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Mindestlöhne - Wissenschaftlicher Rechercheservice der Hans-Böckler-Stiftung

(lifePR) (Düsseldorf, )
Die wissenschaftliche Forschung zu Niedrig- und Mindestlöhnen hat in jüngster Zeit deutliche Fortschritte gemacht. Die Tarifexperten der Hans-Böckler-Stiftung, Dr. Reinhard Bispinck und Dr. Thorsten Schulten, haben im folgenden Forschungsergebnisse zu fünf zentralen Fragen zusammengefasst:

1. Wie groß ist das Niedriglohn-Problem wirklich? Bieten Niedriglöhne nicht auch Chancen?

Der Niedriglohnsektor ist in Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre kontinuierlich gewachsen. Je nach Definition gibt es heute bis zu 7 Millionen Niedriglohnempfänger, darunter zwischen 3 und 4 Millionen Vollzeitbeschäftigte. Deutschland hat damit in absoluten Zahlen den größten Niedriglohnsektor in Europa. Auch der Anteil an allen Beschäftigten liegt mit 22 Prozent über dem europäischen Durchschnitt, zeigt eine neue Untersuchung des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen. Allein zwischen 2004 und 2006 stieg die Niedriglohnbeschäftigung um 10 Prozent, ermittelten die IAQ-Forscher auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels. Die Lohnspreizung ist in Deutschland ebenfalls längst überdurchschnittlich und bewegt sich auf dem Niveau von Großbritannien. Die durchschnittlichen Stundenlöhne von Niedriglöhnern sind während der letzten beiden Jahre sogar absolut gesunken, so das IAQ - in Westdeutschland von 7,25 auf 6,89 Euro und im Osten von 5,48 Euro auf 4,86 Euro. Erwartungen, dass durch eine größere Lohnspreizung mehr Beschäftigung entsteht, haben sich nicht erfüllt. Die Arbeitslosenquote bei Geringqualifizierten ist in Deutschland deutlich höher als in anderen europäischen Ländern, die überwiegend Mindestlöhne haben. Auch Untersuchungen über die USA liefern Indizien dafür, dass Niedriglöhne keine besseren Jobchancen für geringer Qualifizierte eröffnen. Aus den Daten könne man "den Schluss ziehen, dass es geringer qualifizierten Arbeitnehmern in den USA keinesfalls gelingt, sich in Beschäftigung hineinzupreisen", so der Ökonomieprofessor Ronald Schettkat von der Universität Wuppertal.

Detaillierte wissenschaftliche Befunde zum Niedriglohnsektor und zur Lohnspreizung:
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2. Beeinträchtigen Mindestlöhne die Beschäftigung?

Das Verhältnis von Mindestlöhnen und Beschäftigung wird innerhalb der Wirtschaftswissenschaft kontrovers diskutiert. Neuere internationale Studien kommen zu dem Ergebnis, dass von Mindestlöhnen keine oder sogar leicht positive Beschäftigungseffekte ausgehen.

So ist etwa in Großbritannien die Arbeitslosigkeit seit der Einführung des Mindestlohns im Jahre 1999 deutlich zurückgegangen. Nach einer aktuellen Untersuchung der London School of Economics haben die britischen Unternehmen in dreifacher Weise auf die Einführung des Mindestlohns reagiert: Zum einen kam es in vielen Branchen zu einer spürbaren Erhöhung der Produktivität, womit bereits ein Teil der zusätzlichen Kosten kompensiert werden konnte. Darüber hinaus kam es in einigen Sektoren zu moderaten Preisanstiegen. Schließlich gingen in einigen Bereichen auch die Gewinne zurück, ohne dass dies jedoch zu Beschäftigungsverlusten geführt hat. Durch die Förderung der privaten Konsumnachfrage hat der Mindestlohn im Gegenteil die Beschäftigungsentwicklung positiv beeinflusst.

Ein vermeintlicher Zusammenhang zwischen Mindestlohn und hoher Jugendarbeitslosigkeit, über den am Beispiel Frankreichs diskutiert wird, lässt sich dagegen nicht erhärten. So ging die Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich beispielsweise zwischen 1996 und 2007 von knapp 28 Prozent auf rund 20 Prozent zurück, während der Mindestlohn im gleichen Zeitraum vergleichsweise stark stieg. Diese langfristig positive Tendenz wurde zwar um die Jahrtausendwende zeitweise unterbrochen. Doch das fiel eindeutig mit der konjunkturellen Schwächephase zusammen und mit dem zeitweiligen Stopp von Arbeitsförderungsprogrammen für Jugendliche. Im europäischen Vergleich zeigt sich, dass auch Länder ohne Mindestlohn, zum Beispiel Italien, eine noch höhere Jugendarbeitslosigkeit aufweisen als Frankreich. Dagegen liegt die Jugendarbeitslosigkeit in Irland oder den Niederlanden, zwei Ländern mit gesetzlichen Mindestlöhnen, deutlich unter dem EU-Durchschnitt.

Gesetzliche Mindestlöhne gibt es in 20 der 27 EU-Länder. Die meisten westeuropäischen Länder setzen derzeit eine Lohnuntergrenze von mehr als acht Euro. In Luxemburg sind es sogar gut neun Euro. In den vergangenen 12 Monaten haben viele dieser Länder ihre Mindestlöhne spürbar erhöht. Die mittel- und osteuropäischen Länder haben absolut die niedrigsten Untergrenzen. Allerdings holen viele dieser Länder langsam, aber kontinuierlich auf. So wurden die Mindestlöhne in Polen, Bulgarien und Rumänien sowie in den baltischen Staaten im Jahresvergleich Anfang 2007/2008 um 20 bis 33 Prozent angehoben.

www.boeckler.de/... - Die britischen Erfahrungen
www.boeckler.de/... - Aktuelle Mindestlöhne in Europa

3. Sind branchenbezogene Lösungen besser als Lösungen für die gesamte Wirtschaft?

Einheitlicher Mindestlohn und Branchenlösungen schließen sich nicht aus, sie bilden im Gegenteil eine sinnvolle Ergänzung. In Branchen mit funktionierender Tarifvertragspraxis auf der Basis von Flächentarifverträgen können Mindestlohn-Tarifverträge nach dem AEntG akzeptable Mindeststandards definieren. Damit kann - bei geeigneter Umsetzung und Kontrolle - ein Lohndumping durch nicht tarifgebundene Außenseiter innerhalb der Branche aus dem In- und Ausland unterbunden werden. Unabhängig davon schreibt ein einheitlicher, branchenübergreifender gesetzlicher Mindestlohn eine Einkommensuntergrenze vor, unterhalb derer niemand zum Arbeiten gezwungen sein soll. Dies stellt eine gesellschaftliche Vorgabe dar, die für jede Tätigkeit in jeder Branche gelten soll.

4. Gefährdet ein gesetzlicher Mindestlohn die Tarifautonomie?

Nein. In etlichen Branchen funktioniert die Tarifautonomie derzeit nicht - sei es, weil es keine Arbeitgeberverbände gibt oder sei es, weil die Gewerkschaften zu schwach sind, um angemessene Tarifvergütungen durchzusetzen. Ein gesetzlicher Mindestlohn würde also die Tarifautonomie stabilisieren und in vielen Tarifbereichen eine aktive Tarifpolitik überhaupt erst wieder ermöglichen. In den meisten europäischen Ländern sind zudem Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände an der Ausgestaltung der Mindestlohnpolitik aktiv beteiligt, ein Beispiel dafür ist Großbritannien.

Mehr Informationen: www.boeckler.de/...

5. Was kann Deutschland von den positiven Erfahrungen mit dem Mindestlohn in Großbritannien lernen?

Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 1999 wird heute in Großbritannien von allen Seiten als ein äußerst positiver Beitrag zur Regulierung des Arbeitsmarktes gewürdigt. Nicht unerheblich dazu beigetragen hat die so genannte "Niedriglohnkommission", die die Regierung im Hinblick auf die regelmäßige Anpassung des Mindestlohns berät. In der Low-Pay-Commission (LPC) sitzen je drei Vertreter von Gewerkschaften, Arbeitgebern und Wissenschaft. Ein ähnlich zusammengesetztes Gremium könnte auch in Deutschland die Mindestlohnpolitik gestalten. Darüber hinaus kam Großbritannien die Tatsache zugute, dass der Mindestlohn in einer ökonomischen Aufschwungphase eingeführt wurde. Demnach wäre der Zeitpunkt für eine Einführung eines Mindestlohns in Deutschland gerade jetzt besonders günstig.

6. Woran kann sich die Höhe eines gesetzlichen Mindestlohnes orientieren?

Es gibt im Wesentlichen zwei Orientierungsmarken für einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland. Zum einen muss sich der Mindestlohn in das allgemeine Sozial- und Lohngefüge einpassen. Als Orientierung könnte die so genannte Pfändungsfreigrenze dienen, d.h. derjenige Betrag des Lohns, der einem verschuldeten Arbeitnehmer nicht gepfändet werden darf. Umgerechnet würde dies etwa einem Mindestlohn von 8,19 Euro pro Stunde entsprechen. Geht man von der landläufigen Definition von Armutslöhnen aus, die bei 50 Prozent des nationalen Durchschnittslohns angesetzt wird, so müsste der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland sogar bei 10 Euro liegen.

Als zweite Orientierungsmarke könnten die gesetzlichen Mindestlöhne in den mit Deutschland vergleichbaren westeuropäischen Nachbarstaaten wie Frankreich, Großbritannien, Irland oder den Benelux-Staaten dienen - derzeit zwischen knapp acht und gut neun Euro.

www.boeckler.de/... - Mehr zu Pfändungsfreigrenze etc.
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