Wir werden Sie nun über die Ergebnisse der heutigen Sitzung des EZB-Rats informieren, an der auch der Präsident der Eurogruppe, Premierminister Juncker, teilgenommen hat.
Auf der Grundlage unserer regelmäßigen wirtschaftlichen und monetären Analyse haben wir auf der heutigen Sitzung beschlossen, die Leitzinsen der EZB unverändert zu belassen. Zugleich haben wir festgestellt, dass die Risiken für die Preisstabilität auf mittlere Sicht zugenommen haben. Seit Herbst vergangenen Jahres haben sich die Inflationsraten, hauptsächlich aufgrund steigender Energie- und Nahrungsmittelpreise, signifikant erhöht. Es wird nunmehr davon ausgegangen, dass die HVPI-Inflation länger als zuvor erwartet auf einem hohen Niveau bleiben wird. Die mittelfristig bestehenden Aufwärtsrisiken für die Preisstabilität werden auch durch das weiterhin sehr kräftige Geldmengen- und Kreditwachstum bestätigt, sowie durch die Tatsache, dass bislang keine nennenswerte Angebotsverknappung bei Bankkrediten vorliegt. Gleichzeitig sind die wirtschaftlichen Fundamentaldaten des Eurogebiets solide. Vor diesem Hintergrund möchten wir betonen, dass gemäß unserem Auftrag die Gewährleistung der Preisstabilität auf mittlere Sicht unser vorrangiges Ziel ist. Der EZB-Rat wird alle Entwicklungen sehr genau verfolgen. Er befindet sich in einem Zustand erhöhter Wachsamkeit. Durch entschlossenes und rechtzeitiges Handeln werden wir sicherstellen, dass Zweitrundeneffekte ausbleiben und die Risiken für die Preisstabilität auf mittlere Sicht nicht zum Tragen kommen. Wir sind fest entschlossen zu gewährleisten, dass die mittel- und langfristigen Inflationserwartungen fest auf einem Niveau verankert bleiben, das mit Preisstabilität in Einklang steht.
Gestatten Sie mir, unsere Einschätzung näher zu erläutern und dabei mit der wirtschaftlichen Analyse zu beginnen.
Das Wachstum des realen BIP belief sich im ersten Quartal 2008 auf 0,8% gegenüber dem Vorquartal und lag damit deutlich über den Erwartungen. In dieser dynamischen Entwicklung spiegelten sich zum Teil temporäre Faktoren wider, insbesondere der in vielen Teilen Europas ungewöhnlich milde Winter, der offenbar der Bautätigkeit Auftrieb verlieh. Die im ersten Quartal verzeichnete hohe Wachstumsrate könnte allerdings im Folgequartal teilweise wieder aufgezehrt werden. Um eine Fehlinterpretation aufgrund ausgesprochen volatiler Quartalsergebnisse zu vermeiden, ist es daher eher angemessen, die ersten beiden Jahresviertel 2008 zusammen zu beurteilen.
Im Einklang mit den verfügbaren Prognosen wird erwartet, dass im Jahr 2008 sowohl die Inlands- als auch die Auslandsnachfrage das anhaltende Wachstum des realen BIP im Euroraum stützen werden, wenn auch in geringerem Maß als im Vorjahr. Die Expansion der Weltwirtschaft wird sich den Erwartungen zufolge zwar abschwächen, dabei aber robust bleiben, wobei ihr vor allem das anhaltend kräftige Wachstum in den Schwellenländern zugute kommt. Von dieser Entwicklung sollte die Auslandsnachfrage im Euro-Währungsgebiet weiter profitieren. Die wirtschaftlichen Fundamentaldaten des Euro-Währungsgebiets sind nach wie vor solide und der Euroraum weist keine größeren Ungleichgewichte auf. Vor diesem Hintergrund gehen wir davon aus, dass das Investitionswachstum im Eurogebiet weiterhin zum Wirtschaftswachstum beiträgt, da die Kapazitätsauslastung robust bleibt und sich die Ertragslage der nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften weiterhin nachhaltig entwickelt. Darüber hinaus haben sich die Beschäftigung und die Erwerbsbeteiligung beträchtlich erhöht, und die Arbeitslosenquoten sind auf Werte gefallen, die so niedrig sind wie seit 25 Jahren nicht mehr. Diese Entwicklung stützt das verfügbare Einkommen, obgleich die Kaufkraft durch den Einfluss der höheren Energie- und Nahrungsmittelpreise gedämpft wird.
Diese Aussichten spiegeln sich auch in den im Juni 2008 von Experten des Eurosystems erstellten Projektionen wider, die von einem durchschnittlichen Jahreswachstum des realen BIP im Jahr 2008 von 1,5 % bis 2,1 % und im Jahr 2009 von 1,0 % bis 2,0 % ausgehen. Die aktuell prognostizierte Bandbreite des realen BIP-Wachstums im Jahr 2008 liegt im Vergleich zu den im März 2008 von Experten der EZB erstellten Projektionen im oberen Bereich. Ausschlaggebend hierfür ist vor allem das die Erwartungen übertreffende Ergebnis im ersten Quartal. Für 2009 wurde die projizierte Bandbreite aufgrund des in den letzten Monaten verzeichneten Anstiegs der Rohstoffpreise nach unten korrigiert. Die gerade genannten Jahreswachstumsraten sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit besonderer Vorsicht zu interpretieren. Zwar deuten die Vorjahrsraten für 2009 auf ein schwächeres Wachstum hin als für 2008, doch verbergen sie, dass das reale BIP-Wachstum auf Quartalsbasis 2008 eine Talsohle erreichen dürfte, bevor es sich anschließend allmählich wieder erholt. Es ist wichtig, sich diese Unterscheidung stets bewusst zu machen, um keine falschen Schlüsse hinsichtlich der in den Projektionen enthaltenen Wachstumsdynamik zu ziehen.
Nach Auffassung des EZB-Rats bleibt die Unsicherheit hinsichtlich dieser Aussichten für das Wirtschaftswachstum groß, und die Abwärtsrisiken überwiegen. Diese stehen weiterhin hauptsächlich im Zusammenhang mit den Finanzmarktturbulenzen, deren Auswirkungen auf die Realwirtschaft negativer ausfallen könnten als angenommen.
Abwärtsrisiken ergeben sich ferner aus dem dämpfenden Effekt weiterer unerwarteter Erhöhungen der Energie- und Nahrungsmittelpreise auf den Konsum und die Investitionen, aus Bedenken über das Aufkommen von Protektionismusbestrebungen sowie der Möglichkeit unkontrollierter Entwicklungen aufgrund globaler Ungleichgewichte.
Was die Preisentwicklung anbelangt, lag die Jahresänderungsrate der HVPI-Inflation in den vergangenen sieben Monaten weiterhin bei über 3 %. Der Vorausschätzung von Eurostat zufolge belief sie sich im Mai 2008 auf 3,6 %. Dies bestätigt den dauerhafteren derzeitigen Aufwärtsdruck auf die Inflation im Euroraum, der sich hauptsächlich aus dem deutlichen Anstieg der Preise für Energie- und Nahrungsmittel am Weltmarkt in den vergangenen Monaten ergibt.
Mit Blick auf die Zukunft dürfte die jährliche HVPI-Inflationsrate angesichts der aktuellen Preise der Terminkontrakte für diese Rohstoffe noch eine gewisse Zeit weiterhin über 3 % liegen und sich im Jahresverlauf 2009 wohl nur allmählich abschwächen. Somit befindet sich der Euroraum gegenwärtig in einer lang andauernden Phase hoher jährlicher Preissteigerungsraten, die länger anhalten dürfte als bisher angenommen.
Im Einklang mit dieser Einschätzung projizieren die Experten des Eurosystems eine durchschnittliche jährliche HVPI-Inflation in Höhe von 3,2 % bis 3,6 % im Jahr 2008 und von 1,8 % bis 3,0 % im Jahr 2009. Im Vergleich zu den von Experten der EZB erstellten Projektionen vom März 2008 sind die projizierten Bandbreiten für die Inflation 2008 und 2009 deutlich höher, was im Wesentlichen die gestiegenen Öl- und Nahrungsmittelpreise und zunehmend auch den Inflationsdruck im Dienstleistungssektor widerspiegelt.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf die Bedingtheit der Projektionen hinzuweisen. Sie beruhen auf einer Reihe von Annahmen, die rein technischer Natur sind und nicht mit politischen Intentionen zusammenhängen. So liegen den technischen Annahmen für die kurzfristigen Zinssätze die Markterwartungen von Mitte Mai zugrunde.
Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass sich die Projektionen auf die Annahme stützen, dass die jüngste Dynamik der Preise für Rohöl und andere Rohstoffe im Einklang mit den Preisen für Terminkontrakte über den Projektionszeitraum hinweg abnimmt. Eine weitere entscheidende Annahme besteht darin, dass breit angelegte Zweitrundeneffekte bei den Löhnen ausbleiben werden.
Nach Auffassung des EZB-Rats bleiben die Aussichten für die Preisstabilität auf die für die Geldpolitik relevante mittlere Frist mit deutlichen Aufwärtsrisiken, die sich weiter erhöht haben, behaftet. Diese Risiken umfassen vor allem die Möglichkeit weiterer Preissteigerungen bei Energie und Nahrungsmitteln sowie mögliche Erhöhungen der administrierten Preise und indirekten Steuern über das bislang vorhergesehene Maß hinaus. Große Bedenken bestehen auch darüber, dass vom Lohn- und Preissetzungsverhalten zusätzlicher Inflationsdruck ausgehen könnte. Die Preissetzungsmacht von Unternehmen, insbesondere in Marktsegmenten mit geringem Wettbewerb, zum Beispiel in Teilen des Dienstleistungssektors, könnte größer sein als derzeit erwartet. Darüber hinaus könnte sich das Lohnwachstum angesichts einer hohen Kapazitätsauslastung, der angespannten Lage am Arbeitsmarkt und der Gefahr von Zweitrundeneffekten stärker als erwartet beschleunigen. Der EZB-Rat verfolgt die Tarifverhandlungen und das Preissetzungsverhalten im Eurogebiet mit besonderer Aufmerksamkeit.
Vor diesem Hintergrund ist es zwingend erforderlich, zu gewährleisten, dass die mittelbis längerfristigen Inflationserwartungen fest auf einem Niveau verankert bleiben, das mit Preisstabilität im Einklang steht. Alle Beteiligten sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor müssen ihrer Verantwortung gerecht werden. Bei der Lohnbildung sollten daher die Produktivitätsentwicklung, die nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit in vielen Volkswirtschaften und die preisliche Wettbewerbsposition berücksichtigt werden.
Eine moderate Erhöhung der Lohnkosten ist insbesondere in jenen Ländern erforderlich, deren preisliche Wettbewerbsfähigkeit in den vergangenen Jahren nachgelassen hat.
Durch höhere Energie- und Nahrungsmittelpreise bedingte, breit angelegte Zweitrundeneffekte auf das Preis- und Lohnsetzungsverhalten sind zu vermeiden. In diesem Zusammenhang ist der EZB-Rat über das Vorhandensein von Lohnregelungen besorgt, bei denen die Nominallöhne an die Verbraucherpreise gebunden sind. Eine solche Anbindung birgt das Risiko, dass aufwärts gerichtete Inflationsschocks zu einer Lohn-Preis-Spirale führen, was sich in den betroffenen Ländern nachteilig auf Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit auswirken würde. Der EZB-Rat fordert daher, derartige Lohnregelungen zu vermeiden.
Die monetäre Analyse bestätigt, dass auf mittlere bis längere Sicht weiterhin Aufwärtsrisiken für die Preisstabilität bestehen. Das jährliche M3-Wachstum blieb im April
- gestützt durch die anhaltend hohe Zunahme der MFI-Kredite an den privaten Sektor - sehr kräftig. Die Auswirkungen der flachen Zinsstrukturkurve und andere temporäre Faktoren deuten zwar darauf hin, dass das Jahreswachstum von M3 die Grunddynamik der monetären Expansion nach wie vor überzeichnet. Allerdings bestätigt sich bei einer umfassenden Beurteilung der jüngsten Daten selbst unter Berücksichtigung dieser Effekte, dass die Grunddynamik des Geldmengen- und Kreditwachstums kräftig bleibt.
Die Jahreswachstumsrate von M1 hat sich in den letzten Monaten weiter abgeschwächt. In dieser Entwicklung spiegeln sich höhere Kurzfristzinsen wider, die zu weiteren Umschichtungen von täglich fälligen Einlagen zu Termineinlagen beitrugen.
Die Wachstumsverlangsamung bei der Kreditaufnahme der privaten Haushalte ist darüber hinaus auf die dämpfenden Auswirkungen der gestiegenen Kurzfristzinsen sowie die Abkühlung an den Wohnimmobilienmärkten in mehreren Regionen des Euroraums zurückzuführen. Der Anstieg der Kreditvergabe an nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften ist indes nach wie vor sehr robust. Wenngleich angesichts der sich verschärfenden Finanzierungsbedingungen und des langsameren Wirtschaftswachstums ein Rückgang zu erwarten ist, lag das Jahreswachstum der Aufnahme von Bankkrediten durch nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften im Euro Währungsgebiet im April 2008 bei 14,9 %, und die Kreditzuflüsse waren in den letzten Monaten kräftig.
Die monetäre Analyse hat dazu beigetragen, die notwendige mittelfristige Ausrichtung der Geldpolitik im Umfeld der anhaltenden Finanzmarktturbulenzen zu bestärken. Aus dieser Perspektive deuten die Ergebnisse der monetären Analyse darauf hin, dass auf längere Sicht Aufwärtsrisiken für die Preisstabilität bestehen. Außerdem legt die eingehende Beurteilung der Gegenposten der Geldmenge nahe, dass das Angebot an Bankkrediten für private Haushalte und nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften bislang nicht wesentlich von den Finanzmarktturbulenzen beeinträchtigt worden ist.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Gegenprüfung der Ergebnisse der wirtschaftlichen Analyse anhand der Ergebnisse der monetären Analyse eindeutig die Einschätzung bestätigt, dass angesichts des sehr kräftigen Geldmengen- und Kreditwachstums und der Tatsache, dass bislang keine nennenswerte Angebotsverknappung bei Bankkrediten vorliegt, auf mittlere Sicht die Aufwärtsrisiken für die Preisstabilität überwiegen. In der Tat haben wir festgestellt, dass die Risiken für die Preisstabilität auf mittlere Sicht weiter zugenommen haben. Die wirtschaftlichen Fundamentaldaten des Euroraums sind solide, und die jüngsten gesamtwirtschaftlichen Daten deuten weiterhin auf ein gemäßigtes, aber anhaltendes Wachstum des realen BIP hin. Dementsprechend wird der EZB-Rat alle Entwicklungen sehr genau verfolgen. Er befindet sich in einem Zustand erhöhter Wachsamkeit. Durch entschlossenes und rechtzeitiges Handeln werden wir sicherstellen, dass Zweitrundeneffekte ausbleiben und die Risiken für die Preisstabilität auf mittlere Sicht nicht zum Tragen kommen. Es muss gewährleistet werden, dass die mittel- und langfristigen Inflationserwartungen fest auf einem Niveau verankert bleiben, das mit Preisstabilität in Einklang steht.
Was die Finanzpolitik betrifft, so begrüßt der EZB-Rat die Ergebnisse der am 13. Mai 2008 stattgefundenen Orientierungsdebatte der Minister der Eurogruppe über die Finanzpolitik im Euro-Währungsgebiet. In vielen Ländern des Euroraums müssen die Regierungen noch weitaus ehrgeizigere Maßnahmen ergreifen, um ihre länderspezifischen mittelfristigen Haushaltsziele spätestens 2010, dem im April 2007 in Berlin zugesagten Datum, zu erreichen. Das Erreichen und Beibehalten strukturell solider Haushaltspositionen ist unerlässlich, um Spielraum für das freie Wirken der automatischen Stabilisatoren in allen Euroländern zu schaffen, und wird bei der Vorbereitung auf die durch die Bevölkerungsalterung auftretenden Haushaltsbelastungen helfen. Das ständige Bemühen um eine umsichtige und effiziente Finanzpolitik würde ebenfalls dazu beitragen, den derzeitigen Inflationsdruck zu begrenzen, und das Wachstums- und Beschäftigungspotenzial zu vergrößern.
Im Bereich der Strukturreformen bekräftigt der EZB-Rat erneut seine uneingeschränkte Unterstützung aller Anstrengungen zur Intensivierung des Wettbewerbs, zur Steigerung der Produktivität und zur Förderung der Marktflexibilität. Vor dem Hintergrund eines deutlichen Anstiegs der internationalen Rohstoffpreise für Nahrungsmittel würde ein Abbau von Wettbewerbshindernissen auf den verschiedenen Stufen der Versorgungskette im Nahrungsmitteleinzelhandel und -vertrieb den europäischen Verbrauchern in Form geringerer Preise zugute kommen. Der derzeitige "Gesundheitscheck" der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU wird ebenso begrüßt wie die Anstrengungen zur Begrenzung des Preisauftriebs bei landwirtschaftlichen Produkten durch die Biokraftstoff-Politik. Ein erfolgreicher Abschluss der Doha- Verhandlungsrunde über den Welthandel sollte auch zu einem besseren Funktionieren des Welthandels im Allgemeinen und der Agrarmärkte in Europa und weltweit im Besonderen beitragen. Steuerpolitische Maßnahmen sind kein geeignetes Mittel, dem Anstieg der Rohstoffpreise - ob Rohöl oder andere Rohstoffe - zu begegnen, da dies falsche Signale an Produzenten wie Verbraucher senden und zu Marktverzerrungen führen würde.