Ebenfalls von Matthias Biskupek stammt „Das Fremdgehverkehrsamt und andere satirische Feuilletons“, geschrieben anfangs der 1990er Jahre und mit ostdeutschem Blick auf die gerade vollzogene deutsche Einheit.
Eine wahre Fundgrube vor allem für Familien- und Heimatforscher, aber nicht nur für sie, sondern auch für andere historisch Interessierte ist das von der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Pinnow herausgegebene „Ortsfamilienbuch, Kirchspiel Pinnow, 1793 – 1874“ – insgesamt drei randvoll gefüllte Bände.
Als eine Einladung zum näheren Kennenlernen eines Lebens und Lebenswerks von großer Vielfalt und Intensität in Lyrik und Prosa, die einen Schriftsteller und Publizisten mit Leib und Seele präsentiert, versteht sich der druckfrische Band „Etwas sagen möchte ich …“. Eine Biografie in Büchern“ von Michael Baade. Mit Grafiken von Professor Armin Münch, einem seiner engsten Freunde…
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Der heutige Beitrag ist Menschen mit Behinderungen gewidmet. Wie gehen andere Menschen mit ihnen um? Was erwarten sie selbst von anderen Menschen, und wie definiert sich Menschlichkeit? Ein Thema, das auch Kinder viel angeht. Denn so lernen sie, dass nicht immer alles in Ordnung ist, dass aber dennoch auch für Menschen mit Behinderungen gilt – sie sind trotz ihrer Behinderungen in erster Linie Menschen und es steht ihnen zu, wie Menschen behandelt zu werden.
Erstmals 2018 veröffentlichte Isabel Erdem im Doris-Verlag Ruppichteroth das Kinderbuch „Mein Papa fährt Rollstuhl“ mit Illustrationen von Heike Georgi: „Warum hat dein Papa einen Rollstuhl?“, fragt das Kind. „Ist der die Treppe runtergefallen?“ Verwirrt schüttelt Paula den Kopf. „Mein Papa steigt doch niemals Treppen! Er nimmt immer den Aufzug - oder die Rampe.“ Paulas Papa erklärt: „Meine Beine funktionieren nicht richtig. Das ist wie wenn die Augen nicht richtig funktionieren, dann braucht man ja auch eine Brille. Verstehst du?“ Zu ihrem vierten Geburtstag bekommt Paula einen Roller. Nun kann sie zusammen mit ihrem Vater die Hügel hinabrollen, so schnell, dass ihre Mutter kaum hinterher kommt. Bald wird Paulas kleiner Bruder geboren und lernt endlich auch seine Familie kennen. Und so geht die Geschichte von Paula los - und das ist auch die Geschichte von ihrer Mama, von ihrem Papa, dessen Beine nicht laufen können, und etwas später auch die von Jonas, Paulas kleinem Bruder:
„MEIN PAPA FÄHRT ROLLSTUHL
Ich bin Paula.
Ich bin vier Jahre alt.
Meine Eltern sagen, das ist schon sehr groß.
Meine Mama hat einen dicken Bauch,
weil da unser Baby drin sitzt.
Mein Papa hat einen Rollstuhl,
weil seine Beine nicht laufen können.
Zum Geburtstag habe ich einen grünen Roller bekommen.
Ich durfte vier Stück Kuchen essen!
Papa hat mir vier Knutscher auf die Stirn gegeben.
Heute machen wir einen Ausflug mit dem neuen Roller.
Manfred kommt auch mit. Er ist Papas Assistent.
Manfred hilft Papa, auf mich aufzupassen.
Damit ich nicht vom Klettergerüst falle
oder wie ein Wirbelwind davonrenne
Meistens bin ich zu schnell für meine Eltern.
Nur wenn wir den Hügel hinunterlaufen,
ist Papa schneller.
Weil seine Räder dann alleine rollen.
Mit meinem Roller habe ich auch Räder,
deshalb bin ich jetzt vielleicht noch schneller.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:
Erstmals 2014 gab die Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Pinnow das „Ortsfamilienbuch, Kirchspiel Pinnow, 1793 – 1874“ heraus, an dem Walter Ammoser, Hans-Peter Köhler, Wilfried Rachow, Griet Wossidlo, Wilhelm Wossidlo sowie weitere Autorinnen und Autoren mitgewirkt haben: Im Gegensatz zu einer Ortschronik, die die historischen Ereignisse eines Ortes beschreibt, betrachtet das Ortsfamilienbuch die Menschen eines Ortes in ihrem historischen Umfeld. Das vorliegende Ortsfamilienbuch besteht aus drei Bänden und enthält 3.478 Familien mit mehr als 11.100 Personen. Es sind alle Bewohner aus dem Kirchspiel Pinnow bei Schwerin dokumentiert, die in den Tauf-, Trau- und Sterberegistern der Kirchenbücher für die Jahre von 1793 bis 1874 aufgeführt sind. Um Familienzusammenhänge besser darstellen zu können, sind auch einige Daten aus den Kirchenregistern vor 1793, sowie aus den Konfirmationsregistern, aus den Volkszählungen 1819 und 1867 und aus dem Internet hinzugezogen worden. Zum Kirchspiel Pinnow gehörten zu dieser Zeit die Dörfer Gneven, Godern, Görslow, Petersberg, Pinnow, Steinfeld (heute Raben Steinfeld), Sukow und Zietlitz. Zum besseren Verständnis des historischen Hintergrundes ist zu jedem Ort eine kurze Zusammenfassung der Ortsgeschichte den Familiendaten vorangestellt worden. Ein umfangreicher Anhang führt den Leser gezielt durch die Vielzahl der Namen, Orte und Berufe. Für den Familienforscher, dessen Stammbaum mit den Orten im Kirchspiel Pinnow in Verbindung steht, ist das vorliegende Buch ein umfassendes Hilfsmittel, um seinen Kenntnisstand auf einfache und schnelle Art zu vertiefen. Aber auch der historisch Interessierte, für den die mecklenburgische Geschichte wichtig ist, kommt auf seine Kosten.
Der Band 1 enthält die Familien 0001 Abel bis 1329 Kiencke, Karl.
Der Band 2 enthält die Familien 1330 Kiepke bis 2604 Schmidt, Johann Jochen Friederich
Der Band 3 enthält die Familien 2605 Schmidt, Ludwig bis 3478 Zogmann, Friedrich. Und hier das Geleitwort von Pastor Tom Ogilvie zu dieser spannenden Unternehmung:
„Liebe Leserin, lieber Leser,
das Ortsfamilienbuch für Pinnow bei Schwerin wird nun am Beginn des Jahres 2015 durch unsere Kirchengemeinde veröffentlicht.
Große geschichtliche Veränderungen haben das letzte Jahrhundert geprägt. Besonders die beiden Weltkriege, aber auch die Fluchtbewegung während der Zeit nach dem 2. Weltkrieg haben erhebliche Völkerwanderungen innerhalb Deutschlands zur Folge gehabt. Oft sind Geburtsurkunden und Stammbäume in den Wirren der Kriege verloren gegangen. Heute leben wir in einer Zeit, in der Kriege in Europa die Ausnahme bilden. Wir leben in einer friedlichen Zeit, in der viele Familien nach ihren Wurzeln suchen. Die Ahnenforschung hat nach 1989 enorm zugenommen. Viele Familien interessieren sich für ihre Wurzeln. Das Ortsfamilienbuch hilft dabei, sich in kürzester Zeit einen Überblick darüber zu verschaffen, ob mögliche Vorfahren hier im Kirchspiel Pinnow gelebt haben. Die Ortsfamilienbücher sind wertvolle familienkundliche Quellen, die ihre Informationen aus den vorhandenen Kirchenbüchern mit Angaben zu Taufen, Hochzeiten und Todesfällen komplett aufarbeiten und in alphabetischer Ordnung widergeben.
In etlichen Stunden mühevoller Arbeit hat eine Arbeitsgruppe um Walter Ammoser es geschafft, die Informationen der Kirchenbücher aus altdeutscher Schrift zu übersetzen und zu deuten.
Insbesondere die informellen Zusätze zu den Amtshandlungen geben wertvolle Informationen zu den Lebensverhältnissen der jeweiligen Zeit.
750 Jahre nach der ersten Erwähnung des Dorfes Pinnow kann dieses Ortsfamilienbuch der Öffentlichkeit zu Forschungszwecken übergeben werden. Es untermalt aus einer sehr eigenen Sicht die Chronik unseres Kirchspieles.
Ein herzlicher Dank gilt den fachkompetenten Erarbeitern des Ortsfamilienbuches, die in liebevoller Detailarbeit die Eintragungen der Kirchenbücher übersetzt und gedeutet haben.
Ebenso danke ich herzlich der Gemeinde Pinnow für ihre finanzielle Unterstützung, die diesen Druck ermöglicht hat.
Pinnow, den 2. Dezember 2014
Tom Ogilvie“
Erstmals 1992 veröffentlichte Matthias Biskupek im Verlag Weisser Stein Greiz „Das Fremdgehverkehrsamt und andere satirische Feuilletons“: Matthias Biskupek, einst freier Mitarbeiter bei EULENSPIEGEL, WELTBÜHNE, CONSTRUCTIV u. a. stellt in diesem Band Kolumnen von 1990 bis 1992 vor, die zum Teil auch in Zeitschriften erschienen, die ihre Existenz einzig dem Durcheinander der Nachwendezeit verdankten und nach hoffnungsvollem Beginn sehr bald ihr Erscheinen wieder einstellen mussten. Biskupek reflektiert die Ereignisse des Beitritts der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes. Und das aus typisch ostdeutscher Sicht. Hier drei schöne Beispiele, einschließlich der titelgebenden Geschichte:
„WIR FUZZIS
Nein, verehrter Leser, so dürfen Sie das nicht klingen lassen. Als lächerlichen Fuddsi. Fuddsi! Wie hört sich denn das an? Wie Laienspieler, Zuhälter und Impotenzling zusammen. Sie müssen Fassi sagen, ganz locker, ganz leicht, schlicht kennerisch, mit unscharfem s.
Darum geht es nämlich. Um das Unscharfe. Weil Sie wohl ähnlich unscharf denken, wie ich, will ich es kurz erklären:
Fuzzy – also das ist Logik. Und Logik, das ist die Antwort auf die Frage: Wie denke ich richtig? Oder: Wie kann ich anderen klarmachen, dass ich schon immer richtig dachte? Zum Beispiel: Wenn alle Deutschen gut sind, müssen auch alle Guten deutsch verstehen. Logisch. Oder: Wer gestern vom falschen Chef ein richtiges Lob abfasste, muss heute vom richtigen Chef falsch angefasst werden. Komisch logisch, na ja …
Es ist eben die formale Logik, die nicht mehr in die Zeit passt. Beispiel: Autos verbrauchen Luft. Verbrauchte Luft ist schlecht für Mama, Papa, Kinder und sogar den krausen Verkehrsgünther. Also sind Autos schlecht für den krausen Verkehrsgünther.
Das aber ist falsch, denn alle lebenden Autos sind ja lieb zum Verkehrsgünther, gut für den Arbeitsplatzmarkt, und teuer für die Steuer. Und die ist für alle da. Für alle Verwaltungsapparate. Die formale Logik hätte uns hier in die grüne Ecke geführt, aus der wir mit roten Socken wieder hervorgekrochen wären.
Und deswegen gibt es für uns, jene noch ein bisschen lebenden Menschen, Fuzzy-Logik. Das ist die unscharfe Logik. Alles ist so, aber auch ein bisschen so. Quasi eine oppositionelle Zustimmungs-Logik: Im Prinzip sind wir strikt dagegen, dass wir nie dafür sein dürfen, wenn wir grad keine Macht haben, weshalb wir immer mit all unsern Möglichkeiten die Zustimmungsverweigerung negativ zu bekräftigen haben.
Haben Sie nicht verstanden? Das ist eben Fuzzy. Wie das Leben, schwer zu verstehen. Dafür absolut echt. Eine einzige große Grauzone.
Wer wusste, dass die Stasi existierte, war ein bisschen selber Stasi. Wer den Telefonhörer zur Hand nahm, war ein bisschen Abhörer. Wer die Partei der Arbeiterklasse in den Mund nahm, hatte sie schon ein bisschen gefressen. Jeder Gregor war ein bisschen Notar und jede Kartoffel war mit jedem Bisschen zum schönsten Einheitsbrei geworden.
Allerdings ist die Gegenwart das beste Experimentierfeld für die Fuzzy-Logik. Nehmen wir mal als logisches, weil einsehbares Beispiel, das Ozonloch. Das ist ja nun nicht nur ein bisschen da, sondern durch das gucken wir alle demnächst wie in die Röhre. Um es aber zu bekämpfen, müssen wir zum Beispiel rosa Losungen an alle grauen Wände sprühen: Hände weg vom Ozonloch! – Sonst grapscht da jeder rein.
Um das aber wiederum machen zu können, also unseren Protest kraftvoll abzusprühen, brauchen wir diese Treibgasdosen …
Sie haben mich hoffentlich halbrichtig verstanden: Damit wir das Ozonloch ein bisschen brandmarken, müssen wir es ein bisschen für alle erweitern. Bewusstseinserweiterung für alle und alles, auch fürs Ozonloch!
Wir Fuzzis, da bin ich mir ziemlich sicher, werden es schon schaffen, die Erde mit unserer Logik in eine große Grauzone zu verwandeln. Fuzzt alle mit an!
POLITIKERRECYCLING
Gold, Silber, Edelsteine; eben all diese Waren des täglichen Bedarfes sollte man nicht blind und stumpf werden lassen, sondern gelegentlich mit Silberpolitur oder Edelsteinglanz aus der Tube aufmöbeln. Dann hat man lange Freude am Brillantcollier oder dem gülden Fußfesselchen, und jedes Mal wird die zickige Nachbarin aufs Neue weißgoldgelb vor Neid werden. Wir spenden Freude, wo wir nur können.
Auch tun wir für die Umwelt Gutes, indem wir die täglich uns geschlagenen Falten aus- und aufbügeln, vercremen und mit Visagistenhilfe das Mienenspiel des Äußern wie neu werden lassen. Gesichtsrecycling ist wichtig, wenn wir dokumentieren wollen, wie klipp und wie klar wir uns immer besser ganz oben zurechtfinden.
Doch nicht nur Einzelmenschenteile, nein, die Ganzpersönlichkeit sollte gelegentlich neu aufbereitet werden. Denn nicht alle Menschensorten sind vorherbestimmt, altes Eisen zu werden und als verrentnerter Arbeit-Seinlasser den menschlichen Resturlaub anzutreten. Kindergärtnerinnen, Kali-Arbeiter, Germanisten, Feinmechaniker oder Kulturhausleiter mögen ins Ausgedinge abgewandert werden. Fotografen, Friseure, Bühnentechniker und Sozialarbeiter sollten froh sein, wenn sie sich bis zur Altersgrenze hin ruhestandsversichert haben. Gewisse Einfachmenschen sollten ihr Arbeitslosenhilfegeld und die Aussichten auf ein Endleben ohne nervende Tätigkeit genießen.
Nicht so jene Menschen, denen wir Guten unser Wohl und die Bösen ihr Wehe zu verdanken haben. Unsere Politiker nämlich sind lange nachnutzbar.
Der Politiker als solcher und für sich ist eine unfestgelegte Persönlichkeit. Berufsgebildete wollen artgerecht eingesetzt werden. Der Politiker kann vor allem unartgerecht wirken. So darf ein Politiker heute Staatssekretär für Gesundheit, morgen Verteidigungsminister, übermorgen Verkehrslenker und bald schon Aufsichtsrat sein.
Früher wurden Politiker, wenn sie lange und parteitreu dienten, in europäische Kommissionen delegiert. Hier konnten sie unbeschadet eine Stiftung Verwirrung gründen. Wenn einer als Wirtschaftsminister im Inland so gut war, dass sich die Wachstumskurven aufbäumten wie junge Pferde, kam er zum Abreagieren nach Europa. Ein einfacher Verteidigungsminister mochte, wenn er paar Probleme mit seinen Generälen gemeistert bekam, sogar zum Generalsekretär werden. Und langjährige Landtagsabgeordnete durften zum Karrierehöhepunkt auch mal auf den Hinterbänken des Bundestages Zwischenrufe abdrücken.
Jetzt aber hat sich für Politiker höherer Altersklassen ein ganz neuer Markt aufgetan. Im Osten Deutschlands können sie all das werden, wovon sie schon immer träumten, aber der rabiaten Ellbogenkollegen wegen nie hingelangten. Dass das Politikerrecycling im Osten so floriert, hat möglicherweise mit der langjährigen Gewöhnung des Ostvolkes an reife Persönlichkeiten in Führungsrollen zu tun. Noch eine Jugendverbandsspitze musste schulfähige Enkelkinder haben.
Der Osten als wahrer Jungborn für Altpolitik. Wer als Parteispender ein paar Probleme bekam, wird im Osten fairerweise Finanzminister. Wer durch Parlamentsdiäten aus dem Politikertritt kam, landet im Osten sofort im Sozialministerium. Und wer in seiner eigenen Rundfunkanstalt von jungen, linkslastigen Plappermäulern überfahren wurde, darf im Osten gleich mit einer ganzen Medienkette rasseln.
Der Politikersozialstaat sorgt für liebe alte Kader. Wer nach schwerem Politikerleben mit staatsgestützten Bezügen überhaupt nicht auskommt, darf auf Wunsch in die Seniorenresidenz für hochverdienende Staatsbeamte aufgenommen werden, in die Treuhandanstalt. Die Pflegschaftsgelder in dieser Anstalt bringen das Blut auch des ältesten und milde gewordenen Altpolitikers wieder so in Wallung, dass er sich vierzig Jahre jünger fühlt und sich die Ärmel aufkrempeln lässt. Beidhändig kann er dann grundgestückeltes Eigentum alten Freunden aus schwerer Zeit zuschaufeln.
Wem aber das noch immer nicht genügt, für den wird sich schon irgendeins dieser so exotischen Ostbundesländer unzerstückelt als Privatgarten finden lassen.
Diese quasi Frischparzellenkur ist für Altverdienstvolle übrigens dringend notwendig. Denn schließlich müssen die Altlasten noch viele Jahre im Osten abruhen dürfen, damit Neulust im Westen wirtschaftswundern kann.
DAS FREMDGEHVERKEHRSAMT
Auf meinen Reisen durch den wilden naturnahen Osten Deutschlands fallen mir immer wieder Eigenschaften der Eingeborenen auf. Kauzige Ursprünglichkeit, unverdorbene Zutraulichkeit, rührende Schicksalsergebenheit. Andererseits muss man bedenken, dass gewisse zivilisatorische Eigenheiten hier erst noch erlernt werden müssen. Dazu darf ich sogleich einen Vorschlag machen.
Was wir dank einiger Intelligenzblätter wie BILD und SUPER-ILLU nunmehr kennen, ist das zurückgebliebene ostische Beischlafwissen. So sang man noch vor einigen Jahren in den sog. Singeklub-Zeilen wie „Ein Standpunkt ist kein Stehpunkt/ sondern ein/ Gehpunkt“ mit wahrlich unschuldigen Stimmchen, ohne auch nur zu ahnen, dass optimale Nutzung des G-Punktes die höchste Form von Orgasmusproblemen darstellt. Nun ist zwar dank o. a. Organe die Sexualitätsverwertung schon marktdienlich gelungen; es gibt viele Anzeichen, dass gegenseitiges Beschlafen nicht mehr schlicht aus Lust und Liebe geschieht, sondern um Anschluss an den Weltmarkt von Potenz und multipler Stöhnung zu erreichen. Die Efficktivität der sog. Verbumsung wird gern voll in den Mund genommen. Orales Ausposaunen, auch Ohrenbläserei genannt, ist zum echten Steher geworden. Thaimädchen dienen willig, wie überall, der Gesundbetterei.
In einem Punkt aber sind die Ostsexler noch auf der Stufe der Blauäugigkeit. In ihrem Fremdgehverhalten. Das mag mit der ökonomischen Unbekümmertheit zusammenhängen, die sie jahrelang praktizierten. Geld war weniger wichtig, als eine Beziehungskiste. Jetzt aber sind Beziehung und Geld eng aneinandergeschmiegt. Und besonders die Ehe gilt als finanzielle VerWaigelungs-Einrichtung. Ein TheoLogischer Zusammenschmiss quasi.
Um also auch hier die katholisch festgemauerte Zivilisationsstufe zu erreichen, bei der öffentliche Tätigkeit und Beichtgeheimnis einander nicht stören, sollten Fremdgehverkehrsämter eingerichtet werden. Hier erfährt der ungeschulte Fremdgänger, wie er sich zu verhalten hat. Keinesfalls darf er, wie früher, seine Tätigkeit offen betreiben, und damit womöglich seine Finanzgemeinschaft (gem. steuerl. Veranlg.), also die Festgeldquelle, riskieren. Offenes Fremdgehen mit offener Trennung oder gar offener Duldung zu beantworten, mochte in der Beziehungsgesellschaft üblich sein; in klarer Geldwelt muss das diffiziler gehandhabt werden.
Ein leitender Sparkassler kann jederzeit seinen gewohnten Bürosex mit der gelittenen ABMieze betreiben; es darf auch jeder darum wissen; es darf aber nicht öffentlich sein. Diesen feinen Unterschied müssen die Fremdgehverkehrsämter geduldig propagieren. Apropos popogieren: ein jeder Schlipsnadelträger mag seine Hose fallen lassen, wo er will, und sei es beim besten Freund. Solange er den Schein eines blanken Ehehinterns wahrt, gilt er als jederzeit gesellschaftsfähiger Wahlamtskandidat. Die reife Geschäftsmannesgattin darf in ihrem Mercedes (mit schwingfedernder Rückenlehne) auch einen Umschüler zu eindeutiger Bewegung bewegen, solange sie auf Honoratioren-Empfänglichkeiten das Gattengeschäft zu beleben weiß. Der schlichte Ostopelbesitzer soll ruhig allwöchentlich seinen Puff vertragen, wenn er nur die ihm finanziell Anvertraute richtig veranlagt. Die Lebenspläne von Halbwüchsigen müssen sich nicht mehr auf dem schwankenden Boden von Liebe, sondern auf festem finanziellen Fundament gründen: Sag mir, wie hältst Du’s mit der Zugewinngemeinschaft?
Vor der Beiwohnungsfrage sind die Mietbeteiligungsprozente zu klären, vor dem Fremdgehen die Verhinderung seines Bekanntwerdens. Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, Fremdgänge als heimliche Besorgungen vermerken zu dürfen.
Fremdgehverkehrsämter sind in Deutschlands naturhaftem Osten also dringend notwendig. Die noch getrennt vorhandene Veranlagung von Westmensch und Westwerdemensch wird anders nicht überwunden werden. Fremdgängerei, aber richtig heimlich!
Wie sagte der große schwäbische Sparferkelforscher Schwenzel Versteckle: Fremdgehnlernen, Fremdgehnlernen und nochmals Fremdgehnlernen! Nur wenn sämtliche Lebensbereiche finanziell vernetzt werden, kann Lust und Liebe zur heimlichsten Sache der Welt, also für alle unheimlich werden.“
Erstmals bereits 1988 war im DDR-Gewerkschaftsverlag Tribüne Berlin „Blumenfrau und Filmminister. Ein Estland-Mosaik“ von Matthias Biskupek erschienen. Hier daraus ebenfalls drei Texte, darunter auch die über die Blumenfrau und über den Filmminister. Und das erfahren wir vom Autor dazu: „Auch dann, verehrter Leser, Auskenner und gutwilliger Estland-Liebhaber, auch dann, wenn Sie eine geduldige und nachsichtige Reiseleiterin kennenlernen sollten - Sie werden sie kennenlernen, Sie müssen sich nur gedulden -, auch dann werden Sie sich Mühe machen müssen, wollen Sie wirklich etwas vom Lande erspüren. Serviert werden wird Ihnen nichts.
Und wenn Sie Interesse nicht bloß heucheln - das spürt man hier, glauben Sie es, werden Sie alles von den Esten erfahren, was lohnenswert ist …“
Trotz zweier längerer Aufenthalte in und um Tallinn war es dem Autor übrigens nicht gelungen, die estnische Sprache einwandfrei zu beherrschen. Und auch aus diesem Grund geht es hier nicht estnisch weiter, sondern deutsch:
„Stadtplan ohne Stadt
Was zum Verreisen nötig ist, besitze ich. Einen Kunstlederkoffer und eine geschliffene Sonnenbrille, sechs Dioptrien. Einen Pass, gültig, ein Visum, ordnungsgemäß. Die ausstellende Behörde hatte mich behördlich angesehen und behördlich genickt.
Ich besitze einen Schein zum Fliegen und einen zum Eisenbahnfahren. Ich habe Zettel mit Namen und Papiere mit Zeichen und Briefe mit Empfehlungen.
Kleine Kopekenstücke habe ich, größere Rubelscheine und sehr große Vordrucke in genormten Dimensionen, also lang und breit. Die darf ich umrubeln.
Selbstverständlich besitze ich einen Plan. Einen Plan der Stadt. Plan goroda. Von der Hauptabteilung für Geodäsie und Kartografie beim Ministerrat der UdSSR, Moskau. Moskau ist weit, denn der Plan stellt Tallinn dar. Tallinn, Estnische Sozialistische Sowjetrepublik, Hauptstadt. Touristisches Schema, verheißt der Untertitel.
Tallinn ist vor allem lila.
Tallinn besteht zudem aus gelben Balken, roten Fäden, weißen schmalen Streifen, fettschwarzen geschwungenen Linien, grünen Vielecken. Tallinn ist vollgestopft mit Zahlen und wunderbaren Zeichen. Die Zeichen verheißen Tankstellen und Kinotheater, Monumente und Taxihaltestellen, universelle und spezielle Läden, Gemüsemarkt und Gedenkstätten revolutionärer Bewegungen, Architekturdenkmäler und Reparaturwerkstätten.
An den Rändern weisen drei gelbe Pfeile aus Tallinn heraus. Die Pfeile heißen Nomme, Leningrad und Pirita.
Das Wasser, das Tallinn umgibt, ist gleichmäßig blau, himmelblaues Planwässerchen. Mit trockenem Zeigefinger schwimme ich hinaus in die Tallinner Bucht und in die Koplibucht. Die Halbinsel dazwischen überfliege ich. Mitten im Meer zieht sich eine gestrichelte Linie entlang. Auf der Linie sitzt ein Schiff auf. Gewiss strahlt Sonne aufs Schiff herab; der Salzgeruch belebt. Teer und Öl.
Das Linienschiff bleibt mitten in der Sonne und mitten im Teergeruch mitten auf dem himmelblauen Meer stehen.
Am rechten Stadtrand steht ein schnauzbärtiger Ritter und streckt eine Fahne weit von sich. Die Fahne sieht eisern aus, wie aus einem Stabilbaukasten zusammengeschraubt. Tallinn und das metallische Mittelalter.
Ich streife durchs lilagrüngelbweiße Tallinn. Von der Lauteri – seltsamer Straßenname, da habe ich eine Adresse – sind es nur sieben Zentimeter bis zur Parnu-Chaussee. Auch dort kenne ich Name und Hausnummer.
Auf dem Weg zur Chaussee komme ich an einem grünen schmalen Viereck vorbei. Drin ragt ein roter Monumentalstift. An der rechten Seite zwei lachende Masken. Sind Theater hier alles Komödienhäuser, oder ist das eine vorwärtsweisende Vereinfachung?
Wir passieren die Zahlen 176, 177 und 65. Ein Parkplatz und drei spezielle oder universelle Läden.
Der Rand des Planes: gleichförmiges Lila-Einerlei. Häuserwildnis. Keine Zahlen, keine speziellen oder universellen Läden, keine roten Monumente, keine wehenden Fahnen und gar keine Kaffeetassen. Vielleicht ein Industriegebiet? Ich ziehe mich wieder ins gemütliche verwirrende Zentrum zurück.
Wenn ich meine flache Hand ausbreite, habe ich das historische Stadtzentrum abgedeckt. Der Dompark steckt unterm kleinen Finger. Komisch: Dompark heißt hyperkorrekt: Toompark.
Unter der Hand wimmelt das Leben weiter: Straßenbahnen fahren auf ihren roten Fäden, Taxis stehen an jenen Haltepunkten, die der Plan vorgesehen hat. Eine Eisenbahn dampft aus dem Bild. Leute überqueren die breiten gelben Boulevards und die schmalen weißen Straßen; verschwinden in ihren lila Hausflächen …
Ritter Schnauzebart hält seine Metallfahne weiterhin ausgestreckt über Tallinn. Das Mittelalter steckt deutlich in den Frakturbuchstaben des Stadtnamens.
Habe ich nicht schon alles im Schnellgang kennengelernt, weswegen ich mühsam Empfehlungen und Rubel, Bahnschein und Flugschein, Sonnenbrille, Pass und Kunstlederkoffer besorgt habe?
Muss die Reise überhaupt noch sein?
Vielleicht arbeitet das Reisebüro bereits daran, Stadtplanreisen ohne Stadt einzuführen: die organisatorische Arbeit der Stadtplanreiseleiter würde vermutlich ein wenig erleichtert werden.
Ich stelle mir eine Touristenreisegruppe vor, die, gebeugt über den jeweiligen individuellen Stadtplan mit dem individuellen Zeigefinger („Mitzubringen sind: Stadtplan und gewaschener Zeigefinger“), den Weisungen des schwitzenden, leicht aufgelösten Reiseleiters folgt: Wir begeben uns nunmehr gemeinsam acht Zentimeter nach links. Hier, auf dem Platz des Sieges, haben wir fünfzehn Minuten Zeit. Gedacht für alle Zwecke. Wir treffen uns pünktlich wieder am Kadriorg-Park, das ist jenes grüne Trapezviereck am rechten Kartenrand …
Ich bleibe für diesmal noch beim Althergebrachten. Habe ich mir doch nun einmal besorgt: Koffer, Rubel, Flugschein …
Die listige Blumenfrau
steht gleich neben der Taxihaltestelle und erzählt in russisch; sie sucht ein wenig nach Wörtern; ich suche sehr nach Übersetzungen. Die Nachbars-Blumenfrauen verkaufen derweil Maiklökkeli. Sie sagen „lilled“ und zeigen auf ihre Blumen. Dann sagen sie „zwety“, dann „Blumen“. Sie strecken ihre Sträuße vor.
Wir dürfen das hier. Natürlich. Das ist alles genehmigt. Wir haben einen Propusk. Das ist eine ganz gesetzliche Sache. Denn, nicht wahr, in meinem Garten wachsen diese schönen Blumen. Das sind doch wunderschöne Blumen.
Aber, junger Mann, was Sie alles wissen wollen.
Na, da könnt ich Sie ja auch fragen, ob Sie einen Propusk haben.
Aber ich frag Sie nicht. Na, bin ich Miliz?
Ha, mein Mann sagt, ich bin seine Miliz.
Doch. Mein Mann arbeitet im Kolchos. Es ist nicht sehr weit. Natürlich arbeite ich im Kolchos. Beschäftigt bin ich. Und Ihnen gefällt es gut hier?
Tallinn ist eine schöne Stadt. Aber es wird zu wenig gemacht. Neulich hat man ein herrliches altes Haus abgerissen. Es wurde viel darüber diskutiert in der Zeitung. Bei Ihnen wird wohl nicht so viel abgerissen?
Ach so.
Man muss darauf achten. Natürlich achte ich bei uns im Dorf darauf. Es geht besser im Dorf. Aber so ist das einfach nicht richtig gesetzlich.
Sie müssen wirklich entschuldigen, ich spreche Russisch nicht so viel. Man braucht nicht alles. Wie viel kostet nein danke haben Sie. Na ja, ein bisschen mehr. Mein Mann hat schon wieder alles verlernt. Sagt er.
Ach so. Nein, er hat den Techniker gemacht. Ich hab dazu keine Lust, wissen Sie, ich muss doch kein Blumentechniker werden. Alte Frau. Ich verarbeite Abrechnungsscheine im Kolchos, aber mein Mann hat eine Abteilung. Die Frauen da sind noch jung, aber ich bin seine Miliz. Sagt er.
Nun, dann kommen Sie uns besuchen. Doch, kommen Sie. Sie fahren mit dem Bus. Es gibt auch ein Marschrout-Taxi. Wir haben ein Haus. Der Garten ist sehr groß. Er wird jetzt herrlich grün. Ich weiß nicht, wie viele Meter. Aber mein Sohn ist in Tartu. Ja, an der Universität. Estnische Philologie. Da kann er Lehrer werden oder Wissenschaftler oder Lektor. Er ist ein großer Theaterfreund.
Tartu ist eine wunderschöne Stadt.
Da gibt es nichts drüber zu erzählen.
Aber junger Mann, Sie wollen viel wissen. Vilma, der junge Mann (spricht einen Absatz estnisch).
Entschuldigen Sie, Vilma weiß wieder mal viel mehr. Schauen Sie, was für schöne Maiklökkeli. Sehen Sie, Vilma ist eine schöne junge Frau. Ich bin bloß eine alte Miliz.
Wir feiern bald ein schönes Sommerfest. Das müssten Sie sich ansehen. Da wird über ein Feuer gesprungen. Und wir backen das Brot selber. Jeder stellt sein Bier her. Ein schönes Bier.
Ich schreibe Ihnen die Buslinie auf und alles und genau die Haltestelle. Sie müssen pünktlich sein; ach, das sind Sie gewiss. Ihre Leute sind pünktlich. Das habe ich schon in der Schule gelernt.
Ich werde meinem Sohn Bescheid geben, denn er spricht auch etwas deutsch. Man kann das in Tartu lernen.
Nein, das ist wirklich interessant. Mein Mann kann Ihnen viel mehr erzählen. Doch, verstehen, das tut er. Und er spricht es auch. Ach, die Männer haben bloß keine Lust, nicht Vilma? (Spricht zwei Absätze mit Vilma estnisch.)
Sehen Sie, wenn die Sonne scheint, ist es doch herrlich hier.
Ach so.
Dann sind Sie wohl ein fremder Milizmann?
Doch, junger Mann, meine Eltern waren einfache Leute. Ganz einfache Leute. Sie haben vor dem Krieg ein Fahrradgeschäft gehabt. In der Bürgerlichen. In Paide, direkt in Paide. Kennen Sie Paide? Sie müssen es besichtigen. Es ist eine sehr hübsche kleine Stadt. Und freundliche Menschen. Na, bin ich unfreundlich? Es fährt ebenfalls ein Bus. Aber auch die Eisenbahn.
Nein, in Tallinn ist man nicht freundlich. Kann man gar nicht. Dauernd wechseln die Menschen. Es sind so viele Fremde hier. Wir sind nicht dagegen. Aber es gibt so viele Überfälle. Man hat gehört, mit dem Messer.
Das schreiben schon die Zeitungen!
Natürlich ein Fahrradgeschäft. Es gibt viele Fahrräder in Estland. Sie kennen doch Aavo Pikkuus? Fahrradgeschäfte, natürlich staatliche, jetzt. Nein, meine Eltern haben bei uns gelebt. Bis zu ihrem Ende. Ja, leider. Die Familie, wissen Sie, die Familie ist sehr wichtig. Sie muss nicht groß sein, aber sie muss wichtig sein. Sehr, sehr wichtig.
Viel zu viele Touristen. Und Fremde, und (spricht ein paar Worte estnisch).
Sie finden mich immer hier. Mittwochs immer. Weil ich dann in der Stadt erledige. Aber, Sie müssen kommen, und mein Sohn wird Sie verstehen. Er wird Semesterferien bekommen. Und wunderbare Erdbeeren gibt es. Ja, Erdbeeren. Sie sind berühmt, haben Sie noch nie etwas von unseren estnischen Erdbeeren gehört?
Na, so was.
Nehmen Sie. Doch. Nehmen Sie diese Blumen. Sie heißen Kannike auf estnisch. Da haben Sie gleich ein Wort gelernt. Nehmen Sie diese, bitte. Nun bitte. Sie werden jemanden zum Beschenken finden. Natürlich finden Sie. Oder (listig) – sonst bringen Sie sie mir mit, ja, schenken sie mir zurück.
Dann, wenn Sie uns besuchen.
Mein Mann wird Augen bekommen, solche. (Lacht laut.)
Die Tugend und der Filmminister
Du musst wissen, sagt Mari streng, du weißt noch viel zu wenig über mein Volk.
Das weiß ich.
Nein, du weißt nichts, wiederholt sich Mari.
Gewiss, Mari, sage ich.
Nichts weißt du, sagt Mari und blickt heftig drein. Wenn sie heftig dreinblickt, ist das für Mari ein Zeichen starken inneren Aufgerührtseins. Wäre Mari nicht Estin, sondern, sagen wir, Ukrainerin oder Italienerin, würde sie jetzt vehement aufspringen, dass der Stuhl aus den Kniekehlen gedrückt würde, umkippte, großes Hallo einsetzte … Mari aber ist Estin, blickt also sehr heftig drein. Dann erklärt sie:
Wir sind ein bescheidenes Volk. Die Esten haben von Fisch – ich zucke ein wenig zusammen – und Milch und Schwarzbrot gelebt. Wenig Fisch, wenig Milch, wenig Schwarzbrot.
Und Kartoffeln auch?
Kartoffeln auch wenig. Sehr wenig. Obwohl wir mal „Kartoffelrepublik“ hießen.
Aber heute seid ihr eine reiche Republik. Das steht so auch in der Zeitung.
Du sollst doch verstehen, warum wir so geworden sind.
Nun, sage ich, ihr seid so, weil ihr von Deutschen, Dänen, Schweden, Polen und dann von den Zaristen unterdrückt wurdet.
Und dabei haben wir Unarten abgeguckt.
Ach so.
Ja, das „Ach so“ haben wir von euch.
Bitte?
Ist dir nie aufgefallen, fragt Mari, dass wir uns dauernd im Gespräch mit „Ach so“ bestätigen?
Ach nein. Und was heißt „Ach so“? Auf estnisch?
Nichts. Eine dumme Floskel. Unsere estnischen treuherzigen Bauern kamen in die Stadt, hörten, dass die feinen deutschen Damen im Restaurant „Ach so“ sagten – und machten das dann nach, zu Hause, die feine deutsche Art.
Ach so. Das ist dann also eine estnische Untugend. Eure Untugenden sind mir verständlich. Und was sind deine, ich meine, eure Tugenden?
Pünktlichkeit … Zurück-Haltung? fragt Mari nachdenklich … Sparsamkeit!
Das ist interessant. Um diese Tugend kämpfen wir auch. Vielleicht stehen sie sogar in unserer Verfassung. Als hohe und edle Ziele.
Ironisch sind wir auch, sagt Mari. Oder heißt es: Ironisch können wir sein?
Richtig würde es heißen: Ironisch können wir sein, müssen aber damit sparsam umgehen. Weil wir richtig verstanden werden wollen, wenn auch nicht können wie müssen.
Mari ist vermutlich drauf und dran, „Ach so“ zu sagen, da kommt ein runder, dickwandig gekleideter Herr in das Café, in dem wir mit unserem feinen „Ach so“ herumsitzen.
Der dickwandige Herr rollt eilig an unseren Tisch. Es sieht wirklich so aus, als rollte er, obwohl er keine Rollschuhe trägt, wovon ich mich schnell mit niedergeschlagenem Blick überzeuge. Der Herr begrüßt Mari mit estnischer Überschwänglichkeit; also mit einem freundlichen Nicken.
Mari stellt vor: Unser Filmminister.
Der Filmminister lächelt. Ein Filmministerlächeln.
Während er mit Mari spricht, natürlich auf estnisch, denn es ist der estnische Filmminister, grübele ich über jene estnische Tugend namens Sparsamkeit. Ich bin gerade mitten ins Grübeln gekommen, da verabschiedet sich der Filmminister schon wieder.
Lächelnd. Und ohne Rollschuhe.
Ja, sagt Mari, das war unser Filmminister. Wir machen zwei Filme im Jahr und haben dazu einen Filmminister.
Interessant, sage ich und bin immer noch mitten im Bedenken der estnischen Sparsamkeit.
Mari sieht mich lächelnd an. Sie ahnt immer, worüber ich nachsinne. Sie sagt lächelnd: Interessant, nicht wahr? Zwei Filme. Und doch bloß einen Filmminister.“
Gerade eben ist als Eigenproduktion von EDITION digital „Etwas sagen möchte ich …“ Eine Biografie in Büchern“ von Michael Baade erschienen. Mit Grafiken von Professor Armin Münch: Dieses Buch ist eine Einladung zum näheren Kennenlernen eines Lebens und Lebenswerks von großer Vielfalt und Intensität in Lyrik und Prosa, präsentiert einen Schriftsteller und Publizisten mit Leib und Seele.
Wer Michael Baade und seine Biografie näher kennenlernen möchte, der kann dies natürlich am besten mit dem Lesen seiner vielen Büchern tun. Einen ersten und dennoch sehr aussagekräftigen Eindruck bietet aber bereits die in der Antwort auf eine Frage nach seinen Lieblingsorten genannte Aufzählung, die zugleich poetische und politische Positionen des inzwischen 77-jährigen Rostocker Autors umreißt - Weimar, Worpswede, Hiddensee, Athen, Jerusalem.
Das schließt die leidenschaftliche Verehrung des Goethe-Freundes für den Dichterfürsten ebenso ein wie seine Liebe zu Hiddensee und seine enge Verbindung zur Künstlerkolonie Worpswede, aber auch seine Beschäftigung mit Griechenland und seinen Dichtern und mit Jesus und dem Heiligen Land.
Dieses Buch ist eine Einladung zum näheren Kennenlernen eines Lebenswerks von großer Vielfalt und Intensität, die anzunehmen lohnt, und zugleich beredtes Zeugnis der literarischen Bilanz des schriftstellerischen Schaffens von Michael Baade, wie es im Nachwort des Rostocker Journalisten Werner Geske heißt. Zum besseren Kennenlernen von Michael Baade und seiner Vorfahren hier noch ein paar Gelegenheiten dazu. Zum Beispiel diese:
„Fragebogen (frei nach der FAZ)
Ihre Lieblingsgestalt in der Literatur?
Faust.
Ihre Lieblingsgestalt in der Geschichte?
Luther.
Ihre Helden in der Gegenwart?
Ärzte, Schwestern, Pfleger in den Intensivstationen.
Ihr Lieblingskünstler?
Ernst Barlach.
Ihr Lieblingsmaler?
Heinrich Vogeler.
Ihr Lieblingskomponist?
Bach.
Ihre Lieblingsbeschäftigung?
Lesen.
Ihre Lieblingsfarbe?
Rot.
Ihre Lieblingsblume?
Rose.
Ihre Lieblingsschriftsteller?
J. W. v. Goethe, Thomas Mann, Christa Wolf, Hermann Kant.
Ihr Lieblingsdichter?
b. b.
Ihre Lieblingsnamen?
Yong, Eva, Kurt, Max, Elisabeth.
Was ist wichtig für Sie?
Glaube, Hoffnung, Liebe.
Was kränkt Sie?
Desinteresse, Ignoranz.
Ihre Lieblingsorte?
Weimar, Worpswede, Hiddensee, Athen, Jerusalem.
Die Baade-Linie beginnt 1725 in Stavenhagen
mit meinem Ururururgroßvater Johann Hinrich Baade.
Meine Großeltern:
Wilhelm Carl Friedrich Johannes Baade (1869–1922) gründet 1899 das Kaufhaus Frederstorf & Baade in Rostock und heiratet am 7. November 1900 Erna Dorothea Henriette Johanna Drägert (1879–1962) in Rostock.
Max Emil Bruno Rohloff (1866–1945), 29 Jahre Bürgermeister und Leiter der Amtsbezirke Eberswalde-Finow und Finowfurt, heiratet am 21. Oktober 1909 Elisabeth Auguste Anna Lumpe (1892–1970) in Berlin.
Meine Eltern:
Kurt Fritz Max Ludwig Baade (1907–1981), Inhaber des Hobel- und Sägewerkes, Am Petritor, in Rostock, heiratet am 25. Mai 1935 Eva Anna Regina Rohloff (1915-2000) in Finowfurt.
GEBOREN
Geboren am Meer, liebt er es, wenn es sich mit dem sonnigen Stern vermählt, aber auch, wenn die brausende Majestät Schaumkronen aufsetzt und Sturmvögel auf wilden Wolkenpferden reiten. Verbunden ist er mit dem Gartenhaus an der Ihn und des Reformators Burg, den versinkenden Steinen des Jüdischen Friedhofes und der Madonna. Wie der Meister am Frauenplan Musikanten kommen ließ, die Seele zu lindern und die Geister zu entbinden, hebt er die Orgelwerke des Mannes, der Meer heißen sollte, und die gewaltigen Visionen des tauben Genius. Den Wanderer im Wind und das Gesicht der Kollwitz. Tanzende Geigen, schwebende Kirchen und Liebespaare, skurrile Vögel und fliegende Blumensträuße. Die Mädchen von Avignon und seine Jacqueline. Gewissheit ist ihm, dass man über unsere Tage sagen wird, und es Sternstunden der Menschheit und den Faust tatsächlich gibt. Er lebt mit Tonio und denkt über Christa nach, die Verwandlung und Maxie, folgt der Ermittlung und besucht das Haus ohne Hüter.
Und hier der allererste journalistische Text des jungen Michael Baade für die Rostocker „Ostsee-Zeitung“ vom 1. April 1964, dem noch viele, viele folgen sollten:
„Vom „holden, belebenden Blick“
Potztausend, war das ein Osterwetter, aber egal, du mußt etwas für deine Gesundheit tun, dachte ich so bei mir und da wird dir Rostocks „Grüne Lunge“ sicherlich gut bekommen. Eigentlich hatte ich mir meinen Osterspaziergang durch den Stadtpark anders vorgestellt. Faust konnte „des Frühlings holden, belebenden Blick“ am Osterspaziergang spüren, ich dagegen nicht. Kurz hinter dem „Schweizerhaus“ kam ich auf eine kleine Fläche. Trotz eines großen Haufens Äste konnte ich dahinter das Eingangstor einer Kleingartenanlage entdecken. Die Äste waren mit Kohlstrünken garniert. Können die Siedler ihre Abfälle nicht auf ihren Grundstücken verbrennen?, dachte ich, als ich genau in der Mitte des Haufens ein Schild bemerkte. Mühsam entzifferte ich: „Hier ist kein Platz zum Müllabladen!“
Bei der Kleingartenanlage „Waldeslust“ spielte der neckische Wind mit allerlei Papierfetzen. Einen blies er mir vor die Füße. Es war meine geliebte Zeitung. Ich konnte gerade noch lesen: „Jan Swien an den Kragen!“, da entführte mir der Wind das Blatt. Beim Besteigen der steilen „Berge“ des Stadtparkes zitterten mir schon die Knie, deshalb freute ich mich sehr, daß die Kleingartenbesitzer dem müden Wanderer alte Matratzen, Bettfedern zur Rast neben den Weg legten. Als ich Drahtspiralen, alte Kochtöpfe, die sterblichen Überreste eines Huhnes und dazu ein Plakat mit der Aufschrift: „Der Wald ist Volksgut!“ betrachtete, da war ich wieder orientiert! Ob's die Kleingärtner auch sind?“
Und damit haben Sie, liebe Leserinnen und Leser, schon mal einen ersten (und guten) Eindruck vom Leben und Schreiben des Rostocker Autors Michael Baade, dem Goethe-Freund, der nicht ohne Grund „Faust“ als seine literarische Lieblingsgestalt angibt, sich aber auch mit vielen anderen Themen, literarischen Gestalten und realen Persönlichkeiten in Vergangenheit und Gegenwart befasst hat und nicht zuletzt mit dem berühmten Dreiklang von Glaube, Hoffnung und Liebe. Und glauben Sie uns, es lohnt sich, die Einladung zum Kennenlernen von Michael Baade und seinen Büchern anzunehmen.
Zu empfehlen sind aber auch die anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters, darunter eine Spezialität für Heimat- und Familienforscher aus dem Kirchspiel Pinnow – vielleicht haben Sie ja dort auch ein paar bislang unbekannte Verwandte und Bekannte? – sowie die freundliche Einladung nach Estland.
Viel Vergnügen bei der Lektüre, weiter einen schönen Sommer und ein sich langsam wieder entfaltendes Leben ohne Einschränkungen, bleiben Sie aber dennoch weiter vorsichtig und vor allem weiter schön gesund und munter und bis demnächst. Und vielleicht sehen wir uns irgendwann in Tallinn? Miks mitte?, wie man dort sagt. Und das heißt auf Deutsch soviel wie: Warum eigentlich nicht?