Kösel-Verlag, München 2024
224 Seiten
Taschenbuch: 18,00 Euro.
E-Book: 11,99 Euro
ISBN-10: 3466373077
ISBN-13:978-3466373079
Alles Zufall oder doch eigene Leistung? In seinem neuen Buch „Erfolg: Ein moderner Selbstbetrug“ geht der Journalist Bernd Kramer dem Erfolg auf den Grund und kommt mit Hilfe von Psychologie, Soziologie und Philosophie zu überraschenden Erkenntnissen.
Die soziale Lage lasse sich immer weniger durch eigene Leistung verbessern, sondern werde durch Herkunft, Vererbung oder schlicht Zufall bestimmt. Er plädiert dafür, Ungleichheiten zu begrenzen und den Erfolgskult kritisch zu hinterfragen.
Schon die Definition von Leistung ist herausfordernd. Physikalisch gesehen ist Leistung Arbeit pro Zeit und objektiv messbar. Doch so einfach ist das in den Sozialwissenschaften nicht. Dort hat Leistung eben auch einen moralischen Charakter. Deswegen Kramer: „Leistung ist irgendein schwer zerlegbares Konglomerat von Tun und Sein“ (S. 62). Und Leistung führe eben nicht automatisch auch zum Erfolg, auch wenn die Mediokratie dies so gerne glauben möchte und soziale Mobilität suggeriere. Der Mensch will sich eben verdient machen, um so moralische Planungssicherheit zu haben und die Welt gerecht erscheinen zu lassen. Doch „in einer Mediokratie ist der Erfolg eine offene Einladung zur Arroganz“ (S. 110).
Zum Inhalt
Auf 224 Seiten wird der Lesende in sieben Kapiteln bezüglich des modernen Selbstbetrugs informiert. Es gibt eine Einleitung, viele Anmerkungen und Quellenverweise. Kramer beginnt mit der Feststellung, dass Ehrgeiz heute peinlich geworden ist. Er deckt die Hintergründe der Leistungsgesellschaft auf, die das Mantra „Von nichts kommt nichts!“ verinnerlicht hat. Dann biegt er überraschend links ab und führt den Zufall ins Feld: „Warum wir so selten in der Hand haben, was wir erreichen“ (Kapitel 3). Dann spricht er über die Tatsache, dass Erfolg den Menschen negativ verändert. Kapitel vier nimmt den Glauben der Menschen an die eigene Leistungskraft auseinander. Die unverzichtbare Kunst des Scheiterns wird im sechsten Kapitel kritisch dargestellt und das letzte Kapitel verweist auf die Macht des Schicksals.
Kramer führt viele Denker an, um seine These der Entkoppelung von Erfolg und Leistung zu stützen. Dabei mischt er moderne Ansichten mit klassischem Gedankengut. Auch Bücher und Filme illustrieren seine Ausführungen. Die biblische Geschichte von Hiob wird erörtert, John Rawls mit seiner Gerechtigkeitstheorie genannt, Jorge Luis Borges Fiktionen erörtert, Georg Simmels Soziologie gestreift und Sigmund Freuds Forschung erwähnt. Immer wieder wird munter Geschichtliches mit Aktuellem vermischt um „psychologische Schnappmechanismen“ zu entlarven und die Realität zu enttarnen: „So ist die Welt nicht, oder?“ (S.128).
Auch Max Weber wird mit seiner These zitiert, die Reformation Martin Luthers habe die protestantische Arbeitsethik begründet, obwohl „Luthers strenge Gnadenlehre entschieden anti-mediokratisch war“ (Sandel bei Kramer, S. 141). Im Calvinismus hingegen sei Erfolg ein Indiz für die Erwählung durch Gott gewesen, und so „legten die Gläubigen einen ausgesprochenen Ehrgeiz an den Tag, um auf diese Art beruhigende Hinweise [für ihre göttliche Erwählung] zu bekommen“ (S.141). Später sei daraus – als Folge einer allgemeinen religiösen Verunsicherung – die moderne Erfolgsfixierung geworden. Denn „Leistung als Kriterium verspricht da ein Kontrollgefühl“ (S. 145).
Bernd Kramer kämpft angesichts der Schicksalshaftigkeit um Gleichheit auf allen Ebenen: höhere Löhne unten, begrenzte Einkommen oben, Einebnung der Hierarchien in Politik, Wirtschaft, Kultur und Arbeitswelt. Statt mediokratischer Selbstüberschätzung Rücksicht und Achtung. Der Ehrgeiz müsse in einem gesunden Maß bleiben und im selbstbestimmten Hadeln müsse realistischerweise immer mit dem Zufall gerechnet werden. Für die Praxis sieht er dabei allerdings viele Umsetzungsprobleme und ein Stop-and-Go beim „moralischen Aufräumen“ (S. 204-205).
Zum Buch
Kramer ist glatt, überzeugend und unbestechlich in seinen Ausführungen. Zahlreiche Studien über menschliches Verhalten untermauern seine These. Der klare und geistreiche Aufbau ist interessant, das Design geschmackvoll. Er erreicht philosophische Tiefe im beiläufigen Ton und unterhält prächtig mit Ausflügen in die Weltliteratur. Bei alledem ist sein Anliegen nicht zu überhören, auch wenn wir von der „Lotterie des Lebens“ lieber nichts wissen wollen und stattdessen unsere Gewinnerperspektive weiterhin systematisch überschätzen, weil wir unsere allzu optimistische Vorstellung von unserer Handlungsmacht nicht archivieren wollen (S. 196). Trotz angebrachter Selbstkritik und entsprechender Verhaltensanpassung wird am Ende nicht jeder Leser den idealtypischen Lösungsansätzen der verordneten Umverteilung zustimmen können.
Denn das „Konglomerat aus Tun und Sein“, das dem Leistungsgedanken zugrunde liegt, bleibt ein Geheimnis, das auch der Patriarch Hiob nicht lösen konnte und an dem sich schon viele Genies abgearbeitet haben. Wie wir gesellschaftlich damit umgehen, liegt in unserer Hand. Nach der Lektüre ist man nachdenklicher geworden und fragt sich mit Blick auf die persönliche Lage, ob man die Tatsachen nicht endlich akzeptieren muss oder ob man einfach nur großes Glück gehabt hat. Oder beides.
Claudia Mohr
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