Asta Nielsen hat ihren festen Platz in der Filmgeschichtsschreibung. Ihre Filme jedoch erfuhren und erfahren immer noch eine ungerechte Vernachlässigung. Das ist nicht nur an sich ein Verlust. Der Geringschätzung der Komödien und Kinodramen korrespondiert eine Abstraktion der Schauspielerin vom übrigen Film, die auch ihrem Spiel nicht gerecht wird. Die Herauslösung geschah schon in den 20er Jahren und fand ihre Apotheose in Béla Balázs’ Begriff von einer "Gebärdensprache der Erotik", die uns die Nielsen vorführt. Der Text des frühen Filmtheoretikers besticht in seiner Verve und Einfühlsamkeit noch heute. Und doch geht er darüber hinweg, wie sich zur gleichen Zeit der Nielsen schon der filmische Zusammenhang entzog, in dem sie wirken konnte. Während Balázs das Phänomen Nielsen in den Himmel der Sprachkunst erhob, fiel sie in Wirklichkeit schon aus der Filmproduktion und dem Kino heraus. Die Rede von einer Sprache der Erotik ist vor allem Ausdruck einer Liebe des Zuschauers, die ihn mit Macht ergreift. Von deren unverminderter Wucht können wir beim heutigen Wiedersehen nicht ausgehen, wohl aber von einer neuen Wahrnehmung der Welt der frühen Filme – der Filme der 10er Jahre – in denen Asta Nielsen sich einmal wie ein Fisch im Wasser bewegte.
Unsere heutige Wahrnehmung der Nielsenfilme ist durch geschichtliche Erfahrungen des 20. Jahrhunderts einerseits komplexer, andererseits aber auch, aufgrund eines immensen Erfahrungsverlusts, ärmer geworden. So haben wir kaum noch Empathie für die Dramatik der Leidenschaft, das Pathos des Sexuellen, das Bedeutende des Geschlechterkonflikts. Zum Alltag um 1900 gehörten sie jedoch hinzu – wofür Sigmund Freud ebenso ein Zeuge ist wie die Sexualreform- und Frauenbewegungen. Gewonnen haben wir heute dagegen einen Blick für die Verhandlungen von Emanzipation und Reaktion in einer Massenkultur, die mit dem Kino begann. Uns fällt es leichter, die außerordentliche Bewegtheit der Nielsen in ihrer Verbindung, ihrem Durchdrungensein mit dem Trivialen, Populären und der neuen Technologie zu sehen, statt für ihre Würdigung den Horizont ursprünglicher Sprache beschwören zu müssen. Nicht die feministische oder gender-gebriefte Umwertung der ehemals männlichen Feier eines erotischen Sprachkörpers steht zur Debatte. Ein Star der lesbischen Subkultur war die Nielsen – anders als Marlene Dietrich – ohnehin nie. Allerdings treten die Momente der Grenzüberschreitung, das Normen überschreitende Gebaren, die Hosenrollen, das Spiel mit den Alterszuschreibungen zur Zeit vielleicht mehr denn je hervor und erfreuen das Herz, das queer schlägt. Doch die eigentliche Möglichkeit für eine Revision der Filmgeschichtsschreibung liegt in der Wahrnehmung der Nielsen im Kontext des Films, der Filme, wie sie im heutigen Kino aufgeführt werden und darin Geschichte vergegenwärtigen."