchend, hatte nur noch gesehen, wie zwölf Männer den König in einer Sänfte davonschleppten. Und Broeckman hatte gesagt, dass man nun doch schon ein Hund sei, wenn man so hinter einem König herkeucht. Von da an hatte Broeckman nicht mehr gesprochen. Stumm saßen auch die Sklaven vor dem kleinen Tuchpacken.
Längst hatte der Treiber den Elefanten weggeführt, vielleicht der Sänfte nach. Vielleicht ging es zur Jagd. Vielleicht hatte der König in der Sänfte durch eine dritte, vierte, fünfte Pforte den Hof wieder betreten. Die grell in der Sonne liegenden Mauern verrieten nichts. Die gedrungenen Türme entließen keinen Menschen, der sie endlich zur Audienz geführt hätte.
Man wird gleichgültig. Warten stumpft ab, Hitze lähmt. Daniel sehnte sich nach dem Fluss, auf dem das Schiff heraufkam, vom offenen Meer her. „Vielleicht bringt das Schiff ’nen Brief mit“, sagte er mit trockenem Mund.
Broeckman kniff die Augen zusammen. „Ich habe nichts zu erwarten.“
Sie verstummten wieder. Ungeschickt hatte Daniel das falsche Thema angeschnitten. Broeckmans Frau war tot.
„Da will einer was von uns“, sagte Broeckman.
Daniel drückte sich den Hut in die Stirn, so dass der Schatten in sein hageres Gesicht fiel. Da war die Sonne weg und das Tor da. Und das Tor, wie durch Zauberspruch, stand offen! Aufgeregt packte Daniel Broeckman am Arm.
Beide schauten sie auf das Tor, auf die wie vom Himmel gefallenen speertragenden Soldaten unter dem Bogen, auf den Mann, der da herausschritt und sich vor ihnen über die Weite des Platzes hinweg verneigte.
„Gehen wir!“ Daniel Hillebrant riss Broeckman vorwärts, der längst nicht mehr der Behändeste war. Die Sklaven nahmen die Geschenke.
Dann schritten sie auf den Hof zu.
Unterm Torbogen, in das unergründliche Gesicht des Kambodschaners hinein, sagte Broeckman: „Du müsstest am Kreuz in der Sonne schmoren, so lange, wie wir gewartet haben.“
Schweigend folgten sie dem Mann über leere Höfe, durch Tore, die sich lautlos vor ihnen öffneten, an steinernen Löwen vorbei und an Götzen, die die Ruhe des Königs bewachten.
Ein einziges Mal war Daniel hierherein gelangt; diese Figuren rührten ihn auch diesmal tief. Er hatte sie an der Pagode wiedergefunden und Sita danach gefragt. Mächtig waren die Götter und duldsam Buddha.
Er hatte sie gezeichnet, Köpfe mit aufgerissenen Augen beiderseits einer breiten, plumpen Nase, dicke durchgehende Brauen darüber, mit Mündern, aus denen Hauer standen. Er hätte auch Sita gezeichnet; sie hatte es verboten. Weil das, was dem Bild zustoßen könne, auch den Dargestellten selbst träfe … Wer gibt schon sein Leben aus der Hand? Broeckman allerdings hatte er gezeichnet, ältlich und grau, mit vorgefallenen Schultern. Gelacht hatte Broeckman, sich aber doch des Bildes versichert, damit es nicht die Ameisen fräßen.
Die Dämonen beim König dagegen überdauerten. Sie lauerten hinter Ecken, mit Schlangen bewehrt und mit Dolchen. Blitze schleuderten sie. Affen tanzten in wildem Getümmel. Elefanten zertrampelten Menschen. Pferdegesichtige Götter glotzten ihn an und Musikanten mit Vogelfüßen. Ein gespenstisches Spalier, an dem die Holländer vorbeidefilierten. Es war, als wolle der König seine Besucher durch Hitze und Schreckbilder schocken und durch Wartenlassen zermürben.
Auf Matten saßen sie in einem dämmrigen, kühlen Raum. Es war schon nicht mehr von Bedeutung, dass kein Thronsessel hier stand, kein Ruhebett für den Herrscher, kein Baldachin und königlicher Schirm. In einer schläfrigen Ruhe saß Daniel jetzt, da er hätte hellwach sein müssen. Lange hockte er da. Dass Broeckman neben ihm saß, schien er vergessen zu haben. Auch dass irgendwo die Sklaven mit ihren Geschenken waren.
Als endlich jemand hereinschritt, war es der Sekretär des Königs, Intje Idop, gefolgt vom Dolmetscher Patanees. Unwichtig nun, dass doch nicht der König erschien. Patanees sagte es gleich zum Anfang, und Broeckman rief gallig: „Plattnase, säufst du immer noch soviel Arrak?“
Patanees hütete sich, das zu übersetzen. Glücklicherweise auch forderte Intje Idop keine Übersetzung, und vielleicht brauchte er auch keine. Daniel fühlte sich wieder frisch. Er sagte: „Wir hören, weshalb uns der König hergebeten hat.“
Das Wetter.
Das Wasser im Fluss ist gut.
Der Tanz kambodschanischer Frauen ist das schönste, was es auf der Welt gibt.
Die Schwüle ist zum Erbarmen. Und der Fluss hat fast zu viel Wasser für unser Schiff vom Meer her, seitdem täglich Monsunregen fällt. Und die Anmut kambodschanischer Frauen kann nicht schöner sein als die Zärtlichkeit Sitas, der kleinen Malaiin, die bei Chichermodt dient.
Daniel beugte sich vor. „Wir hören, weshalb uns der König hergebeten hat.“
Der Sekretär Intje Idop ließ sich Zeit. Drei Beulen bedeckten seinen Schädel, der die Haare verlor. Auch sein Kinnbart war dünn und fasrig. Er saß mit untergeschlagenen Beinen und öffnete beim Sprechen kaum den strichförmigen Mund.
Der junge König. Die Königinmutter. Wie werden junge Elefanten gezähmt. Patanees konnte sich das Übersetzen sparen.
Später erst horchte Daniel auf, als der Sekretär fragte: „Ein holländisches Schiff kommt den Fluss herauf?“
„Es kommt.“ Das war seit Wochen bekannt.
„Wie groß ist es?“
„Nicht kleiner als die Schiffe im Vorjahr.“
„Ein portugiesisches Schiff kam gestern.“
„Ich sah es im Fluss.“ Keine Neuigkeit.
„Zwei Dschunken des Herrn Chichermodt liegen bereit zum Auslaufen nach Japan.“
Daniel nickte. Auch das wusste er. Von Sita. Und er wusste, dass die Dschunken gar nicht so bereit waren zum Auslaufen, da sie noch auf Handelsgüter warteten.
„Der König hat euch herbefohlen, weil er von euch die Seide fordert.“ Intje Idop, mit den drei schrecklichen Beulen, lächelte zum ersten Mal. Er konnte gewiss sein, dass Patanees alle groben Worte auch getreu in der fremden Sprache wiedergäbe.
„Welche Seide?“ Daniel spannte die Muskeln an. Jetzt fragte er eigentlich nur noch, um Zeit zu gewinnen. An die Seide hatten weder er noch Broeckman gedacht.
Es kam die Antwort, die er nun allerdings erwartete. „Die Seide, die die Chinesen ins Land gebracht haben.“
Er sah, wie sich Broeckman verächtlich abwandte, und zwang sich selber zu Geduld. „Diese Seide, das weiß der König, ist doppelt holländische Seide.“ Langsam, wie einem, der es zum ersten Mal hört, setzte er dem Sekretär Intje Idop den Fall auseinander. „Unsere Niederlassung in Tonking hat einen großen Posten Seide nach Japan geschickt. Auf einer Dschunke, die mit 19 Holländern besetzt war und mit 36 Chinesen. Diese Chinesen haben unsere Leute überfallen, getötet und in die See geworfen.“ 19 Mann, und vielleicht lebte noch einer, als er ins Wasser klatschte. Die Haie holten jeden.
Patanees übersetzte, und der Sekretär saß, als wäre er ein aus Bronze gegossener Gott der Schlangen oder der Krokodile.“
1988 erschien in der Evangelischen Verlagsanstalt Berlin „Das Blechpottorchester. Eine Feriengeschichte“ von Gerhard Dallmann: Unwillig schlenkert Friedemops mit den Beinen, dort oben auf dem Milchbock, von wo er den Ferienbus als Erster sehen kann. Wenn erst der Borstel, dieser fremde Lümmel, und die Mädchenzicke da sind, dann bin ich Nebensache bei Tante Doris, eine Null, abgemeldet, ausgebootet. Aber die, die sind obenauf! Mir hat sie noch nie eine Torte gebacken, und denen gleich so ein Riesendingsbums, mit Aufschrift aus Marzipan! Aber die sollen mich kennenlernen, diese, diese Tante-Doris-Klauer ...
Und schon stehen alle Segel auf Sturm, obwohl die Ferien doch gerade erst begonnen haben. Verfolgungsjagden sind unvermeidlich, glitzergrüne Gespenster geistern herum, und Friedemops wird sogar vom Erdboden verschluckt. Doch sehr bald erweisen sich die vermeintlichen Gegner Borstel und das Pferdemädchen Evelyn - die wir ja bereits aus den „Sommerkindern von Ralswiek“ kennen - als ebenso tolle Ferienfreunde wie die wirblige Katharina und der staksbeinige Eckart aus „Brücke, Boot und Bienenhaus“.
In dieser neuen Abenteuergeschichte führt Gerhard Dallmann die unternehmungslustigen Jungen und Mädchen zusammen, lässt sie kräftig aneinandergeraten und sich schließlich gegenseitig schätzen lernen. Wen kann es da noch wundern, dass eine modrige Höhle eine wichtige Rolle spielt oder eine Torte zum Fußball wird? Ja, sogar ein echtes Schiffswrack wird entdeckt. Die prallen Sommererlebnisse der fünf finden in einer Zirkusvorstellung ihren Abschluss mit einer richtigen Sinfonie, der Blechpottsinfonie in Blech-Moll: Töpfe, Tiegel und Deckel aller Größen, geordnet, wie es die Partitur vorschreibt, nämlich Klimperdeckel rechterhand, zwei Fünf- und Zehnlitertöpfe in der Mitte und links die hölzerne Waschbütte und die beiden neuen Mülltonnen, dazu das Waschbrett von Tante Doris. Dann pingelt es und schetterengt, dann dröhnt es und kollert. Und aus allem hervor erhebt sich eine Melodie, das Lied von einem ganzen Sommer voller Abenteuer. Zunächst aber macht Friedemops eine äußert lebendige Entdeckung:
„1. Kapitel
Als Friedemops den von niedrigem Buchsbaum eingefassten Gartenweg entlanghüpfte, raschelte es plötzlich neben ihm auf. Eine Schlange? Ein Junghase? Lauschend blieb er stehen. Er hielt den Atem an. War da nicht etwas unter der Buchenhecke? Ja doch! Wieder raschelte es. Halt! Pssst!
Der Junge hockte sich nieder. Gespannt bohrten sich seine Augen und Ohren in das Gesträuch. Was kann das nur sein? Vielleicht ein Igel? I wo, Igel wuseln abends und nachts herum, aber nicht jetzt, am Vormittag. Oder ein Eichhörnchen? Nein, das wäre längst auf und davon. Was kann das nur sein? Alle Möglichkeiten buchstabierte er durch. Vorsichtig bog er die Hecke auseinander, an deren Zweigen noch jetzt im vorgeschrittenen Frühling braunbleiches Laub vom Vorjahr klebte. Aufmerksam spähte er in das schattige Gewühl von Zweigen und Blättern. Hallo! Da saß es ja, nur zwei Armlängen entfernt: ein flusiger, verplusterter Jungvogel mit himmelblau leuchtenden Augen.
Oh! durchfuhr es den Jungen. Denn er befürchtete, der Vogel würde gleich das Weite suchen. Einen Augenblick überlegte er, wie er ihn am besten greifen könnte. Schon hob er die Hände. Da klappte der kleine Vogel seinen Schnabel auf, sperrangelweit, einen Schnabel, der größer zu sein schien als der ganze Vogelkopf. Eidottergelbe Ränder hatte dieser aufgerissene Schnabel.
Verwundert sah Friedemops auf das hilflose Geschöpf. Da geschah etwas Ungeahntes: Raschel-raschel ... der Vogel tappelte aus seinem Versteck heraus und machte: „Tschaik.“
Friedemops kniete nieder und hielt dem Vogel seine Hände wie offene Schalen entgegen und flüsterte dabei:
„Peity, kleiner Kerl! Dich nehme ich mit. Ja, ich sage Peity zu dir. Ich finde, der Name passt. Meinst du nicht auch? Komm, hab keine Angst.“ Und in der Stimme des Jungen lag dessen ganzes Herz.
Behutsam griff er nach dem kleinen Tier. Und das ließ sich gefallen, dass Kinderhände seinen dünnen Daunenmantel umschlossen, es aus der schattigen Kühle heraushoben und davontrugen.
In diesem Augenblick hatte Peity einen Freund für sein ganzes kleines Vogelleben gewonnen.
In Friedemops sprang das Herz auf.
„Eine Jungdohle“, jubelte er, „aus dem Nest gefallen, noch nicht flügge, gelbe Schnabelkehlen, noch kein ausgebildetes Federkleid. Das Dingelchen behalte ich!“
„Mein Peity, mein kleiner Peity“, flüsterte er immer wieder und drückte das weiche Etwas gegen seine Wange, mal links, mal rechts. Als er ihm aus Spaß gegen den Schnabel tippte, klappte der Vogel diesen auf wie einen Krokodilsrachen und schrie erbärmlich: „Tschaik, tschaik!“
Da steckte der Junge seinen Kleinfinger tief hinein in die aufgeklappte Gusche und ließ den Vogel daran zutschen.
„Ist das ein Gefühl!“, lachte er. „Wie das killert! Peity, du bist ein ganz Lieber.“
Doch nur einen Augenblick trieb er dieses Spiel. Dann begriff er: Dieser Vogel ist kein Spielzeug. Dieser Vogel braucht meine Hilfe und meinen Schutz. Unbedingt! Denn nur so konnte das jammervolle Tschaik-tschaik verstanden werden. Friedemops war ein verständiger Junge. Rasch lief er zurück ins Haus, während er das kleine Wesen schützend an seiner Brust barg. Mit dem Ellbogen drückte er die Klinken, mit dem Fuß stieß er die Türen auf, mit dem Hintern schob er sie zu. Er setzte das zarte Stückchen Leben auf Mutters Küchentisch ab und überlegte: Was kann ich für meinen kleinen Freund stibitzen? Der will doch tüchtig fressen.“
Eine neuer Krimi von Christiane Baumann ist soeben als Eigenproduktion von EDITION digital erschienen, allerdings ist „Ein höflicher Mörder. Corinne Fee ermittelt“ kein Schwerin-Krimi, sondern gewissermaßen ein Berlin-Krimi. Hören wir kurz der Heldin zu: „Ich bin Kriminalkommissarin Corinne Fee, 33 Jahre alt und Single. Nach einem persönlichen Schicksalsschlag führte mich mein Weg 2012 von Neuruppin nach Berlin. Dort suchte die Kripo fieberhaft nach einem entführten Baby. Das Kind blieb nicht das einzige Entführungsopfer. Auf einem Autobahnparkplatz nördlich von Berlin wurde die Leiche einer jungen Frau entdeckt. Sie war nackt in ein blaues Laken gehüllt. Wie befürchtet, wurden weitere Vermisste tot aufgefunden.
Aber eigentlich war ich an einem Fall dran, der seit zwanzig Jahren ungelöst war: der Mord an Daniela Hahn, einer fünfzehnjährigen Schülerin.
Privat tat sich auch einiges. Bevor ich zum ersten Mal das Berliner Polizeipräsidium betrat, konnte ich nicht ahnen, wer mir im Büro gegenüber sitzen würde.“ Und das geschieht am ersten Abend in Berlin:
„22. November, Sonntag
Kneipe am Helmholtzplatz, Prenzlauer Berg, gegen 22. 30 Uhr
Vielleicht war es auch etwas später, als ich am Tresen meine zwei Bier zahlte und ein großer hagerer Mann in schwarzer Jeans und abgeschabter dunkelbrauner Lederjacke plötzlich neben mir stand. Er bestellte ein Pils für sich und, ohne zu fragen, eins für mich.
Damit fing es an, mein Leben in Berlin.
Normalerweise meide ich Kneipenbekanntschaften, aber dieser Kerl zog mich irgendwie an. Er wirkte leidend, wie nach schwerer Krankheit. Die schwarzen Haare waren grau durchsetzt, er trug sie aus der Stirn gestrichen und lang bis in den Nacken. Der Mund hing schief im unrasierten Gesicht. Der kleine Finger seiner linken Hand stand ungewöhnlich weit ab. Im Nachhinein würde ich behaupten, allein wegen dieses komischen Fingers sein Bier getrunken zu haben.
Seine Augen waren braun, und in ihnen hockte eine tiefe Trauer. Grund genug, das Weite zu suchen. Doch ich blieb. Möglich, dass mich der krumme Finger da schon verhext hatte.
Ich schätzte den Typen auf Mitte vierzig. Ich finde ältere Männer ganz gut, allerdings müssen sie Energie ausstrahlen, damit man sich was Spannendes vorstellen kann. Bei ihm war es fifty-fifty. Ab und zu schaute er zwar zu mir, aber über seine Lippen kam kein Wort. So beschlich mich das Gefühl, dass ihm meine Gesellschaft eigentlich egal sei. Deshalb leerte ich das Glas zügig, nickte ihm zu und machte mich auf die Socken. Er legte einen Schein auf den Tresen und folgte mir.
Ich heiße Corinne Fee und bin in Neuruppin zu Hause. Ich mag die Stadt, meinen Job bei der Kripo dort und die meisten meiner Kollegen. Mein Leben war in Ordnung, bis zu dem Tag vor sieben Monaten, als ich mein Baby verlor. Es fällt mir bis heute schwer, darüber zu reden. Nach dem ersten Schock, nach Auszeit und Kur sah ich mich Tag für Tag den mitleidigen Blicken der Kolleginnen und Kollegen ausgesetzt. Eine Gelegenheit, dem aus dem Wege zu gehen, bot sich mir bei einer Weiterbildung Ende September, wo ich Arno Hofmann kennenlernte, einen leitenden Ermittler aus Berlin. Ich fragte ihn eines Abends in einer gemütlichen Runde einfach, ob ich eine begrenzte Zeit bei ihm arbeiten könnte. Er wollte es sich überlegen. Vor einer Woche kam sein Okay, und mein Chef in Neuruppin war einverstanden.
Ich war fest entschlossen, allem, was ich in Berlin erleben, jedem, dem ich begegnen würde, eine positive Seite abzugewinnen. Auch der Hinterhofbude meiner Kusine und Freundin Fanny im Prenzlauer Berg, die sie mir überließ, denn sie hatte gerade für ein Jahr Arbeit in einem Verlag bei Baden-Baden ergattert. Die Wohnung bestand aus einem größeren Zimmer, zugleich Wohn- und Schlafraum, plus kleiner Küche und Bad. Kein Vergleich mit meinem modernen geräumigen Zuhause in Neuruppin mit Blick auf den See. Trotzdem war ich mit dieser Lösung sehr zufrieden, zumal ich Fanny nur die Nebenkosten zahlen musste.
Der Unbekannte hielt sich konsequent zwei, drei Schritte hinter mir. Spielte er Bodyguard, oder hatte er Böses im Sinn? Mein Gefühl sprach für Aufpasser. So oder so, ich machte mir weiter keine Sorgen, denn ich würde mich auch gegen einen Kerl verteidigen können, der mich um fast einen Kopf überragte. Ab und zu liefen Leute an uns vorbei; im Notfall Helfer oder zumindest Zeugen.
Ein bisschen vorsichtig war ich dann doch, lauschte nach hinten, ob der Abstand etwa gleich blieb. Als wir uns meiner Hausnummer näherten, stellte ich mich dem Verfolger in den Weg. Er hatte seine Hände in den Jackentaschen und trat direkt auf mich zu.
„Was soll das?“, fragte ich.
Er atmete hörbar aus. „Du solltest nachts nicht allein unterwegs sein. Das ist alles. Hattest du Angst meinetwegen? Entschuldige.“ Seine Stimme war tief und irgendwie kratzig, wie ungeölt.
„Ich kann selbst auf mich aufpassen.“
„Hat sich schon manche überschätzt.“ Er verzog seinen Mund, der sich dadurch wieder eigenartig schief stellte und mir außerordentlich gefiel; er war breit und die Lippen mehr als nur ein Strich.
„Ich bin Edgar. Kann ich eventuell mit zu dir?“
„Wozu? Um mich weiter zu beschützen?“
„Vielleicht, vielleicht aber auch keine gute Idee. Ich geh mal lieber.“ Der Ankündigung folgten allerdings keine Taten. Er stand vor mir, wie zur Begutachtung freigegeben. Das machte er sicher nicht zum ersten Mal.
Nimm die Situation positiv, Corinne. Diesem Vorsatz wollte ich wenigstens am ersten Abend in Berlin folgen. Also sah ich diesem Edgar fest in die traurigen Augen, drehte mich wortlos um und schloss die Haustür auf. Seine Schritte hallten hinter mir durchs Treppenhaus und die Stufen hoch. Die Wohnungstür ließ ich gleich für ihn offen. Ich hatte zwar nicht die leiseste Ahnung, wen ich mir auf den Hals lud. Doch wozu war man Polizistin? Ich fühlte mich für alles gerüstet.“
Was aber dann passiert, damit hatte die selbstbewusste Kriminalkommissarin bestimmt nicht gerechnet. Für die Leserin und den Leser sind also Spannung und Unterhaltung garantiert – spannende Unterhaltung also. Und damit gelingt es Autorin Christiane Baumann wieder einmal zum Lesen zu verführen. Apropos Verführung. Aber lesen Sie doch selbst …
Viel Vergnügen auch beim Lesen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletter, weiter einen schönen Advent, bleiben Sie jetzt erst recht vorsichtig, trotz aller Corona-Widrigkeiten, aber vor allem schön gesund und munter und bis demnächst. Und haben Sie eigentlich schon alle Weihnachtsgeschenke beisammen? Was halten Sie zum Beispiel von E-Books?