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Britischer Pragmatismus bis zuletzt

(lifePR) (Sankt Augustin, )
Als am Donnerstag, dem 23. Juni 2016, in Großbritannien noch alle Wahllokale für die Abstimmung über die Zukunft des Landes in der EU geöffnet waren, tobte über Brüssel ein gewaltiges Blitz-und-Donner-Theater, wie ineiner Wagner-Oper. Wer schlafen konnte, nahm gegen Mitternacht die Umfragewerte von 52% für den Verbleib und 48% für den Austritt mit in seine Träume. Als tags darauf, am 24. Juni 2016, der „Britische Unabhängigkeitstag“ gefeiert wurde, fand in Brüssel mal wieder ein Generalstreik statt, aber die Sonne grüßte von einem strahlend blauen Himmel über dem EU-Viertel in Brüssel. Die Bevölkerung Großbritanniens hatte in einem demokratischen Akt direkter Demokratie beschlossen, aus der Europäischen Union auszutreten. Mehr als 30 Millionen Bürger stimmten darüber ab. Mit 72,2 % wurde die höchste Wahlbeteiligung seit den Unterhauswahlen 1992 erreicht. Das amtliche Endergebnis ist deutlich: 48,1 % für den Verbleib, 51,9 % für den Austritt. Das Vereinigte Königreich wird denselben Status eines Drittstaats erhalten wie Norwegen, Liechtenstein und die Schweiz. Regierungschef  David Cameron kündigte seinen Rücktritt für Oktober an, weil seine Regierung offiziell für den Verbleib in der EU stand und verlor.

Am Freitag kommentierten die ersten Abgeordneten ab 7h Uhr 30 das Ergebnis vor den Kameras der zahlreichen Fernsehsender. Um 8 Uhr trafen sich die Fraktionsvorsitzenden zu einer Sondersitzung. Sie wurde tags zuvor mit der offiziösen Botschaft angekündigt, die Fraktionschefs wollten eine harte Linie gegen Großbritannien festlegen, wenn sich die Bevölkerung gegen einen Verbleib entscheide. Diese Nachricht sollte vermutlich auf der anderen Seite des Ärmelkanals noch Eindruck machen oder gar abschrecken. Um 9h30 trat Parlamentspräsident Martin Schulz vor die Presse, verbarg seine Betroffenheit nicht und gab nur ein kurzes Statement ab, ohne den 100 anwesenden Journalisten Fragen zuzulassen. Eine Sondersitzung des EU-Parlaments wurde für den Dienstag nach Brüssel einberufen, obwohl das Plenum sowieso in wenigen Tagen zur seiner ordentlichen Plenarsitzung in Strasbourg zusammentritt. Schulz kritisierte die Entscheidung des britischen Regierungschefs, erst im Oktober zurückzutreten. So entkräftet ein EU-Parlamentspräsident gewiss nicht den Vorwurf, sich in die inneren Angelegenheiten der Mitgliedsstaaten einzumischen.

Doch der Parlamentspräsident und die Fraktionschefs - ebenso wie Kommissionspräsident Juncker und Ratspräsident Donald Tusk - sind höchst verärgert über David Cameron. Ihren Frust wollen sie nicht verbergen, so sehr verprellte sie der Bewohner von Downing Street 10: Erst gründete der Chef der Konservativen Partei (Tories) aus Teilen der Europäischen Volkspartei heraus seine eigene, nunmehr drittstärkste Fraktion im EU-Parlament, reduzierte somit den anderen Fraktionen die Personalstellen, Haushaltsmittel und Redezeiten, und nahm auch noch die AfD gegen den ausdrücklichen Wunsch von Angela Merkel auf. Dann liess er sich, auch um seine eigene Macht in London zu festigen, sowohl von den Euro-Skeptikern der Tories als auch - und vor allem - von Nigel Farage und der Unabhängigkeitspartei UkIP zu einem Referendum treiben. Um den Verbleib zu erwirken, machte die EU mit dem sogenannten „Brexit-Deal“ gewisse kleine Zugeständnisse gegenüber London (von denen allerdings jeder wusste, dass sie nur kosmetischer Natur sind, was Camerons Position in der Tat nicht vereinfachte). So verlor Cameron gegen Farage, obwohl er auf den Bonus des Regierungschefs und die logistische Unterstützung aller Regierungsdienststellen bauen konnte, während Farage von Boulevardblättern geschnitten oder aus Talkshows ausgeladen wurde und trotzdem die Parteiapparate mit einer Graswurzelkampagne schlug. Und nach all dem kündigt dieser Cameron auch noch an, nicht postwendend den Austritt in Brüssel zu beantragen, sondern erst im Oktober zurückzutreten und somit die mögliche Eröffnung der Unabhängigkeitsverhandlungen dem nächsten Untermieter von Downing Street 10 zu überlassen? Man könnte neidvoll zugestehen: selbst wenn sie gehen wollen, beeindrucken die Briten durch ihren Pragmatismus. Doch an diesem Freitagmorgen war dieser britische Pragmatismus den Entscheidern im Brüsseler Europaviertel deutlich zu viel.

Überhaupt „Cameron“: Es muss Panik bei den Altparteien im EU-Parlament sein, die zu der  Entscheidung führte, schnellstmöglich eine Sondersitzung des EU-Parlaments einzuberufen, um eine Entschließung zu verabschieden. Denn solch eine Entschließung ist juristisch völlig unverbindlich. Sie soll wohl den britischen Regierungschef und Vorsitzenden der wichtigsten Partei in Großbritannien beeindrucken und politischen Druck aufbauen, damit er umgehend die Scheidungsverhandlungen auslöst. Denn der dafür vorgesehene Artikel 50 des EU-Vertrags sieht nur vor, dass Verhandlungen erst dann begonnen werden können, wenn eine Regierung den Austrittswunsch in Brüssel vorgetragen hat. Die Prozedur sagt jedoch nichts darüber aus, wie viel Zeit zwischen einem nationalen Referendum und dem Antrag auf Scheidungsverhandlungen vergehen muss. Solange der Austrittswunsch nicht notifiziert ist, geht das Leben weiter und die Verhandlungen können nicht beginnen. Es ist also durchaus möglich, und zwar noch eine ganze Weile möglich, mit Großbritannien als Mitgliedsstaat zu leben.

In seinem Presse-Statement stellte der CSU-Politiker Manfred Weber, der die Europäische Volkspartei anführt,  klar: Es war eine britische Entscheidung, von der das „Projekt EU“ nicht betroffen sei. Auch diese Kehrtwende ist ziemlich überraschend, hatten doch die EU-Leader bis kurz vor dem Referendum immer wieder vor den weitreichenden Folgen für das Projekt EU gewarnt. Erst kürzlich, als die Niederländer über einen zukünftigen Beitritt der Ukraine in einem Referendum entscheiden sollten, stilisierte Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker diese Entscheidung zu einer Frage von Leben und Tod. Dann sagten die Niederländer „Nee“ zum Ukraine-Beitritt, im Brüsseler Europa-Viertel rümpfte man die Nase wegen so viel Selbstbestimmtheit, im Plenum in Strasbourg verweigerte die große Koalition eine Aussprache, und alle machten weiter wie zuvor. Die Haltung von CDU/CSU im EU-Parlament ist klar: an Großbritannien soll ein abschreckendes Beispiel konstituiert werden, damit andere Mitgliedsstaaten gar nicht erst auf die Idee kommen, über ihre Zukunft in der EU nachzudenken.

In der Tat kristallisieren sich über den Brexit die politischen Lager, und darunter leiden heute sogar die Umgangsformen. Dass politische Lager unterschiedliche Forderungen stellen, ist Bestandteil von Politik. So forderte der CDU-Außenpolitiker Elmar Brok, dem britischen EU-Kommissar Jonathan Hill umgehend das Portfolio zu entziehen und symbolisch zu einem „Frühstückskommissar ohne Geschäftsbereich“ zu degradieren. Hingegen stieß die Vizechefin der EFDD-Fraktion, Beatrix von Storch (AfD), in ein ganz anderes Horn und forderte im Fernsehsender Phönix den sofortigen Rücktritt von Kommissions-Chef Juncker und Parlamentspräsident Schulz: „Das Volk wurde gefragt und hat entschieden. Die Europäische Union ist als politische Union gescheitert. Juncker und Schulz haben das zu verantworten. Sie müssen zurücktreten.” Ihre Rücktrittsforderung wurde von deutschen Medien aufgegriffen. Vielleicht wurmte das den Fraktionschef der Grünen so sehr, dass er Frau von Storch den Gruß verweigerte, als sich beide gemeinsam den Fragen der BBC stellten? Erst sagte die Co-Chefin der Grünen, Rebecca Harms, den gemeinsamen Auftritt mit Storch grundlos ab. Ihr Ersatz, Philipp Lambert, kam dann grußlos und setzte sich nach dem Fernsehauftritt ebenso grußlos aufs Fahrrad.

Über unmittelbare Auswirkungen auf den institutionellen Alltag wird nun spekuliert. Als sicher gilt, dass die britischen Abgeordneten, Diplomaten und EU-Beamten keinen leichten Stand haben werden. Bei der Vergabe von Ämtern und Berichterstattungen könnten die britischen Abgeordneten künftig weniger oft und prominent bedacht werden. Aber sie bleiben erst einmal Mitglieder, sie müssen sogar den Scheidungsverhandlungen zustimmen. Deswegen gilt als abgemacht, dass sie weiterhin nach Brüssel und Strasbourg kommen werden.

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