Dass sich die Große Koalition auf eine "kleine" Reform der Pflegeversicherung beschränkt, ist nach Einschätzung des Wissenschaftlers keine gute, aber kurzfristig auch nicht die schlechteste Lösung: "Der Kompromiss bringt für die Pflegebedürftigen einige Verbesserungen. Und er vermeidet problematische Weichenstellungen bei der Finanzierung", sagt Rothgang bei der Vorstellung des Gutachtens am heutigen Dienstag. Gleichwohl verschafften die Pläne "nur für einige Jahre Luft. In der nächsten Legislaturperiode steht die Finanzreform der Pflegeversicherung wieder auf der Agenda." Die grundsätzlichen Finanzprobleme blieben ungelöst, schon weil die Zahl der Pflegebedürftigen künftig weiter wächst und mehr Patienten professionell gepflegt werden müssen. Würden die Ausgaben zusätzlich "dynamisiert", also etwa um zwei Prozent pro Jahr erhöht, um die Kaufkraft der Versicherten zu erhalten, müssten die Beiträge im aktuellen Finanzierungsmodell bis zum Jahr 2040 auf 3 bis 4 Prozent vom Bruttoeinkommen steigen.
Um das zu vermeiden, favorisiert Rothgangs Analyse die Fortentwicklung des bestehenden solidarischen Versicherungssystems. Ein radikaler Systemwechsel, etwa zu einem Modell mit individueller Kapitaldeckung, biete keine überlegene Alternative. Sowohl die Beschäftigten als auch die Rentner hätten zudem in einer langen Umstellungsphase enorme zusätzliche Belastungen zu tragen. Der Bremer Wissenschaftler plädiert dafür, die Pflegeversicherung durch eine "breite Kombination" aus unterschiedlichen Finanzierungselementen zukunftsfähig zu machen. Einige davon spielten schon in den Debatten der vergangenen Wochen eine Rolle. Es komme aber auf die exakte Ausgestaltung des Mixes an, um zu verhindern, dass eine Maßnahme nur kurzzeitig wirkt oder negative Verteilungswirkungen erzeugt, betont der Forscher.
So hält es Rothgang zwar für bedenkenswert, zur Pflegefinanzierung eine ergänzende Kapitalfundierung aufzubauen, wenn Lasten, die ansonsten erst in der Zukunft anfallen würden, in die Gegenwart gezogen werden sollen. "Das ist letztlich eine politische Entscheidung, nicht aus Gründen der Generationengerechtigkeit zwingend notwendig", betont der Wissenschaftler. Entscheide sich die Politik dafür, sollte das aber nicht in Form einer privaten Zusatzversicherung mit Pauschalbeiträgen geschehen. Denn dieses Modell sei nicht nachhaltig und belaste Versicherte mit geringeren und mittleren Einkommen, während Gutverdiener entlastet würden.
Das zeigen Berechnungen zum Kopfprämien-Modell der bayerischen Sozialministerin Christa Stewens, das nach Rothgangs Analyse beispielhaft für ähnliche Modelle steht: Würde es eingeführt, wären, je nach Grundlohnentwicklung, im Jahr 2020 Singles bis zu einem Einkommen von 1700 bis 2400 Euro schlechter gestellt als nach dem gegenwärtigen Finanzierungsmodus. Ehepaare mit einem Einkommen unter 3500 Euro hätten ebenfalls Nachteile. Trotz dieser Belastung ließen sich mit dem Modell nicht die Leistungsdynamisierung finanzieren und zugleich eine echte Kapitalrücklage bilden: Spätestens ab Mitte der 2040er Jahre würde der Kapitalstock wieder aufgezehrt. Zudem müsste parallel zur existierenden Pflegeversicherung eine zweite Leistungsverwaltung aufgebaut werden.
Neben einer Erhöhung des Beitragssatzes um "wenige Zehntel Prozentpunkte", wie sie die Große Koalition beschlossen hat, hält Professor Rothgang hält dagegen einen Mix aus drei Komponenten für Erfolg versprechend:
"Die Übernahme von möglichst vielen Elementen einer Bürgerversicherung. Dazu zählen die Einbeziehung der gesamten Bevölkerung in die gesetzliche (soziale) Pflegeversicherung, Beiträge auf weitere Einkommensarten, etwa Kapitaleinkünfte, sowie die Abschaffung oder zumindest die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze. Eine Bürgerversicherung könne das Finanzproblem zwar alleine nicht lösen, sie sei aber "dem Status quo allokativ und distributiv überlegen", hält Rothgang fest. Sollte sie politisch nicht durchsetzbar sein, empfiehlt der Wissenschaftler "hilfsweise einen umfassenden Risikostrukturausgleich zwischen sozialer und privater Pflegeversicherung". Dieser Ausgleich müsse sowohl die unterschiedliche Finanzkraft der jeweiligen Versicherten als auch deren unterschiedliche Risikostruktur berücksichtigen.
"Einen weiteren Beitrag könnten steuerfinanzierte Beiträge für mitversicherte Kinder leisten. Derzeit gibt die soziale Pflegeversicherung pro Jahr etwa 900 Millionen Euro für Personen unter 20 Jahren aus, die beitragsfrei mitversichert sind.
"Wenn zum Vorziehen von Finanzierungslasten eine ergänzende Kapitalfundierung erfolgen soll, könnte diese verknüpft werden mit einem Zusatzbeitrag für Rentner. Beschäftigte müssten dann obligatorisch dafür vorsorgen, diesen Zusatzbeitrag im Alter zahlen zu können. Allerdings müsse vor Einführung "geprüft werden, inwieweit die Rentner schon in anderen sozialen Sicherungssystemen belastet werden". Eine andere Variante für die Kapitalfundierung könnte Beiträge in Abhängigkeit von der Kinderzahl staffeln.