Gefängnisstrafen und Freisprüche
Ukrainische Gerichte haben laut „Forum 18“ seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 drei Gefängnisstrafen gegen Kriegsdienstverweigerer verhängt, von denen zwei später wieder aufgehoben wurden. Zudem seien laut der Menschenrechtsorganisation neun Gefängnisstrafen zur Bewährung ausgesetzt und zwei Freisprüche ausgesprochen worden, gegen welche die Staatsanwaltschaft Einspruch erhoben hat. Sieben Strafverfahren laufen noch.
Der Fall Zelinsky
Der Siebenten-Tags-Adventist Dmytro Zelinsky hat mit der Verbüßung seiner dreijährigen Haftstrafe wegen Verweigerung der Einberufung zum Militärdienst aus Gewissensgründen begonnen und soll demnächst in ein Gefängnis in Kolomyia in der Region Iwano-Frankiwsk in der Westukraine gebracht werden. Der 45-Jährige war im Juni 2023 freigesprochen worden, doch die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein. Am 28. August 2023 hob das Berufungsgericht Ternopil den Freispruch auf. Es gab dem Antrag des Staatsanwalts Roman Harmatiuk statt und verurteilte Zelinsky zu einer dreijährigen Haftstrafe, die sofort in Kraft trat. Zelinsky bereite laut seinem Anwalt Petro Korf ein Berufungsverfahren wegen seiner Verurteilung und Gefängnisstrafe beim Obersten Gerichtshof in Kiew vor. Der Anwalt fügte hinzu, dass Zelinsky seinen Fall bei Bedarf vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg bringen werde.
Dmytro Bronislavovich Zelinsky (geb. 16. März 1978) leistete zwischen 1996 und 1998 Militärdienst. Im Jahr 2002 wurde er in Lysychansk in der Region Luhansk als Siebenten-Tags-Adventist getauft. Zelinsky floh nach der russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 aus der Region Luhansk und wurde im Juli 2022 in Kremenez in der Region Ternopil als Binnenflüchtling registriert. Ab Frühjahr 2022 besuchte der Adventist die Gottesdienste seiner Kirche in Kremenez. Er engagierte sich auch ehrenamtlich in der Wohlfahrtsorganisation „Dawn of Hope“ (Morgenröte der Hoffnung), die mit Kindern mit Behinderungen arbeitet.
Am 21. Juli 2022 erklärte eine Militärmedizinische Kommission Zelinsky für wehrfähig. Am 9. September 2022 befahl ihm das Rekrutierungsbüro des Bezirks Kremenez zwei Tage später zum Militärdienst einzutreffen. Der Einberufene erklärte, dass er als Siebenten-Tags-Adventist aus Gewissensgründen nicht in der Lage sei, in den Streitkräften zu dienen. Er sei aber bereit, einen alternativen Zivildienst zu leisten. Dieser Antrag wurde abgelehnt, „da ein solcher Ersatz in der geltenden Gesetzgebung nicht vorgesehen ist“, heißt es in der Gerichtsentscheidung vom 28. August 2023. Da Zelinsky nicht wie angeordnet am 11. September 2022 zur Einberufung erschien, eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen ihn gemäß Artikel 336 des Strafgesetzbuchs („Verweigerung der Einberufung zum Militärdienst“).
Am 5. Juni 2023 sprach Richterin Tetyana Klim vom Bezirksgericht Kremenez Zelinsky vom Verstoß gegen Artikel 336 des Strafgesetzbuchs frei. Wie aus dem Urteil laut „Forum 18“ hervorgeht, berief sich die Richterin auf Artikel 35 der Verfassung der Ukraine: „Widerspricht die Wehrpflicht den religiösen Überzeugungen eines Bürgers, so ist die Erfüllung dieser Pflicht durch einen alternativen (nicht-militärischen) Dienst zu ersetzen.“
Richterin Klim stellte außerdem fest, dass ein Präsidialdekret vom November 2018, in dem die Bestimmungen des Kriegsrechts festgelegt wurden, keine Einschränkungen der in Artikel 35 der ukrainischen Verfassung festgelegten Rechte enthalte, und dass verschiedene Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen in den Richtlinien des EGMR zu Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention ausdrücklich bejahe.
„Daher wird das Recht der Gläubigen auf Weltanschauungs- und Religionsfreiheit, das in Artikel 35 der Verfassung der Ukraine verankert ist und das Recht einschließt, die Ausübung des Militärdienstes durch einen alternativen nichtmilitärischen Dienst zu ersetzen, durch das erwähnte Dekret des Präsidenten der Ukraine nicht eingeschränkt“, schrieb Richterin Klim in der Urteilsbegründung. „Andere Rechtsakte, die diese Rechte auch für die gegenwärtige Zeit – unter den Bedingungen des Kriegsrechts – einschränken würden, gibt es nicht.“
Kein Ersatzdienst in Kriegszeiten?
Nach einem Erlass des ukrainischen Ministerkabinetts vom 10. November 1999 durften Wehrpflichtige, die zehn vom Staat als pazifistisch anerkannten Religionsgemeinschaften angehörten, darunter auch die Siebente-Tags-Adventisten, zivilen Ersatzdienst leisten. Nach Beginn der erneuten Invasion Russlands in der Ukraine im Februar 2022 erklärte die Ukraine den Kriegszustand. Alle Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren gelten als einberufungsberechtigt für eine Generalmobilmachung und erhielten ein Ausreiseverbot. Das ukrainische Verteidigungsministerium bestehe laut „Forum 18“ darauf, dass selbst dieser nur für pazifistische Religionsgemeinschaften begrenzte Ersatzdienst in Kriegszeiten nicht gelte. Wer die Einberufung aus Gewissensgründen verweigert, wird nach Artikel 336 des Strafgesetzbuches mit einer Gefängnisstrafe von drei bis fünf Jahren bestraft.
Adventisten und Militärdienst
Die Buchrezension „Adventisten und Militärdienst“ gibt einen Überblick, wie sich die Adventisten weltweit zur Frage des Kriegsdienstes verhalten haben: https://www.apd.info/news/2020/06/17/adventisten-und-militaerdienst
Zum ausführlichen Artikel von „Forum 18“ (in Englisch):
https://www.forum18.org/archive.php?article_id=2871