„Alle ambulanten Pflegedienste berichten mir von Aufnahmestopps. Ohne Ausnahme. Egal ob in West-, Ost-, Nord- oder Süddeutschland, egal ob privat oder Wohlfahrt. Es gibt sogar einige, die Verträge kündigen, weil sie eine verlässliche ambulante Versorgung nicht mehr gewährleisten können.“ Prof. Dr. Andreas Büscher führt derzeit viele Interviews mit Expertinnen und Experten aus der Branche. Dazu zählen Betreiberinnen und Betreiber von ambulanten Pflegediensten, Unternehmensberatungen aus dem Bereich sowie Personalfachleute. Das Bild, das sich abzeichnet, ist deutlich: „Der Pflegenotstand, vor allem im Blick auf den ambulanten Bereich, ist da.“
Der Professor für Pflegewissenschaft führt die Interviews im laufenden Projekt „Empfehlungen zur Entwicklung von personellen Vorgaben für ambulante Pflegeeinrichtungen“. Es wird vom Qualitätsausschuss Pflege gefördert. Der Qualitätsausschuss wurde vom Gesetzgeber mit der Durchführung von Weiterentwicklungen in der Pflegeversicherung betraut. Mitglieder des Ausschusses sind unter anderem Vertreterinnen und Vertreter des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (GKV) sowie der Vereinigungen der Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene.
Die Mehrzahl wünscht eine ambulante Pflege, aber die Infrastruktur ist gefährdet
Büscher widmet sich dem Themenfeld gern: „Die öffentliche Diskussion dreht sich stärker um das Personal in Pflegeheimen und Krankenhäusern. Der ambulante Sektor gerät dabei wie so oft aus dem Blick.“ Deshalb möchte er durch das Projekt auch dazu beitragen, größere Aufmerksamkeit auf den ambulanten Bereich zu lenken. Auch, weil der Druck wächst. „Es gibt so etwas wie einen Staubsaugereffekt. Von den zu wenigen Menschen, die in der ambulanten Pflege arbeiten, wechseln viele in Heime oder Kliniken.“ Denn die Einrichtungen können mehr zahlen und verlässlichere Rahmenbedingungen bieten. Der Wissenschaftler macht zudem keinen Hehl daraus, dass es äußerst schwierig ist, belastbare personelle Vorgaben für ambulante Pflegeeinrichtungen zu entwickeln.
Büscher macht es anschaulich: „Die eine Person hat den Pflegegrad vier und wird zu Hause von der Familie versorgt. Es reicht, dass eine Pflegerin ein- oder zweimal die Woche kommt, um beim Duschen zu helfen. Die andere Person hat auch den Pflegegrad vier, lebt aber allein.“ Auf dem Papier die gleiche Bedarfslage, der ambulante Pflegedienst muss aber jeden Tag kommen.
„Seriös zu sagen, wie viele Stellen man benötigt, um beispielsweise zehn Personen mit dem Pflegegrad zwei zu versorgen, ist kaum möglich“, erklärt Büscher. Die meisten Pflegedienste setzten auf Erfahrungswerte und bildeten dann Durchschnittszeiten. Trotzdem wird Büscher im Zuge des Projektes im Zusammenspiel mit der Praxis eine Zeiterhebung erstellen. So erhält man zumindest einen Fingerzeig, welcher Zeitaufwand für bestimmte Tätigkeiten erforderlich ist. „Die Hoffnung ist, dass sich das künftig auch in den Verträgen mit den Kassen für die ambulante Pflege abbildet. Denn zurzeit ist das Spektrum sehr eng. Das sollte sich erweitern.“
Im Blick auf die derzeitige Pflegesituation in Deutschland ist für Büscher klar: „Der Wunsch der meisten Menschen ist es, eher ambulant als stationär gepflegt zu werden. Aber die vorhandene Infrastruktur dafür ist in Gefahr. Deshalb muss man hier deutlich mehr investieren.“
Hintergrund: Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes, die im Dezember 2018 in der Pflegestatistik veröffentlicht wurden, arbeiteten 2017 insgesamt etwa 390.000 Menschen in der ambulanten Pflege, zum Großteil Frauen. 2015 waren es noch etwa 355.000 Beschäftigte. Die Zahl der Pflegebedürftigen, die durch ambulante Pflegedienste ganz oder zum Teil versorgt werden, ist im gleichen Zeitraum von 692.000 Menschen auf knapp 830.000 angewachsen. Dieser Anstieg basiert auch auf einem geänderten Pflegebedürftigkeitsbegriff, der durch das zweite Pflegestärkungsgesetz am 1. Januar 2017 inkraft getreten ist. Dadurch sind deutlich mehr Menschen leistungsberechtigt als zuvor.