Aufwärtstrend setzt sich nicht fort
Ende vergangenen Jahres erwarteten noch zwei Drittel aller Betriebe eine stabile, aufwärts gerichtete Entwicklung, begann Präsident Herrmann seinen obligatorischen Konjunkturrückblick. Allerdings seien Lieferengpässe sowie hohe Preissteigerungen für Material und Energie bereits zu dieser Zeit ein Thema gewesen, das sich zunehmend zuspitzte. Der Kostendruck quer durch alle Gewerke nahm zu; weit über 80 Prozent der Betriebe mussten für Material, Vorprodukte und Energie spürbar mehr bezahlen als noch ein Jahr zuvor. Teilweise sprunghaft angestiegen seien die Preise für Beton, Stahl, Dämmstoffe, Kunststoffteile und Abdichtungen. Hinzu kamen Lieferengpässe bei elektronischen Bauteilen und deutlich höhere Kosten für Strom, Gas, Heizöl und Treibstoffe. Dabei blieb es nicht, so Herrmann.
Der Ukraine-Krieg und die nochmals verschärften Folgen bei Energiepreisen und Lieferketten bildeten eine extreme Zäsur. Dieser Einschnitt habe die aufgekeimten Hoffnungen auf eine kräftige konjunkturelle Erholung im laufenden Jahr überholt und die optimistischen Erwartungen teilweise zunichte gemacht. Folglich seien von da ab die anfangs erwähnten Chancen, dass sich der Aufwärtstrend fortsetzen würde, zunehmend zurückhaltender bewertet worden. Und auch die Omikron-Welle habe die Handwerksbetriebe nicht verschont und vor allem in kleineren Betrieben zu Personalengpässen geführt. In der Folge konnten Aufträge nicht wie geplant abgearbeitet werden. Harald Herrmann: „In gleicher Weise sind es die verschärften Materialengpässe, die zu diesem Stau führten und ihn bis heute verlängern. Mitte Mai erreichte der Bestand an Aufträgen eine bislang nicht gekannte Höhe von fast 18 Wochen. Die Steigerungsraten innerhalb nur eines Jahres sind enorm: Im Bereich Baustahl müssen Betriebe bis zu 120 Prozent mehr bezahlen.“
Meisterprämie beliebt, Meistergründungsprämie verschmäht
Ein Erfolgsmodell sei die Meisterprämie, berichtete der Präsident weiter. Im vergangenen Jahr seien 201 Anträge bewilligt und dabei insgesamt 301.500 Euro ausbezahlt worden. In diesem Jahr hätten bereits 107 Anträge positiv beschieden werden können. Hingegen sei die Meistergründungsprämie, die seit Dezember 2020 alle Handwerksmeisterinnen und Handwerksmeister erhielten, die sich in Baden-Württemberg selbstständig machten und innerhalb von 24 Monaten nach ihrer Meisterprüfung eine Darlehensförderung beantragten, noch nicht so richtig in Fahrt gekommen. Lediglich neun Meisterinnen und Meister hätten 2021 das für die Antragstellung erforderliche Bestätigungsschreiben angefordert und das Geld erhalten. Allerdings ließe sich für dieses Jahr im Vergleich zum Vorjahr eine deutliche Belebung feststellen. Stand 11. Juli lägen bereits 15 Anträge vor.
Fachkräftesituation und Klimawende
Hauptgeschäftsführer Dr. Joachim Eisert ging anschließend auf die Fachkräftesituation ein. Der Mangel an Nachwuchs bei qualifizierten Fachkräften im Handwerk stelle nicht nur das Handwerk allein vor Probleme, sondern unsere Gesellschaft und Wirtschaft insgesamt, da er generell die Zukunftsfähigkeit bedrohe. Klimaschutz und Energiewende könne es nur mit dem Handwerk und nur mit seinen qualifizierten Fachkräften geben. Millionen Handwerkerinnen und Handwerker seien bereits heute täglich aktive Klimaschützer, so Eisert. Sie installierten Solardächer, bauten Wind-parks und Ladesäulen für die E-Mobilität, tauschten Heizungen aus, machten Häuser energieeffizient, sanierten und isolierten diese. Aber auch für die Aufrechterhaltung der täglichen Daseinsversorgung – etwa mit Lebensmitteln oder mit Gesundheitsprodukten und -dienstleistungen einer alternden Gesellschaft – seien qualifizierte Handwerkerinnen und Handwerker unverzichtbar. Eisert: „Im Gesamthandwerk fehlen schon jetzt schätzungsweise rund 250.000 Fachkräfte. Auf unseren Kammerbezirk bezogen sind das ca. 3.500 Menschen, die wir dringend in unseren Betrieben bräuchten“. Zugleich würden viele qualifizierte Handwerkerinnen und Handwerker in den kommenden Jahren in den Ruhestand wechseln, berichtete Eisert weiter. Und rund 125.000 Handwerksbetriebe stünden bundesweit in den nächsten fünf Jahren zur Nachfolge an.
Ausbildungssituation lässt hoffen
„Immer mehr Lehrstellen bleiben unbesetzt“, fuhr Eisert fort. Nach der neuesten Auswertung des ZDH gäbe es zurzeit bundesweit 33.432 angebotene Ausbildungsplätze, für die sich (noch) kein passender Bewerber oder keine passende Bewerberin finden lasse. Auch im Kammerbezirk der Handwerkskammer Reutlingen mit den Landkreisen Freudenstadt, Reutlingen, Sigmaringen, Tübingen und Zollernalb seien momentan 712 Lehrstellen offen. Eisert fuhr fort, dass die Kammer aktuell ein Plus von 2,2 % bei den Ausbildungsverträgen verzeichne, während im baden-württembergischen Durchschnitt ein Rückgang von -5,9 % verbucht werde. Am Jahresende 2021 waren 4.568 Ausbildungsverhältnisse in der Rolle eingetragen, ein leichtes Plus zum Vorjahr. Neu abgeschlossene Berufsausbildungsverhältnisse gab es im gesamten Jahr 2021 1.736. Mit Stand 30. Juni 2022 waren es in allen Landkreisen 935, im Vorjahr 915. Das, so Eisert, sei zwar nur ein kleiner Hoffnungsschimmer, aber immerhin gehe es nicht weiter bergab.
Handwerksbetriebe womöglich nicht von einer Abschaltung betroffen
Abschließend äußerte sich der Hauptgeschäftsführer zur Gasversorgung und zeigte sich vorsichtig optimistisch, dass Handwerksbetrieben auch bei einem „Worst-Case-Szenario“ und der Notfallstufe die Gasversorgung nicht reduziert werde. Denn nur Großabnehmern unter 10 MWh technischer Anschlusskapazität könne das Gas prozentual reduziert werden. Die überwiegende Mehrheit der Handwerksbetriebe in der Region liege aber weit unter diesen technischen Kapazitäten. Hinzu komme, dass sie ihre Firmensitze häufig neben privaten Verbrauchern hätten und einzelne Einheiten technisch gesehen nicht einfach abgeschaltet werden können. Dies werde in der Versorgungsprioritätsdebatte bisher zu wenig beachtet, sagte Eisert. „Das große Problem werden die Preise sein. Ist erst einmal ein Versorgungsengpass von der Bundesnetzagentur festgestellt, dürfen Versorger die gestiegenen Einkaufspreise an die Kunden auch innerhalb von bestehenden Verträgen weitergeben.“
Abschlussprüfung durch Wirtschaftsprüfungsunternehmen
Die Vollversammlung hat im Rahmen ihrer Zusammenkunft auch den Jahresabschluss 2021 mit Erfolgs- und Finanzrechnung sowie der Schlussbilanz festgestellt, den insbesondere für Investitionen nach den Vorgaben der Rechtsprechung ermittelten Rücklagenbedarf beschlossen und Vorstand sowie Geschäftsführung Entlastung erteilt. Die gesetzlich vorgeschriebene Prüfung des Rechnungsjahres 2021 und der Abschlüsse durch eine unabhängige Stelle ist aufgrund von Vorgaben der Rechtsaufsicht erstmals von einem professionellen Wirtschaftsprüfungsunternehmen durchgeführt worden, welches zur besseren Vergleichbarkeit alle acht Handwerks-kammern in Baden-Württemberg prüft. Die Wirtschaftsprüfer hatten in ihrem Bericht an der Wirtschaftsführung der Kammer ebenso wenig auszusetzen wie der ehrenamtlich fungierende unabhängige Rechnungsprüfungsausschuss.