"Es war einmal ein Hahn auf einer Hühnerfarm. Jeden Morgen, wenn es noch dunkel war, stolzierte er aus dem Stall, kletterte auf einen Misthaufen und begann mit voller Kraft zu krähen. Und tatsächlich: kaum hatte er seine Stimme laut erklingen lassen, da erschien die Sonne am Horizont und ging strahlend auf.
Mit stolzgeschwellter Brust ging der Hahn dann nach getaner Arbeit zu seinen Hühnern in den Stall und sagte: "Bitte schön, meine Lieben, ihr könnt hinausgehen, ich habe die Sonne für euch aufgehen lassen!"
So ging es Tag für Tag. An einem Morgen war der Sonnenaufgang ungewöhnlich schön. Vor Begeisterung über sich selbst und das wunderbare Werk, das er vollbracht hatte, krähte der Hahn an diesem Morgen so lange und kräftig, bis er keine Stimme mehr hatte. Als er am nächsten Morgen aufwachte, war die Stimme immer noch weg. Der Hahn war verzweifelt: wie sollte ohne sein Krähen die Sonne aufgehen? Gegen besseres Wissen stieg er auf den Misthaufen und versuchte zu krähen, aber kein Laut kam aus seiner Kehle.
Niedergeschlagen wollte der Hahn zum Stall zurückkehren. Dann würde es heute zum ersten Mal wohl nicht Tag werden. Aber was war das? Ganz langsam hinter den Hügeln kam ein Lichtstrahl hervor. Die Sonne ging auf, wie jeden Morgen - und das ohne sein Zutun! Sollte er sich so geirrt haben, sollte er vielleicht gar nicht verantwortlich sein für den Sonnenaufgang?
Gedemütigt zog sich der Hahn in die hinterste Ecke des Stalls zurück und wagte nicht mehr, seinen Hennen in die Augen zu sehen. Am Abend kam die klügste seiner Hennen zu ihm und sagte: "Geh nur morgen wie gewöhnlich hinaus und krähe. Aber krähe nicht, um die Sonne aufgehen zu lassen. Krähe, weil sie aufgeht!"
"Es liegt nicht in meiner Hand, dass die Sonne jeden Tag aufgeht."
Der Hahn aus der Geschichte hat damals übrigens auf die Henne gehört. Und sein Krähen klang seit diesem Tag viel entspannter und glücklicher!"
Die Geschichte haben wir übernommen von Sabine Drecoll, Reutlingen.