Ebenfalls von Hans-Ulrich Lüdemann stammt das fünfte der aktuellen Sonderangebote „ICH – dann eine Weile nichts“, in dem ein meistens ziemlich selbstbewusstes Mädchen die Hauptrolle spielt.
Gleich drei Geschichten in einem E-Book präsentiert „Knöpfchen und der Mann mit der Mütze“ von Siegfried Maaß, in denen Kinder in verschiedene Konflikte geraten und sich stärker und verständiger zeigen als man vielleicht gedacht hätte.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Eines dieser wichtigen Themen ist die Überzeugung von der Gleichheit aller Menschen. Doch diese Überzeugung teilten und teilen auch heute noch nicht alle Menschen. Das heutige Buch erlaubt einen Blick zurück in die koloniale Vergangenheit Deutschlands und darauf, wie Deutsche einst über die Schwarzen gedacht haben und wie auch heutige Deutsche vielleicht noch über Menschen denken, die eine andere Hautfarbe haben …
Erstmals 1991 veröffentlichte Jürgen Leskien im Verlag Neues Leben Berlin „Einsam in Südwest. Tagebuchroman. Aus dem Nachlass des Eisenbahners Hermann Köppen, Beamter an der Strecke Swakopmund - Windhuk, Südwestafrika“: Das ist ein Tagebuch, geführt von Januar 1894 bis Ende 1949. Geschrieben wurde es von dem Eisenbahner Hermann Köppen, einem Deutschen. Geschrieben aber wurde dieses Tagebuch nicht in Deutschland, sondern in Deutsch-Südwestafrika, wohin der junge Mann Ende des 19. Jahrhunderts auswandert. Sesshaft wird er auf der Bahnstation Vogelgrund, heiratet zweimal, bekommt Kinder, einen Sohn und eine Tochter, auf die er glaubt, stolz sein zu können. Und lange Zeit scheint auch alles gut zu gehen.
Dann aber ändert sich nicht nur im Süden Afrika vieles, sondern auch in Europa, in Deutschland. Diese Veränderungen in Deutschland wirken sich auch auf Afrika und auf Köppens Familie aus. Deutschland ruft. Wie wird sich Hermann Köppen entscheiden? Und wie ergeht es seinen beiden Kindern? Und was ist am Ende seines Lebens aus seinen Träumen geworden? Und so beginnt dieses bemerkenswerte Diarium:
„ERSTES BUCH
Der erste Tag nach meinem Erwachen
Ich weiß nicht, welches Datum wir heute schreiben und wie lange ich geschlafen habe.
Es ist sehr heiß, obwohl es nur wenige Meter bis zum Meer sind. Unter den angeschwemmten Sachen, die die Eingeborenen in die Hütte getragen hatten, wo sie mir mit Gesten bedeuteten, dass dies alles mir gehöre, fand ich ein Heft mit festem schwarzem Deckel. Wie durch ein Wunder steckten die Stifte noch in meiner Jackentasche, auch der silberne Drehbleistift, den mir Vater nach der Gesellenprüfung geschenkt hatte, gekauft vom Ersparten.
Die Schwarzen machen mir angst, aber sie geben mir Fisch zu essen und klares Wasser zu trinken, überall bloße Brüste, und das andere ist auch nur spärlich bedeckt. Ich werde meine Beobachtungen in dieses Heft schreiben. Wenn man mich verschleppt, bleibt vielleicht das Heft erhalten und trägt zu meiner Rettung bei.
Ich kann nicht glauben, dass es Mutter nicht mehr gibt und Vater ertrunken sein soll. Ich sehe noch Mutters erhobenen Arm. Die Planke war zu klein, um uns alle zu halten. Aber wenn die Fischer mich noch rechtzeitig gefunden haben, warum dann nicht auch Mutter und Vater und all die anderen der Nanny.
Der zweite Tag nach meinem Erwachen
Seit dem frühen Morgen herrscht unter den Schwarzen große Aufregung. Ein alter Mann hat meinen Leib befühlt und dabei ununterbrochen vor sich hin gemurmelt. Zwei Frauen haben dann meinen geprellten Rücken mit klebrigem Fett eingerieben. Als sie fertig waren, musste ich mich übergeben. Ich fühle mich sehr elend und möchte nur schlafen.
Ob die Männer der Schutztruppe schon nach uns suchen?
[*] Januar 1894
Es ist sicher die Wahrheit, wenn Vater Tanneberg sagt, der Herr habe mir ein neues Leben gegeben, wie könnte ich sonst bei den Missionaren auf Obongo sein.
[*] Januar 1894
Vater Tanneberg sah, wie ich im schwarzen Heft schrieb. Er lobte mich und meinte, ich solle es ruhig zur Gewohnheit werden lassen, für die, die nach uns hier sein werden, denn wir stehen noch ganz am Anfang. Von nun an werde ich das Wichtigste vom Tage notieren und auch sonst alles zusammenhalten, was von unserem Leben auf neu gewonnener Scholle kündet. Ich sehe es auch als meine Pflicht nach dieser wundersamen Rettung.
Sie sagen, einem jungen Mann in meinem Alter, mit dieser eisernen Gesundheit, mit solch einem Beruf, dem ständen in Südwest alle Wege offen, wenn er sich nur rechtschaffen mühe. Sie müssen es ja wissen, die Leute um Vater Tanneberg, sie sind ja schon so lange hier.
Vater und Mutter war es nicht vergönnt, ich aber werde siedeln, hier mein Heim einrichten. Ein Haus aber später bauen, jetzt kann ich erst einmal bei Vater Tanneberg bleiben, in der Mission, sobald ich mich erholt habe, als Schmied nützlich sein. Trotz meiner siebzehn Jahre, denke ich.
Die Ausübung unserer Schutzherrlichkeit über so ausgedehnte, in unwirtlichen Regionen gelegene Gebiete, deren Einwohner ja wirklich keine besonders sympathischen Gefühle in uns Deutsche erwecken können, ist für uns eine kulturell hohe Aufgabe. So ungefähr Vaters Worte. Die dunkle Wohnung in der Kleiststraße war fast vergessen und auch die Sorge, in der Not Herbert vielleicht aus der Lehre nehmen zu müssen. Wir hatten alle an der Reling gestanden, Vaters Arm lag auf den Schultern der Mutter. Die Sonne stand tief, am Horizont zeichnete sich als schmaler Streif Land ab, von dem der Erste Offizier meinte, dass es Südwest sei. Dann kam der Sturm. Als lehnten sich fremde Götter gegen unsere Ankunft auf.
Aber Vaters Wort gilt, da ich die erste schlimme Heimsuchung überstanden habe.
Es ist richtig, wie der Mann vom Siedlerverein beim Abschied sagte, wir müssten es wagen, in unseren Schutzgebieten Pflanzstellen der Moral, der deutschen Gesinnung und des reinen christlichen Glaubens zu errichten.
Vater und Mutter konnten ihren Fuß nicht mehr auf Südwest setzen, aber ich werde in ihrem Sinne handeln. Ich werde siedeln und Vater Tanneberg und den anderen tapferen Deutschen helfen, den Schwarzen Glauben und handwerkliches Geschick beizubringen. Auch wenn uns noch nicht alle lieben können, wie Vater Tanneberg meint.
Ob Herbert schon von dem Unglück weiß?
[*] Januar 1894
Am Morgen zeigte mir Vater Tanneberg mein Zimmer, es wird noch hergerichtet. Er nahm sich trotz der vielen Arbeit Zeit, mit mir zu reden. Dabei erklärte er, dass es nicht richtig sei, ihn und Holländer Vater zu nennen, so bezeichne man ja wohl die katholischen Missionare. Sie seien aber, wie ich wisse, Angehörige der protestantischen Rheinischen Missionsgesellschaft, die korrekte Anrede wäre also Missionar und nicht Vater. Ich bat ihn, beim Vater bleiben zu dürfen, sehe ich ihn und Vater Holländer doch tatsächlich an des Vaters statt. Mein Wunsch schien ihn zu ehren, aber in der Öffentlichkeit, so bat er es sich dringend aus, solle ich diese Anrede tunlichst vermeiden ...
Mit dem heutigen Tag nun habe auch ich einen Bambusen, sie nennen ihn Isaak.
Isaak ist dünn und lächelt immer, wenn ich ihn anschaue, obwohl er mindestens zehn Jahre älter ist als ich. Sein Gesicht erinnert mich an den ersten Schwarzen, den ich nach der Rettung am Strand erblickte.
Er setzt sich nicht zu mir an den Tisch, sicher sind ihm Tisch und Stuhl ganz und gar fremd. Ebenso fremd scheinen ihm Wasser und Seife, er riecht sehr streng, vor allem wenn er schwitzt. Seine Haut glänzt, sie scheint mir eingefettet. Isaak wohnt einen Kilometer entfernt, auf der Werft, wie die Schwarzen ihr Dorf hier bei der Missionsstation nennen. Ich habe mir das Afrika Hand-Lexikon bringen lassen und nachgeschaut. Nach der sehr breiten Nase und dem Amulett, das Isaak versteckt trägt, zu urteilen, ist er ein heidnischer Ovambo. Dabei sollen hier nur getaufte Hereros leben! Vielleicht gehört Isaak zu den Taufbewerbern?
Ich werde Vater Tanneberg bei der nächsten Gelegenheit danach fragen. Es gibt zu vieles, für das ich keine Erklärung habe. Will hoffen, dass Vater Tanneberg mit mir Geduld hat!
[*] Januar 1894
Vater Tanneberg gestattete mir in Schwester Ursulas Begleitung den ersten längeren Spaziergang.
Mein Besuch galt natürlich auch der Schmiede. Leider erwartete mich ein schlimmer Anblick. Die Schmiede selbst ein finsteres, stickiges Loch, in dem seit ewig wohl niemand gearbeitet hat. Der Amboss, mehr als eine Handbreit im Boden versunken, zum Dorn hin geneigt und schräg dazu, wie flügellahm, unterstrich die Trostlosigkeit.
Nur mit Mühe hatten wir das Tor geöffnet, es war niemand in der Nähe, der uns hätte helfen können, so musste Schwester Ursula ordentlich zupacken, aber es machte ihr nichts aus.
Ein Vogel strich an uns vorbei, suchte das Weite. Zwei der großen Zangen steckten noch im Kohlebecken, von Staub und Spinnweben bedeckt. Der Blasebalg, aus festem Ziegenleder, war seltsamerweise unversehrt. Einige der an den Wänden lehnenden Wagenräder, deren Reifen wohl irgendwann mal aufgezogen werden sollten, sind von Termiten zerfressen.
Schwester Ursula konnte sich nicht erinnern, wann hier je ein Pferd beschlagen worden war. Die Ochsenkarren repariere man schon lange in Omaruru, dort gebe es auch eine Wagenmacherei, das aber sei alles fast vierzig Kilometer von Obongo entfernt.
Der letzte Schmied, ein Hüne aus Potsdam, namens Friedhelm Kelch, sei über Nacht auf und davon, und sein Gehilfe, ein Ovambo, sei fünf Wochen später, als die Blutseuche unter den Schafen grassierte, in Panik nach Etjo geflohen. Dort habe er sich bald darauf verheiratet. Das habe sich begeben, bevor dieser Samuel Maharero mit dreihundertfünfzig Mann nach Obongo gekommen sei.
Als sich Schwester Ursula bückte, weil sich ein herumliegender Draht im Saum ihrer Tracht verhakt hatte, rutschte ihr das Tuch vom Kopf, und ihr schönes dunkelbraunes Haar fiel auf die Schultern. Ich musste staunen, wie jung sie noch ist!
Schwester Ursula bestand darauf, die Tür der Schmiede wieder ordentlich zu verriegeln, auch das Wagenrad, das umgekippt davor gelegen hatte, musste wieder an den alten Platz.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:
Erstmals 2012 erschien im Projekte Verlag Cornelius Halle „Knöpfchen und der Mann mit der Mütze“ von Siegfried Maaß: Matthias, Knöpfchen genannt, möchte seiner Mama nicht noch einmal wehtun, indem er deren neuen Freund vergrault.
Robert und Jenny sind dicke Freunde, die sich nicht von der Clique und derem Anführer negativ beeinflussen lassen.
Marco erweist sich als Rudis wahrer Freund, als dessen Eltern bei einem Erdrutsch ihr Haus verlieren.
In drei Kurzgeschichten für Kinder und Erwachsene erzählt Siegfried Maaß von konfliktreichen Situationen, in denen sich Kinder bewähren müssen. Der Autor gibt damit unaufdringliche Beispiele von Freundschaft und Verlässlichkeit. Hier der Beginn der ersten der drei Geschichten:
„Knöpfchen und der Mann mit der Mütze
An einem Nachmittag im Frühling wollte ich meine Mama von der Arbeit abholen. Sie ist in der Sparkasse beschäftigt und muss die Leute - Kunden, sagt sie dazu — beraten, wie sie am besten ihr Geld anlegen können, damit es im Lauf der Zeit immer mehr wird, ohne dass sie etwas dafür tun müssen. Als sie sagte, dass man Geld „anlegen“ kann, habe ich zuerst an Spielkarten gedacht, die man anlegt, nämlich eine an die andere, und wer zuerst keine mehr in der Hand hält, hat gewonnen. Genauso wie beim Rommé, zu dem wir abends immer zusammensitzen, wenn Oma bei uns ist. Aber dann fange ich jedes Mal rechtzeitig zu gähnen an und vergesse, die Hand vor den Mund zu halten. Mama und Oma wissen dann, dass ich schon sehr müde bin und darum nicht lange Karten spielen kann. Außerdem regt sich Oma immer auf, wenn ich die Hand nicht vor den Mund halte, und macht Mama Vorwürfe, weil sie mich nicht gut erzogen hat. Für Oma ist Mama immer noch das Kind. Danach tut mir Mama jedes Mal leid und zum Ausgleich gähne ich darum noch einmal und benehme mich diesmal gut erzogen.
Aber dann musste ich lernen, dass es bei Geld umgekehrt als beim Kartenspiel ist: Es gewinnt, wer später mehr hat als am Anfang, als er mit dem Anlegen begann. Das hat sie mir erklärt und gemeint, damit könnte ich mir aber noch Zeit lassen. Wenn es so weit wäre, würde sie mich genau wie ihre Kunden gut beraten. Nur bei sich selbst scheint ihr das Beraten nicht so gut zu gelingen. Jedes Mal, wenn ich ganz bestimmte Sachen haben möchte, stöhnt sie und fragt, ob es denn nicht auch solche sein könnten, die nicht so teuer sind. Manchmal kann ich sie dann überzeugen, dass es ausgerechnet diese ganz bestimmten Markenschuhe sein müssten oder die besonderen Jeans, weil die anderen sie auch haben. Dann beginnt sie immer zu rechnen, bis sie endlich ihr „Okay!“ sagt und ihren Laptop schließt, ehe ich einen Blick auf den Bildschirm werfen kann. Darin verbirgt sie all ihre kleinen Geheimnisse vor mir. Auch ihre Geldangelegenheiten.
Ebenso wie ich selbst manches für mich behalte. Ich muss aber dafür nichts schließen oder ausschalten, sondern einfach nur den Mund halten und aufpassen, dass mir nicht ein Wort über die Lippen kommt, das mein kleines Geheimnis verrät. Zum Beispiel, dass ich mir ausgedacht habe, sie heute von der Arbeit abzuholen. Sie hat nämlich Geburtstag und ich habe zu Hause schon den Kaffeetisch vorbereitet. Sogar an das gute Geschirr habe ich mich herangewagt, das ich nicht anfassen soll, weil es ein Erbstück von Oma und darum als ewiges Andenken sehr wertvoll ist. Oma selbst achtet darauf, dass wir das „gute Stück“ immer gut behandeln. Wenn es nach ihr ginge, müsste es wie im Museum in einer Glasvitrine stehen und sollte nicht berührt werden. Aber danach richtet sich Mama zum Glück nicht.
Das ist unser gemeinsames Geheimnis. Nur mir hat sie untersagt, es aus dem Schrank zu nehmen. Aber weil heute ein besonderer Anlass ist, habe ich getan, als hätte sie es mir nie verboten. Dafür habe ich mir einen Stuhl an den Wohnzimmerschrank gerückt, weil ich sonst nicht herangereicht hätte. Mit jedem Teil, das ich herausnahm, glaubte ich Omas Worte zu hören: „Das gute Porzellan muss man behandeln wie ein rohes Ei!“ Darum war ich froh, als ich Tassen, Untertassen und Kuchenteller endlich auf dem Tisch stehen hatte. Zum Glück hatte ich sie besser als rohe Eier behandelt. Von denen waren mir nämlich schon einige zu Bruch gegangen. In die Mitte hatte ich einen Topf mit Alpenveilchen gestellt. Dafür hatte ich zwei Wochen lang mein Taschengeld gespart. Nun brauchten wir nur noch den Kuchen zu kaufen und zum Schluss den Kaffee zu brühen. Das macht sie aber lieber selbst, weil sie es besser kann als ich. Mit brühheißem Wasser habe ich schon meine Erfahrungen gesammelt und einige wolkenartige Narben auf meinem linken Arm dazu.
Gern wäre ich jetzt in die Sparkasse hineingegangen, wagte es aber nicht. Wenn ich wenigstens den Schattenplatz neben dem Zeitungskiosk erwischt hätte! Aber dort hatte es sich bereits ein Mann bequem gemacht, dem es wohl in der Nachmittagssonne ebenso wenig gefiel wie mir. Irgendwie kam er mir bekannt vor. Ich wusste aber nicht, wo ich ihn schon mal gesehen haben könnte. Trotz der Wärme trug er eine Mütze. Eine mit kurzem Schirm, unter der blonde Locken hervorragten und die seinen Kopf rund und klein aussehen ließ. Auch seine blaue Windjacke fiel an diesem Tag besonders auf. Alle anderen liefen kurzärmelig in Blusen oder Sporthemden umher. Genau wie ich selbst. In einem von meinen guten, die für besondere Tage bestimmt waren. Heute war so ein Tag. Hoffentlich denkt Mama gleich daran, dass sie Geburtstag hat, wenn sie mich sieht. Damit sie gar nicht erst auf den Gedanken kommt zu schimpfen.
Manchmal trafen sich unsere Blicke, die des Mannes mit der Mütze und meine. Dann wandte ich mich jedes Mal schnell ab und sah auf die bunten Zeitschriften an dem Kiosk. Ich war wütend auf mich selbst, weil ich zu feige war, in die Sparkasse hineinzugehen. Aber Mama hat es nicht gern. Sie sagt, sie würde sich dann von mir beobachtet fühlen und auch ihre Kolleginnen wollten nicht, dass ich sie durch die Glaswand anstarre. Da sitzen sie nämlich wie in einem gläsernen Käfig und können sich nicht einmal kratzen oder die Nase putzen, ohne dass ihnen dabei jemand zusieht. Ich wäre bestimmt nicht hineingegangen, um Mama oder die anderen Frauen anzustarren, sondern hätte mir gern noch einmal dieses Polizeiplakat angesehen, das man einen Steckbrief nennt. Es hängt gleich neben dem Eingang an einer Säule. Darauf ist ein Mann zu sehen, der von der Polizei gesucht wird, weil er eine Sparkasse überfallen und ausgeraubt hat. Mit einer Waffe in der Hand hat er die Angestellten gezwungen, alles Geld herauszugeben. Danach war er verschwunden, als hätte es ihn nicht gegeben. Seitdem wird er von der Polizei gesucht. Zum Fürchten sieht er auf dem Plakat aus. Unrasiert und mit ganz dünnen Brauen, als wären sie nur mit einem schwarzen Stift gemalt, wie ihn Mama manchmal benutzt, wenn sie am Abend etwas vorhat. Der Kopf des Gangsters ist ein großes Ei. So groß wünschte ich mir mal ein Schokoladenei zu Ostern.“
Erstmals 2003 erschien im Verlag Ulmer Manuskripte Albeck bei Ulm „San Francisco and so on. Happy Rolliday I“ von Hans-Ulrich Lüdemann: Es ist nach wie vor ein gewagtes Unternehmen, als Rollstuhlfahrer mit dem Flugzeug unterwegs zu sein. Und das nicht nur von Berlin nach München, sondern gleich über den Großen Teich. Aber es ist wirklich eine Frage der Organisation, sich auf so einen Trip einlassen zu können. In diesem konkreten Falle traf manch Positives zusammen: Das Wichtigste war wohl, dass unser Gastgeber in San Fran (sage niemals Frisco, dann gibt es Zanke mit Einheimischen!) ein alter Schulfreund war. Dieser war Anfang der Neunziger von seiner Reederei als Repräsentant mit Familie, Haus und Auto in die wohl schönste Stadt Kaliforniens geschickt worden. Durch diese private Anbindung haben wir in vierzehn Tagen ein Maximum sehen und erleben können, was seinen Niederschlag im vorliegenden Reise-Essay fand. Der Zusatz and so on bedeutet, dass es nicht nur um diese Reise geht - und so weiter meint, dass auch mein Leben als DDR-Schriftsteller vor und nach dem Unfall 1977 eine Rolle spielen wird. Verknüpft mit eigenen Beobachtungen und Erlebnissen im US-amerikanischen Alltag, wie er sich nicht nur bei meinem Schulkameraden und seiner Familie zeigte. Sehenswürdigkeiten zu beschreiben halte ich für weniger sinnvoll; das können Reisehandbücher wie beispielsweise der Baedeker viel besser und umfangreicher. Ein besonderes Erlebnis war allerdings der Besuch auf Jack Londons Farm bei Glen Ellen. Nicht zu vergessen der J.-L.-Bookstore - ein Buchladen mit einem Sammelsurium, was nur mit dem weltbekannten Autor irgendwie zu tun haben könnte. Ich hatte Jahre zuvor kraft Fantasie den Abenteuerroman Tödliche Jagd (Co-Autor Hans Bräunlich) geschrieben, dessen Hintergrund unter anderen Jack London und S. F. waren. Im Nachhinein bin ich zufrieden mit meiner professionellen Vorstellungskraft. Oder unser Besuch in Bodega Bay. Hier drehte Alfred Hitchcock seinen Horror-Film Die Vögel. Die Schule, in der sich die Katastrophe mit Möwen, Krähen etc. abspielte, stand noch als heruntergekommene Pension. Das wichtigste Anliegen meines Reise-Essays war jedoch am praktischen Beispiel vorzuführen, dass es auch einem hochgradig Querschnittgelähmten nicht versagt bleibt, im Rollstuhl fremde Länder auf entfernten Kontinenten zu besuchen. Aktionen wie Happy Rolliday I-IV, selbstredend mit helfenden Händen, erweitern nicht nur den Gesichtskreis, sie stärken das Selbstbewusstsein und somit auch die Gesundheit eines Behinderten. Auf Wiederlesen also im Reise-Essay „Kapstadt und so weiter“. Zuvor aber geht es erstmal nach San Francisco:
„Die Ankunft in San Francisco ist ein Augenblick fürs ganze Leben
Des Dramatikers William Saroyan Ausspruch aus eigener Anschauung überprüfen zu können - es wird noch etwas dauern. Ist das Wetter in Berlin-Tegel noch leidlich, so bleiben uns leider dank einer regenschwangeren Wolkendecke sowohl Amsterdam als auch der Kanal beim Überfliegen verborgen. Fast pünktlich 9.30 a.m. Ortszeit schwebt die Maschine über London-Heathrow ein. Statt Gott befohlen! sagt meine innere Stimme nun: Gott sei Dank! Landung und Service sind okay. Aber irgendwie muss jemand die Zeitpläne durcheinandergebracht haben. Ein Kleintransporter, der mich über eine am Heck gelegene Hebebühne aufnimmt, saust verdammich waghalsig kreuz und quer über den International Airport. Und es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich korrekt ständig auf einer linken Fahrspur unterwegs bin.
Wohl um unserem Begleiter, einem alten Herrn mit paramilitärischem Auftreten, zu zeigen, dass der Deutsche an sich zumindest im Ausland freundlich gegenüber jedermann ist, bestätige ich überflüssigerweise mit meinem eher dürftigen englischen Wortschatz die Jahrhunderte alte Legende vom regennassen Londoner Wetter. Seine Bluse strafft sich, als er auf eine gerade erst überstandene sehr viel schlechtere Witterung verweist. Nicht nur hier in Great-Britain - auf der Welt scheint alles relativ zu sein ...
Da schnarrt es plötzlich aus Opas Walkie-Talkie und der Transporter beschleunigt sofort merklich. Die nächsten fünf Minuten beweisen Dörte und mir, dass der langweilige und beherrscht dröge Engländer auch anders kann: Trotz plötzlicher Hektik singt der Alte sich eins. Und kaum haben wir jenes Fahrzeug verlassen, da saust unser Betreuer mit mir durch die Gänge, dass Dörte Mühe hat zu folgen. Seine Warnrufe scheuchen die vor uns Gehenden rechts oder links zur Seite. Die große Reisetasche auf den Knien haltend, verliere ich jede Orientierung. Bewusst ist mir nur, dass der Mann immer einer bestimmten, farbig ausgelegten Linie folgt. Die unübersichtlichen Wege von beziehungsweise zu den vier Terminals und ihren Abfertigungshallen sind auf diese Weise kaum zu verfehlen. Wegen unserer Eile fällt die Zollkontrolle gewissermaßen aus. Der Gedanke an Terroristen oder Luftpiraten samt ihren viel raffinierteren Methoden einer Tarnung macht mir kurzzeitig zu schaffen.
Dann heißt es wieder: Gott befohlen! Dieses Mal für BA-Flight Number 289. Ich werde erneut durch den ausgebuchten Flieger gekarrt und der Streit um den mir genehmen Sitzplatz flammt ein zweites Mal auf. Dem Chef-Steward fällt es schwer nachzuvollziehen, dass ein Passagier allein nur mit der Schulter voran in den Restroom gelangen kann - ganz zu schweigen zwei auf einmal - meine Frau mit mir. Kurzum - in der Boeing 747 bekommen wir schneller unseren Willen. Absoluter Nutznießer ist ein junger Mann, der auf dem von mir geforderten Sitzplatz an der fensterlosen Außenwand sitzt: Er darf unbesehen in die First Class wechseln. Auch ein Vorteil für uns - der erste Platz am Mittelgang bleibt somit unbesetzt. Wir haben es also geschafft und wir sind auch geschafft. Die pantomimischen Notfall-Übungen einer engagierten Stewardess registriere ich nur noch mit gelassener Höflichkeit. Als Fischkopp halte ich es mehr mit der Lebensphilosophie alter Skipper, nach der beispielsweise bei einer Havarie die Schwimmkunst nur geeignet sei, alle Qualen vor dem Ertrinken zu verlängern.
Etwa einen halben Tag würden wir uns also in zigtausend Metern Höhe ausruhen können. Mir macht Stillsitzen nichts aus: Von zehn Uhr vormittags bis zehn Uhr abends halte ich mich in einem bequemen Ledersessel auf. In der Nähe ein Computer mit Monitor und Drucker; Bücher und Zeitungen. Nicht zu vergessen etliche Infrarot-Fernbedienungen für die verschiedensten Hi-Fi-Geräte. Ein Unterschied wird in der Boeing allerdings offenbar - bei einem Meter und vierundachtzig Zentimetern Körpergröße steht es hier nicht gut um meine Kniefreiheit.“
Erstmals 2004 erschien im Verlag Ulmer Manuskripte Blaubeuren bei Ulm „Kapstadt und so weiter. Happy Rolliday II“ von Hans-Ulrich Lüdemann. Und so beginnt dieser zweite Reise-Essay:
„IN MEMORIAM GÜNTHER
Mein Dank gilt sowohl Vera und Horst van Biljon als auch Dörte und Jens. Ohne sie wäre meine Südafrikareise nicht möglich gewesen.
Vorspann
Mein ältester Bruder Günther war 1958 nach Südafrika übergesiedelt. Drei Töchter und ein Sohn leben noch dort. Februar/März 2001 war ich mit Frau und Sohn bei einer Nichte in Somerset West zu Besuch, deren Mann seine Wurzeln bis auf den Kreuzfahrer Gottfried von Bouillon zurückführen kann. Meine Unternehmungen in der Kap-Region waren nicht von Reiseführern bestimmt; mich inspirierte eher Nelson Mandelas Langer Weg zur Freiheit. Der Besuch auf Robben Island war Ehrensache. Dennoch ist es acht Jahre nach Ende der Apartheid die kritische Sicht eines Außenstehenden, was sowohl Schwarzen als auch Weißen nicht immer gefallen mag.
Schon 1993 habe ich in San Francisco die Erfahrung gemacht, dass private Bindungen hinsichtlich Reise-Erfahrungen am meisten hergeben. 2003 erschien im selben Verlag zu Kalifornien San Francisco and so on Happy Rolliday das letzte Wort im Titel ist eine Eigenschöpfung, da ein Unfall mich seit 1977 lebenslang in den Rollstuhl zwingt. Dieser Fakt gibt ein weiteres Motiv zum Schreiben - ich möchte anderen in ähnlicher Situation Mut machen, sich trotz starker Behinderung die Welt anzusehen.
MEHR ALS WEISHEIT ALLER WEISEN GALT MIR REISEN, REISEN, REISEN.
Theodor Fontane
Manche Leute glauben ja, dass Fischkopp! ein vortreffliches Schimpfwort ist, weil mit Seewasser Getaufte angeblich nicht gerade die Hellsten sind. Im Grips und überhaupt. Dabei wissen sie gar nichts vom geheimen Adel dieser norddeutschen Minderheit. Also: Fischköppe sind höchstens 5 km weit von der Küste geboren. Warum ausgerechnet fünf – mein Geburtsort liegt etwa 5.000 m vom Greifswalder Bodden entfernt. Und ich bin mit Herz und Verstand ein Fischkopp. Lieber ein Fischkopp als ein Holtkopp (niederdt. für Holzkopf) oder ein Piepenkopp (niederdt. für Pfeifenkopf), sage ich immer. Und - einmal Fischkopp – immer Fischkopp. Egal, wo auf der Welt ich mich befinde. Auch Theodor Fontane hätte nirgendwo und um keinen Preis den Neuruppiner verleugnet ...
Das mal vorab zum Thema Weisheit der Weisen oder Reisen. Für manche Zeitgenossen steht Unterwegssein verdammt hoch im Kurs, sodass sie sich zu diesem Zwecke sogar bei einer Bank oder bei Verwandten verschulden. Worte wie einmal sehen und sterben kommen ihnen als Motiv dafür gerade recht. Abstand von so was, kann ich da nur zu sagen. Leicht abgewandelt: Kommt Zeit, kommt Fahrt. Oder: Auch was (sich) lange wehrt, das wird gut. Und es mag so um Frühjahr 1968 gewesen sein, da klingelte in meiner fußkalten Berliner Ladenwohnung gegen sieben Uhr dreißig das Telefon. Eine freundliche Frauenstimme von der Reisebüro-Zentrale am Alexanderplatz fragte, ob es bei einer Buchung Berlin-Johannisburg bliebe. Falls ja, dann sei der Flug in den folgenden drei Werktagen zu bezahlen. Für Privatpersonen wären das 3.600 Deutsche Mark, aber falls ich im Auftrage einer Partei oder einer gesellschaftlichen Organisation reise, koste ein Ticket nur 2.800 Deutsche Mark. Etwas hilflos erkundigte ich mich nach den Flugkosten in Mark der Notenbank der DDR. Die Antwort war ein beredtes Schweigen. Munter geworden, schob ich nach, dass ich mich bekanntlich wegen eines Devisenvergehens strafbar machte, falls ich privat diesen dreitägigen Flug über Prag, Moskau und Khartum in Westmark bezahlen würde. Und außerdem - meine diesbezüglichen Erkundigungen vor vierzehn Tagen im Reisebüro seien eher theoretischer Natur und beileibe keine verbindliche Buchung gewesen. Mittlerweile wusste ich nämlich, dass Günther Schmidt, Leiter vom Kinderbuchverlag Berlin, eine derartige Investition für unnötig erachtete. Dabei ging es nur um die Flugkosten – vor Ort wollte ich bei der Familie eines Bruders unterkommen, der seit 1958 in Südafrika lebte. Wobei Südafrika für mich damals kein Staat, sondern ein geografischer Begriff von unendlicher Weite war. Ja, mittlerweile war ich in Berlin gelandet, obwohl Fischköppen nachgesagt wird, dass sie bereits unruhig werden, wenn sie ihre Kirchturmspitze nicht mehr sehen. Noch schitt de Mäkelbörger Büffel den Preussen in de Tüffel (Tüffel niederdt. für Kartoffel) – dieses Sprichwort sagt alles über meine Haltung gegenüber Berlinern ...
Mein erster Versuch, mich mit der südafrikanischen Gesellschaft und vor allem mit Black Pimpernel zu beschäftigen, war also fehlgeschlagen. Nein, das ist keine schwarze Heilpflanze. Black Pimpernel hatte einst die Presse abschätzig den vom Apartheid-Regime gejagten Nelson Mandela genannt. In Anlehnung an Scarlet Pimpernel, Titelgestalt eines während der Französischen Revolution spielenden Abenteuerromans, verfasst von Baroness Emmuska Orzy (1865-1947). Dieser Black Pimpernel also besaß die Dreistigkeit eines Robin Hood, indem er fast regelmäßig die weiße Journaille über seine Taten informierte. So verging kaum ein Tag, dass der Schwarze Nelson Mandela nicht auf ihren Titelseiten präsent war.
Bis zum zweiten Versuch, dem seit 1964 auf einer Gefängnisinsel vor Kapstadt einsitzenden Volkshelden, wegen seines Clans voller Respekt auch Madiba genannt, näher zu kommen, sollten etwa zehn weitere Jahre vergehen: Fred Rodrian, durch erfolgreiche Bücher auch als Autor ausgewiesen, hatte jetzt das Sagen im Kinderbuchverlag Berlin. Anders als seinem drögen Vorgänger erschien ihm ein Reportage-Band für Kinder über Südafrika vielversprechend und deshalb förderungswürdig. Da meldete sich das für mich zuständige Wehrkreiskommando und machte geltend, für den Erhalt des Weltfriedens sei meine Anwesenheit als Genosse Reservist im Pionier-Regiment Havelberg von entscheidender Bedeutung. Fred und ich trösteten uns mit dem Sprichwort Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben, vergaßen leider einen dazu passenden weil gar nicht atheistischen Satz Der Mensch denkt und Gott lenkt. Kurzum: Bei einem Dienstunfall während meiner Wehrzeit erlitt ich 1977 eine hochgradige Querschnittlähmung – seitdem gehört der Rollstuhl zu meinem Leben wie Atmen, Essen und Schlafen.
So gesehen war jetzt mein Plan wohl für immer gescheitert, in das Land Madibas zu reisen und darüber für Kinder zu schreiben. Es mag 1980 gewesen sein - aus familiären und gesundheitlichen Gründen war ich von Berlin in meine vorpommersche Geburtsstadt Greifswald übergesiedelt – da geschah für DDR-Verhältnisse etwas Unerhörtes: Schwager Kurt arbeitete in einer Westberliner Vermittlungsstelle der Bundespost. Was uns DDR-Bürgern nur nach stundenlanger Warterei auf einem Postamt gelang – für ihn war es eine der leichtesten Übungen, manuell Telefonverbindungen zwischen Ost-West oder West-Ost herzustellen. Eines Tages klingelte also gegen Mittag unser Telefon. Ich freute mich sehr, als ich Kurts Stimme erkannte. Irgendwie klang mein sonst in sich ruhender Schwager etwas nervös, als er mir eine große Überraschung ankündigte. Ich bräuchte nur dranzubleiben, alles Weitere würde sich finden. Das Superschwergewicht war noch ein waschechter Berliner - mit Herz und Schnauze. Heutzutage herrscht bei denen leider nur noch die Schnauze vor ...
Ich lauschte also erwartungsvoll in den Hörer hinein, vernahm das Stöpseln eines Steckers, danach das Geräusch einer laufenden Wählerscheibe und ein rhythmisches Klicken – die Frau am anderen Ende der Leitung meldete sich in einer mir fremden Sprache. Schwager Kurt verlangte eine Verbindung mit Mr. Lüdemann. Günther Lüdemann – das älteste von fünf Geschwistern. Ich fühlte meine Finger feucht werden.“
Bereits 1976 hatte Hans-Ulrich Lüdemann im Kinderbuchverlag Berlin „ICH – dann eine Weile nichts“ veröffentlicht: Der Titel dieses Mädchenbuchs für Jungen scheint das Lebensmotto für die 13-Jährige Erzählerin Bärbel Fielow zu sein. Was die Schule angeht, da muss es in der Klasse immer nach ihrer Meinung gehen. Wie sagt sie immer: Noch mache ich die Ansagen! Wobei sie sich aber auch für die Schwachen unter den Mitschülern einsetzt. Wie man salopp sagt, Bärbel Fielow hat auch eine Menge um die Ohren. Zum einen ist sie mit einer älteren Schwester gesegnet, die sich kaum mit ihr abgibt. Erika konzentriert sich ganz auf ihren Freund Lutz. Das mag noch angehen, aber da ist Vadding, dessen Leben etwas aus dem Ruder gelaufen ist: es kränkt ihn, dass er aufgrund falscher Anschuldigung, er habe Republikflucht begehen wollen, in Unehren aus der Volksmarine entlassen wurde. Hinzu kommt, dass seine Ehefrau sich einem anderen Mann zugewandt hat; ausgerechnet dem Direktor der Schule, die sowohl Bärbel als auch Erika besuchen. Und um Bärbels Stress vollends zu begreifen, muss man wissen, dass der Sohn des Direktors, Hein Himmelangst, ihr Mitschüler ist. Und weil beide, Hein und Bärbel, nicht auf den Kopf gefallen sind, stehen sie in einem ständigen Wettstreit. Nicht nur was die Zensuren angeht, sondern auch wer die meisten Anhänger in der Klasse hinter sich vereint. Als Bärbel eine Ferienfahrt organisiert, versucht Hein im Verein mit seiner Clique, das Unternehmen zu torpedieren. Achtung erwirbt seine Widersacherin allerdings, als sie ihm gesteht, dass am Hochzeitstag ein Stein durch die Scheibe in die Wohnung Himmelangst geflogen war, von Bärbel Fielow geschleudert aus Protest gegen den Weggang der Mutter. Kurioserweise gewinnt Bärbel in einem Preisausschreiben eine Reise im so genannten Freundschaftszug ans Asowsche Meer. Und weil sie seit Jahren mit einer sowjetischen Dolmetscherin befreundet ist, die auf der Volkswerft arbeitet, Soja stand ihr auch bei, als das Mädchen von der ersten Regel überrascht wurde - kann Bärbel aufgrund der Russisch-Kenntnisse im Ferienlager zu großer Form auflaufen. Leider kann das Mädchen sich nicht mit dem Verhalten der Erwachsenen in der FDJ-Leitung abfinden. Obwohl vieles in der unmittelbaren Umgebung ganz offensichtlich im Argen liegt, singen jene ein Loblied auf alles und jedes in der Sowjetunion. Für Bärbel Fielow ist das Betrug an der ansonsten hoch gehaltenen Deutsch-Sowjetischen Freundschaft. Zarte Bande knüpft Bärbel mit Anatoli, dem Sohn des Lagerleiters. Trotz andauernder Beteuerung des Freundschaftsgedankens wird von der DDR-Delegationsleitung eine enge private Nähe zu Einheimischen nicht gern gesehen. Für Bärbel Fielow ist das unannehmbar. Und so schön die Ferientage waren, sie freut sich auf ein Wiedersehen mit ihrer Schulklasse, vornehmlich mit Hein. Was das Mädchen nicht bemerkt hat, ist ein Bild, das Anatoli vor dem Abschied heimlich ins Gepäck geschmuggelt hat. Seine Widmung klingt für den eifersüchtigen Hein Himmelangst nach Zuneigung, Herz und Liebe zwischen Anatoli und Bärbel. Und wieder eskaliert die Auseinandersetzung zwischen den Stiefgeschwistern. Aber wie es auch im tatsächlichen Leben geschehen kann - am Ende gibt es eine von allen willkommen geheißene Versöhnung.
Nach Motiven des Kinderbuches von Hans-Ulrich Lüdemann drehte das DDR-Fernsehen in der Regie von Gunter Friedrich einen gleichnamigen Film, der am 30. September 1979 im 1. Programm erstausgestrahlt und 1981, 1983 und 1986 wiederholt wurde. Die Rolle der selbstbewussten Bärbel Filow wurde von Cornelia Voss gespielt, die ihrer Mutter von Renate Blume und die ihres Vaters von Hans-Peter Reinecke. Zudem wirkten Schülerinnen und Schüler aus Berlin mit. Hier aber der Anfang des Mädchenbuches für Jungen:
„1. Teil
- Kapitel
„Fängt mit dem Buchstaben S an. Wie unsere Stadt“, versucht Grab Erinnerungen an den Geographieunterricht zu wecken. Ich weiß natürlich Bescheid. Sollen die anderen ihren Grips anstrengen. Aber wo nichts ist, ist nichts. So kommt es mir vor. Und irgendwie freue ich mich darüber. Gleich wird Grab seine blassblauen Augen zur Fensterreihe wenden, mir zunicken und sagen ...
„Spreewasser!“
Der Ruf kommt von hinten. Von der letzten Bankreihe, genauer gesagt. Gehört einem Brillenträger. Brauch mich gar nicht umzudrehen. Die Stimme kenn ich unter Tausenden heraus. Untrügliches Kennzeichen für mich: Gänsehaut! Jawohl, ich krieg eine Pickelpelle, wenn Hein Himmelangst den Mund aufmacht. Immer ernst und gelassen, der Herr Schüler. Natürlich ist es albern, anzunehmen, dass der Brillengänserich die Antwort nicht gewusst haben könnte. Grabsow nickt huldvoll. Er denkt, auf Heins Grips ist immer Verlass. Na, wir werden sehen. Kommen auch noch andere Stunden. Da werd ich es ihm schon zeigen! Noch nicht lange in der Schule, ebenso kurz in unserer Klasse, aber hier den Ton angeben wollen! Die Lehrer? Die unterstützen Hein Himmelangst. Um einen starken Kern zu schaffen. Für das Klassenkollektiv. Zwecks Leistungssteigerung und bewusster Disziplin! Hat Grab mal gesagt. Ob er gedacht hat, dass wir ihn verstehen? Ich vielleicht. Und - vielleicht auch Hein Himmelangst. Die anderen haben geguckt wie doof. Können ja nichts dafür, wenn die Lehrer so ein Zeug reden. Ohne es hinterher zu erklären. Dabei soll es uns aber angehen. Komische Welt manchmal - die Schule.
„Vielleicht haben die in Berlin auch so einen Hafen wie wir? Und wenn man aufwacht, glaubt man, man hat geträumt. Die Reise, mein ich.“
Das ist mein Nachbar Olaf, der da vor Aufregung stottert. Olaf Zerrer. Manchmal ein bisschen beschränkt. Aber ein Kumpel, wie er nicht besser sein kann. Ein anständiger Mensch, aus dem mal was wird. Das schwör ich. Der findet sich später zurecht. Was ich von dem neunmalklugen Hein Himmelangst nicht sagen würde. Manch einer ist schon krank geworden von vielem Wissen. Und wissen wollen. Im Kopf, mein ich. Vor allem, wenn es einem zu früh eingetrichtert wird. Einige lachen über Olaf. Aber sie beruhigen sich schnell. Kann sein, dass sie meinen Blick richtig verstanden haben. Ich kann so was nämlich nicht leiden. Wenn Leute ausgelacht werden. Bestimmte Leute. Noch mach ich die Ansagen in der Klasse. Für die meisten jedenfalls. Wenn Grab doch nur ein bisschen fixer wäre mit den Worten. Der schafft manchmal eine Spannung, man ist hinterher richtig kaputt. So spannt der einen auf die Folter. Auch im Unterricht. Furchtbar. Und wir fallen immer wieder darauf rein. Muss ein Trick bei sein. Warum Grabsow diese Schliche den anderen Lehrern nicht verrät? Bei den meisten ist die Schule verdammt langweilig. Aber ich glaube, sie hören nicht auf ihn. Alfred Grabsow ist immerhin erst vierundzwanzig.
„Wohnschiff!“
Hein Himmelangst mault hinter mir. Ich hab's genau gehört. Es war noch nicht für Lehrer Grabsows Ohren bestimmt. Aber drei, vier andere Schlitzohren richten sich auf. Gehen auch in der Pause immer mit dem. Ich drehe mich um. Das war schließlich ein Angriff. Und den lass ich nicht hinter meinem Rücken austragen. Ich bin doch nicht bescheuert. Das ist überhaupt Himmelangstens Fehler: Er denkt, Mädchen sind blöd. Können nur auswendig lernen für die Schule. Ansonsten etwas taub. Überall. Also, wenn was kommt, was Übles, dann von diesem da auf der letzten Bank. Diesem Besserwisser, Eierbatz, Miesmann ... Ich grinse ihn frech an. Seine Attacke verpufft. Die Antennen der anderen sind auf Grabsow eingepegelt. Sie wollen sich nichts entgehen lassen. Über die Fahrt nach Berlin. Diese tolle Unterwegs-Schaffe unserer 7a.
„Wohnschiff“, wiederholt Hein. Jetzt etwas lauter. Mehr Spott drin als das erste Mal. Beinahe abfällig, diese Bemerkung. Mir bleibt nichts verborgen. Er stößt seinen Nachbarn an. Schorsch schrickt zusammen. Hein Himmelangst blickt ihn an. Fordernd. Sagen muss er nichts. Freunde verstehen sich auch so. Von wegen Freunde! Hein Himmelangst ist die Sonne, Schorsch Schulte und einige andere sind die Trabanten. Und das alles in weniger als drei Monaten! Allerhand, was in diesem Brillenkönig steckt. Seine Tricks möchte ich mal auskundschaften. Den würde ich aufs Kreuz legen. Garantiert. Vielleicht kauft er ihnen jeden Tag Eis? Oder er hat eine Autorennbahn? Mit Geist allein kann er sich diesen Trupp nicht halten.
„Sprechen wir jetzt über die Finanzen“, sagt Grab. Und weil Olaf augenscheinlich Füllhalter auf, Füllhalter zu spielen muss, fragt Grab: „Kleine Rechtschreibübung. Wie schreibst du dieses Fremdwort, Olaf?“
Unser Schwergewicht schraubt sich langsam aus der Bank. Er runzelt die Stirn. Ob er damit andeuten will, dass er denkt? Find ich blöd, aber Falten auf der Stirn werden so gedeutet. Dabei ist meine immer glatt wie ein praller Luftballon. Und ich kann denken! Olaf tut mir leid. Wie er so zu mir runter sieht. Aber da kann ich eisern sein. Vorsagen ist nicht. Solchen wie Hein Himmelangst würde ich vorsagen. Oha, das wäre mir eine Freude. Denn wer sich vorsagen lässt, erniedrigt sich. Seinen Geist. So seh’ ich das.
„Am Anfang wie das Vieh, mein ich“, sagt Olaf und kratzt sich unsicher am Hinterkopf.
Mann o Mann! Klar, ein Sturm bricht los. Keiner reagiert auf meine zornigen Augenblitze. Wenn solche Wellen der Heiterkeit öfter den großen Olaf heimsuchen, richten sie bestimmt Schaden an. Der kriegt einen Sprachfehler, würde ich sagen. Weil ihm dauernd die Spucke wegbleibt. Wegen der Angst vor Lacher. Wer spricht, kann schlecht zuhören. Also wird er nach jeder Silbe eine Pause einlegen - der Stotterer ist perfekt. Ich finde, Grabsows befehlende Handbewegung hätte etwas früher kommen können.
„Eine neue Definition für Fremdwörter: Sind alle Wörter, die ein Schüler nicht schreiben kann! Und somit, glaube ich, ist die deutsche Sprache geradezu von Fremdwörtern überhäuft.“ Blödsinn, was Grab da von sich gibt.
Tut mir leid, aber ich kann das nicht anders finden. Meinetwegen noch: höherer Blödsinn. Weil Lehrer sich ja immer was bei denken, wenn sie was tun. Das sagt jeder Erwachsene von sich. Und Lehrer sind gebildeter als normale Erwachsene. Weil sie manchmal so wie wir denken können. Manchmal. Grab vielleicht öfter als manchmal. Ich glaube, ich bin die Einzige, die über die Definition nachdenkt Für die anderen ist Olafs Antwort so gut wie vergessen. Über die Fahrt soll Herr Grabsow weitersprechen:
Ach ja, bitte, Herr Grabsow! Tatsächlich, der Fernsehturm, Herr Grabsow? Wie baut man so eine Riesenlatte? Hoho und hihi. Hinter diesen Trick kommt Grab nicht. Er berichtet Wichtiges und weniger Wichtiges. Zeit kostet beides. Aber die Deutschstunde ist dann wenigstens vorbei. Orthographiestunden zählen nicht zu den beliebtesten. Selbst bei mir nicht. Obwohl ich da was aufzuweisen habe.“
Und damit haben wir sie ja schon ein bisschen kennengelernt, diese Bärbel Fielow, die durchaus beweisen will (und das zu Recht), dass Mädchen auch was taugen – auch wenn sie für diese Beweise vielleicht nicht immer die richtigen Mittel wählt. Aber immerhin zwei Dinge beherrscht sie ziemlich perfekt – die russische Sprache und das Mopedfahren – obwohl sie doch erst 13 ist. Aber wenn es dringende Gründe gibt …
Viel Vergnügen beim Lesen, weiter einen schönen Rest-Sommer und bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.