Als Christen glaubwürdig sein
Den damaligen Adventisten sei es um die Glaubwürdigkeit von Christen gegangen, schreibt der Bundesgeschäftsführer des AWW, Pastor Lothar Scheel (Hannover), in seinem Artikel „Wenn Nachfolger Jesus nachfolgen“ in der November-Ausgabe der Freikirchenzeitschrift „Adventisten heute“. Christsein erschöpfe sich nicht in frommen Reden, sondern erweise sich „im Tun guter Werke der Barmherzigkeit“. Das Speisen der Hungrigen, das Kleiden der Armen und die Sorge um Hilfsbedürftige sei der einzig angemessene Dienst für Jesus und die rechte Vorbereitung auf seine Wiederkunft. Diese Initialzündung sozialer Verantwortung in den Reihen der Adventisten habe die noch junge Glaubensgemeinschaft in Deutschland „aus der Ecke weltabgewandter Endzeitapostel“ herausgeholt, so Scheel.
Armenkasse, Gemeindeschwestern, Vereinsgründung
Sehr schnell wären Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland Wohlfahrtsgruppen entstanden, die sich nach dem Vorbild einer in der Apostelgeschichte (9,36ff.) der Bibel erwähnten Armenpflegerin „Tabea-Gruppen“ nannten. Adventisten sammelten Nahrungsmittel und Schuhe, nähten oder änderten Kleidungsstücke und verteilten sie an Bedürftige. 1899 wurde die erste „Armenkasse“ eingerichtet.
Ebenfalls1899 erwarben laut Scheel die Adventisten die „Klappermühle“ in Friedensau bei Magdeburg mit einem großen Gelände. Dort bauten sie neben einem Missionsseminar 1901 ein Sanatorium mit Ausbildung von Krankenschwestern und eine Produktionsstätte für gesunde Nahrungsmittel auf. 1907 wurde ein Altenheim hinzugefügt. Nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte in verschiedenen Städten die Anstellung von Gemeindeschwestern, um Notleidenden beizustehen. Am 7. April 1924 wurde unter Beteiligung des Advent-Wohlfahrtswerks als Gründungsmitglied der „Fünfte Wohlfahrtsverband“ gegründet, der 1930 in den „Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband“ (DPWV) umbenannt und Mitglied in der „Liga der freien Wohlfahrtspflege“ wurde. Die Eintragung des AWW als Verein erfolgte beim Amtsgericht Berlin-Charlottenburg am 5. September 1927.
Dunkler Schatten über Hulda Jost
Hulda Jost wurde am 1. September 1928 Leiterin des Advent-Wohlfahrtswerks und blieb es bis zu ihrem Tod im März 1938. Lothar Scheel schildert sie als charismatische Persönlichkeit mit Durchsetzungsfähigkeit und Organisationstalent. Ausgestattet mit geradezu unerschöpflicher Energie reiste sie nicht nur kreuz und quer durch Deutschland, sondern auch in die Länder Europas und die USA. Hulda Jost sei das Gesicht des AWW in dieser Zeit gewesen. Mit Gleichschaltung aller Sozialwerke, einschließlich der Auflösung des DPWV 1934, wurde das AWW der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) unterstellt. Hulda Jost habe ihre Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten genutzt, um das AWW nicht nur am Leben zu halten, sondern das Sozialwerk als Schutzraum und Legitimation der Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten darzustellen. Bei aller Würdigung ihrer Leistungen bleibe jedoch ein „dunkler Schatten“. „Dass sie für das verbrecherische Wesen des Nationalsozialismus offensichtlich blind war, zeigt, dass Sozialarbeit niemals unpolitisch ist oder in einem wertfreien Raum geschieht“, gibt Scheel zu bedenken.
Zweiter Weltkrieg und danach
Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurde auch das AWW, das nun unter der Leitung von Otto Brozio (von 1938 bis 1968) stand, zunehmend in den Dienst der kriegswichtigen Erfordernisse, insbesondere dem Krieg an der „Heimatfront“ gestellt. Alle Sammlungen von Geld und Kleidung waren nun „kriegswichtig“ oder sollten die durch den Krieg bedingten Nöte lindern. In den ersten Nachkriegsjahren gab es laut Scheel faktisch keine organisierte Wohlfahrtsarbeit mehr. Überall in Deutschland herrschte Hunger und insbesondere in den zerbombten Städten unbeschreibliche Not. Nun seien es die Adventisten insbesondere in den USA gewesen, die in beispielhafter Weise mit Lebensmitteln, Kleidung und Dingen des täglichen Bedarfs geholfen hätten.
Erst am 25. März 1949 wurde das Advent-Wohlfahrtswerk durch die Alliierten-Kommandantur in Berlin als Verein lizensiert und am 5. Juli in das Vereinsregister beim Amtsgericht Berlin eingetragen. Noch im gleichen Jahr wurde es wieder Mitglied im neugegründeten DPWV in Westdeutschland. „Nun waren die Voraussetzungen geschaffen, dass sich das AWW zu jenem freikirchlichen Sozialwerk entwickeln konnte, das es heute ist“, so Scheel. Ende der 1950er Jahre wurde der Hauptsitz des AWW von Berlin nach Darmstadt verlegt. Seit 1998 ist der Verwaltungssitz in Hannover.
Adventistische Sozialarbeit in der DDR
Den Adventisten in der DDR sei es nicht gestattet gewesen, ein eigenes Sozialwerk zu unterhalten, informierte Lothar Scheel. Diakonische Dienste sowie Kinder und Jugendarbeit wären ausschließlich innerkirchlich erlaubt gewesen. Lediglich in der Suchthilfe sei seit den 1970er Jahren, durch Einzelpersonen initiiert, eine Suchthilfe-Arbeit und ein Netzwerk von Selbsthilfegruppen entstanden, das bis heute bestehe. Auch die inzwischen anerkannte Suchtberatungsstelle des AWW in Chemnitz habe hier ihre Wurzeln. Ebenfalls seit den 1970er Jahren war es möglich, in einige dem kommunistischen System verbundene Länder Afrikas, wie Angola und Mosambik, Medikamente, Nahrungsmittel, Fahrzeuge und verschiedene Hilfsgüter zu liefern. Vereinzelt hätten bei Naturkatastrophen in sogenannten „Ostblock-Ländern“, etwa in Rumänien, Hilfsgüter gespendet werden können. Ab 1988 sei am adventistischen Predigerseminar Friedenau der Lehrgang „Sozialdiakonie“ angeboten worden, aus dem später der Fachbereich „Christliches Sozialwesen“ an der seit 1990 staatlich anerkannten Friedensauer Theologischen Hochschule wurde.
Tätigkeiten und Einrichtungen des AWW
Laut Scheel gehören zu den Tätigkeitsfeldern des AWW unter anderem Unterstützung von Freizeit- und Erholungsmaßnahmen für Alleinerziehende und Familien, Erwachsenenbildung durch Kurse und Seminare, Behindertenarbeit, Angebote für Senioren, Nachbarschafts- und Kreativprojekte, Suchtkrankenhilfe, Hilfs- und Integrationsangebote für Geflüchtete, Asylbewerber, Aus- und Umsiedler, Seelsorge und psychologische Begleitung von Menschen in verschiedenen Lebenskrisen, ehrenamtliche Hospizdienste sowie Betreiber von Suppenküchen, Tafeln, Kleiderkammern und Kleidertauschbörsen. Zu den Einrichtungen des AWW zählen vor allem fünf Kindertagesstätten (Berlin, Fürth, München, Penzberg, Bad Aibling), eine Heilpädagogische Tagesstätte (Neuburg/Donau), ein Familienzentrum (Penzberg/ Bayern), eine Suchtberatungs- und Behandlungsstelle (Chemnitz), ein Übernachtungs-haus für wohnungslose Frauen (Leipzig), ein Tagestreff für Menschen in sozialer Not (Freiberg/Sachsen), die Kontakt- und Beratungsstelle „Schutzhütte“ Schwedt/Oder, eine Oberschule mit Grundschulteil (Oranienburg), vier Seniorenheime (Friedensau bei Magdeburg, Berlin-Steglitz, Uelzen, Neandertal bei Mettmann), vier Einrichtungen Betreutes Wohnen, zwei Hospize (Lauchhammer/Brandenburg, Uelzen) sowie die Suchtklinik „Haus Niedersachsen“ in Dedelstorf bei Gifhorn. Deutschlandweit sind etwa 100 AWW-Helferkreise ehrenamtlich aktiv.
Weitere adventistische Sozialeinrichtungen
Zum Advent-Wohlfahrtswerk zählt nur ein Teil der Sozialeinrichtungen der Freikirche Siebenten-Tags-Adventisten in Deutschland. Lediglich die Schule in Oranienburg gehört zum AWW. Die Theologische Hochschule in Friedensau bei Magdeburg mit den Fachbereichen Christliches Sozialwesen und Theologie, das Schulzentrum „Marienhöhe“ (Darmstadt) mit Gymnasium, Real- und Grundschule sowie sechs weitere Grund- und Realschulen sind in der Trägerschaft der Freikirche. Ebenso das Krankenhaus „Waldfriede“ in Berlin-Zehlendorf dessen Netzwerk außerdem die Berliner „Privatklinik Nikolassee“, eine Tagesklinik für Menschen mit psychiatrisch-psychosomatischen Erkrankungen, die Akademie für Gesundheits- und Krankenpflege, das Gesundheitszentrum „PrimaVita“, eine Sozialstation und ein Seniorenheim umfasst. Auch das Senioren- und Pflegeheim „Haus Wittelsbach“ (Bad Aibling/Oberbayern), das Behindertenheim „Haus Odenwald“ (Groß-Umstadt bei Darmstadt) sowie Erholungs- und Tagungsstätten sind nicht dem AWW angeschlossen. Die Adventistische Entwickungs- und Katastrophenhilfe ADRA Deutschland (Weiterstadt bei Darmstadt) führt Projekte im Ausland durch.
Die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten hat Deutschland rund 35.000 erwachsen getaufte Mitglieder in 558 Adventgemeinden.