Gehlen konnte nicht wissen, wie „prophetisch“ damals schon seine Worte waren. Aber er spürte es wohl und in einem Gespräch mit Theodor Adorno meinte er: „Wissen Sie, ich suche eigentlich in der Wirklichkeit eine honorige Sache, der man dienen kann." Diese honorige Sache liegt heute auf der Hand: Die Verteidigung der Demokratie und damit wahrhaftiger Information. Gehlen würde heute in diesem Sinn einen Vortrag halten über die Medien. Denn die Medien sind es, die eigentlich den Auftrag haben, Wirklichkeit zu vermitteln und den Argumentationsaustausch über die Meinungsgrenzen hinweg zu fördern. Aber statt zu vermitteln wird vielfach verkündet. Ideologien und Meinungen werden propagiert statt sie an Wirklichkeit und Logik zu messen. Das Publikum fragmentiert und lebt in ihren Echo-Kammern. Darin herrscht oft die Ächtung des Andersdenkenden. Deshalb ist auch die Meinungsfreiheit gefährdet und mit ihr die Demokratie. Denn die Demokratie lebt von der Information, von der Logik der Argumente, vom Austausch begründeter Erkenntnisse. Ohne diesen Austausch wird auf Dauer die Demokratie ausgehöhlt.
Fragt man Persönlichkeiten des öffentlichen Diskurses, bekommt man in der Tat Skepsis zu hören. Die Meinungsfreiheit sei nur noch partiell gewährleistet und zwar in den Bereichen, in denen man nicht anecken kann oder die zum breiten Mainstream gehören. Der Medienphilosoph Norbert Bolz etwa meint: „Abweichende Meinungen werden moralisch sanktioniert. Wer nicht mit dem Mainstream schwimmt oder treibt, dessen eigene moralische Integrität wird infrage gestellt, auch wenn das Thema mit Moral nichts zu tun hat. Viele Themen werden nur noch so behandelt“. Als Themen wären da zu nennen das Migrationsproblem, der amerikanische Präsident Trump, der Euro und Europa, die Energiewende. Andere Persönlichkeiten sagen hinter vorgehaltener Hand dasselbe, wollen es aber öffentlich nicht sagen, „um den eigenen politischen Spielraum nicht einzuengen“. In der Tat, anderslautende, mainstreamkonträre Meinungen sind image- oder gar berufsgefährdend.
Es ließe sich einwenden, dass unterschiedliche Meinungen schon immer im Diskurs vorhanden waren und dass dieser Diskurs als veröffentlichte Meinung eben nur beschränkter war, entweder als Meinung am Hofe oder in einem bestimmten geographischen Raum analog zu einem bekannten Grundsatz dann als ejus regio ejus opinio. Von der Herrschaftsmeinung abzuweichen konnte in diesen Zeiten tödlich sein. Heute geht es eher um ein Lebensgefühl oder um die Isolationsfurcht, um das Angenommensein in der Gemeinschaft. Jean Jacques Roussau sah es so: „Der Mensch, das soziale Wesen, ist immer wie nach außen gewendet: Lebensgefühl gewinnt er im Grunde erst durch die Wahrnehmung, was andere von ihm denken“. Deshalb ist die Isolation, das permanente Misstrauen, eine Art Folter, die der Mensch kaum auszuhalten vermag. Und John Locke schrieb: „Wer überhaupt ein menschenähnliches Wesen hat, bringt es nicht fertig, in einer Welt zu leben, in der ihm seine Mitmenschen ständig abweisend und verächtlich begegnen. Diese Last ist zu schwer, als dass ein Mensch sie ertragen könnte“. Deshalb ist es „behaglich in der Majorität des Irrtums zu leben“, wie Goethe meinte, und diese Behaglichkeit verhindert nicht selten, dass man den Sachverhalt hinterfragt oder ihn einfach als wahr annimmt.
Die frühere Umfragekönigin Elisabeth Noelle-Neumann definierte genau in diesem Sinn die öffentliche Meinung als „soziale Haut“, die die Gesellschaft zusammenhalte und dem einzelnen erlaube, die Isolationsfurcht zu überwinden und sich in der Gesellschaft wohl zu fühlen. Noelle-Neumann hat aber in ihrem bekannten Werk „Die Schweigespirale“ auch darauf hingewiesen, dass Mehrheitsmeinungen geändert werden können, indem Persönlichkeiten mit dem besseren Argument aufwarteten. Das ist der Punkt. Dieses bessere Argument wird nicht mehr wahrgenommen, in den Echo-Kammern zieht man es vor, statt Argumente wahr-zunehmen, sie lieber falsch-zunehmen. Oder zu schweigen. Nach einer aktuellen Umfrage des von ihr gegründeten Instituts Allensbach glauben zwei Drittel der Deutschen, dass es heute „ungeschriebene Gesetze gibt, welche Meinungen akzeptabel und welche tabu sind“. Wirklich frei könne man sich nur unter Freunden äußern, bei einigen Themen (58 %) und selbst bei vielen Themen (20 %) müsse man in der Öffentlichkeit sehr vorsichtig sein. Unter dem Strich gilt: Der Raum für Meinungsfreiheit wird kleiner, immer mehr Themen werden zu Tabuzonen (s. Renate Köcher in: FAZ vom 23.5.2019, Grenzen der Freiheit).
Schweigen aber heißt auf die „Enthüllung der Wirklichkeit“ verzichten. Enthüllung der Wirklichkeit – so definierte der Münsteraner Philosoph Josef Pieper die Wahrheit. Der Verzicht auf die Wahrheit ist der Kern der heutigen Krise, schrieb Benedikt XVI noch als Kardinal Ratzinger. Er sah deshalb ganz unsentimental das Christentum als eine vernünftige Religion, ja die "am meisten universale und rationale religiöse Kultur". Die Kirchen erinnern - oder sollten es tun - die Demokratie an ihre Prinzipien, an die Hierarchie der Werte, insbesondere an die Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Sie seien das Gewissen des demokratischen Staates, der die Wahrheit nicht wie Pilatus einfach suspendieren dürfe. Tempi passati. Wir leben in einer Zeit des Relativismus und des Konstruktivismus, der die Wahrheit im traditionellen Sinn, nämlich als Übereinstimmung des Denkens mit den Dingen (adaequatio intellectus et rei), wie Thomas von Aquin sie definierte, aufhebt und verneint. Es ist eine Zeit, in der man in der Öffentlichkeit lieber von Fiktionen redet als von Fakten. Es ist eine Zeit, in der nicht traditionelle Werte (z.B. Würde, Wahrheit, Liebe) den Primat im Diskurs beanspruchen können, sondern das Wohlbefinden im lauen Strom der Mehrheitsmeinung. Ratzinger hat später als Papst Benedikt XVI. in einer Grußbotschaft anlässlich des zweiten internationalen Kongresses über "Frieden und Toleranz“ in Istanbul am 8. November 2007 auch auf die soziale und politische Bedeutung von Werten hingewiesen, als er schrieb: „Ohne eine objektive sittliche Verankerung kann auch die Demokratie keinen stabilen Frieden sicherstellen".
Auch die Wissenschaft, die doch von der Empirie lebt(e), ist nicht mehr frei von Tabuzonen. Der Warnruf des Präsidenten des Deutschen Hochschulverbandes (DHV) Bernhard Kempen, der immerhin 31.000 Wissenschaftler vertritt und sich vehement gegen „Denk-und Sprechverbote“ an Universitäten ausgesprochen hat, fordert ganz konkret: „Die freie Debattenkultur muss verteidigt werden.“ Wörtlich heißt es in einer Presseerklärung des DHV vom 10. April 2019: „Die Toleranz gegenüber anderen Meinungen sinkt. Das hat auch Auswirkungen auf die Debattenkultur an Universitäten ... Im Streben nach Rücksichtnahme auf weniger privilegiert scheinende gesellschaftliche Gruppierungen forderten einige Akteure das strikte Einhalten von ‚Political Correctness‘. Parallel dazu wachse mit dem Erstarken politischer Ränder das Erregungspotenzial … Differenzen zu Andersdenkenden sind im argumentativen Streit auszutragen – nicht mit Boykott, Bashing, Mobbing oder gar Gewalt“. Die Universitäten sollten, so Kempen, alle vom Bundesverfassungsgericht nicht als verfassungswidrig eingestuften Parteien zu Wort kommen lassen. Das bedeute in einem freiheitlichen Rechtsstaat, dass die Äußerung einer nicht verfassungswidrigen, aber politisch unerwünschten Meinung nicht nur geschützt, sondern notfalls auch erst ermöglicht werden müsse. Das Licht Voltaires scheint hier auf.
Anlass für solche Warnrufe sind die Machenschaften zum Beispiel gegen die Professoren Jörg Baberowski und Werner Patzelt. Baberowski ist hochkarätiger Historiker und Diktaturforscher an der Humboldt-Universität Berlin. Seit geraumer Zeit ist er, ohne dass der Uni-Präsident einschreiten würde, einem üblen Mobbing linker Vereinigungen ausgesetzt. Patzelt ist Politologe an der TU Dresden. Weil er über Pegida und die AfD geforscht hat und weil er die CDU berät, hat ihm die Universität Dresden eine Seniorenprofessur verweigert. Betroffen sind aber auch viele Studenten, die in Examensarbeiten eine schlechtere Zensur bekommen, wenn sie nicht „gendergerecht“ schreiben. Ein weiteres Beispiel ist die Frankfurter Islam-Expertin Susanne Schröter. Gegen sie wurde ein Kesseltreiben veranstaltet, weil sie am 8. Mai eine Konferenz zum Thema „Das islamische Kopftuch – Symbol der Würde oder der Unterdrückung?“ veranstaltete. Prof. Dr. Susanne Schröter ist Direktorin des „Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam (FFGI)“ der Universität Frankfurt und bekannt als mutige Frau, die den Schalmeienklängen der Islamophilen nicht aufsitzt. Als Referenten für den 8. Mai hatte sie unter anderem Alice Schwarzer und Necla Kelek eingeladen. Einigen „Studierenden“ passte das nicht. Sie forderten: „Wir Studierenden …. sind schockiert, dass Prof. Dr. Susanne Schröter eine Konferenz … stattfinden lassen kann ….Wir können das nicht weiter dulden und fordern deshalb, dass die Veranstaltung ….. abgesagt wird und Prof. Dr. Susanne Schröter ihrer Position enthoben wird.“
Die Liste der Beispiele ließe sich leicht verlängern. Erstaunlich ist weniger das Leisetreten in der Politik, als vielmehr das der Kirchen. Denn der Kampf um Wahrheit im öffentlichen Diskurs gehört eigentlich zu ihren ureigenen Aufgaben. Sicher, in der pluralistischen Welt ist das Grundrecht der Meinungsfreiheit ein "schlechthin konstituierendes" Element des demokratischen Staatsgefüges, wie das Bundesverfassungsgericht im Januar 1958 schon ausdrücklich festgestellt hat; beim Recht der Gegendarstellung zum Beispiel spielt es in den meisten Landespressegesetzen in Deutschland keine Rolle, ob die Gegenaussage wahr ist, also der Wirklichkeit entspricht oder nicht. Aber dieses Grundrecht wird durch Ächtung einem wachsenden Teil der Wähler und Politiker verweigert. Bezeichnend war jüngst die Diskussion um die Talk-Sendung „hart aber fair“ zu rechter Gewalt, weil Moderator Frank Plasberg einen AfD-Politiker eingeladen und nicht ständig verurteilt, sondern fair behandelt hat.
Josef Isensee spricht von „moralisierendem Opportunismus“, Herrmann Lübbe in seinem Essay „Politischer Moralismus“ vom „Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft. Auch das ist nicht neu. Gustave le Bon, der Vater der Massenpsychologie, hat das Phänomen vor mehr als 110 Jahren in seinem Standardwerk „Die Psychologie der Massen“ bereits beschrieben. In der Masse, so der Gelehrte, „gilt die Forderung mehr als die Vernunft, zählt das Prestige mehr als die Kompetenz, wirkt das Bild mehr als die Idee, hat die Behauptung mehr Gewicht als der Beweis und verbreitet sich ein Glaube mehr durch Ansteckung denn durch Überzeugung“. Das ist der Weg in die Diktatur eines geistigen Proletariats. Es ist auch der Weg von der liberalen Demokratie in den Abgrund des Nihilismus. Dieser Weg in den Nihilismus ist mit guten Vorsätzen gepflastert, wie Nietzsche schon meinte, und heute würde man die guten Vorsätze mit den Begriffen „politisch korrekt“ und tolerant übersetzen. Nietzsche hielt die Toleranz für eines jener „kaschierenden Prunkworte“, die das doppelte Maß der Bewertung anzeigen. In der Tat: Toleranz gehört zum persönlichen Tugend-Baukasten der neuen Jakobiner. Toleranz ist nach ihren Maßstäben insbesondere gegenüber dem Islam geboten, auch gegenüber ethischen Einstellungen zum Leben, zum Beispiel bei der Abtreibung. Ausgenommen von der Toleranzpflicht sind die Lebensschützer und die „Familienschützer“, sofern sie gegen den Mainstream des Denkens verstoßen, der der Wirtschaft Vorfahrt einräumt vor der Familie und dem Leben.
Die Anhänger des modernen Toleranzbegriffs berufen sich gern auf die eigene Meinungsfreiheit und – das ist die höhere Form der Toleranz – auf ein Recht auf Irrtum. Hier fängt die relativistische Verirrung an. Es gibt kein Recht auf Irrtum. Es gibt nur ein Recht auf eine persönliche Meinung, die allerdings irrig sein kann. Für dieses Recht hat sich schon Voltaire ziemlich stark gemacht. Nur: Wenn diese Meinung als Irrtum erkannt ist, dann reduziert sich das Recht auf Irrtum lediglich auf das Recht der persönlichen Freiheit, an einen Irrtum glauben zu wollen. Das ist de facto die Freiheit zur Lüge, das Nein zur Wahrheit. Auch diese Freiheit hat jeder Mensch. Aber Toleranz bedeutet nicht, ebenfalls nein zur Wahrheit sagen zu müssen. Das Nein zum Irrtum kann durchaus einhergehen mit einem Ja zum Menschen und seiner Freiheit. Toleranz gilt unbeschränkt nur der Person und ihrer Freiheit, also ihrer Würde. Die Person und ihre Würde sind unantastbar, nicht der Irrtum. Darin ruht auch das Geheimnis der Feindesliebe.
Über diesen Sachverhalt hat die zivilisierte Menschheit immer schon nachgedacht. Sie hat auch immer differenziert zwischen Person und Sache, zwischen Freiheit und Wahrheit, zwischen Toleranz und Irrtum. Wahrheit und Irrtum sind seinsmäßige Begriffe, Toleranz und Würde dagegen sind an die Person gebunden. Der Irrtum, die Lüge, ist nicht zu tolerieren, die Person aber verliert nie ihre Würde, sie ist immer zu tolerieren. Darin liegt gerade die Größe des Christentums, dass es die Person über den Irrtum stellt. Die Christen sind hier stärker gefordert, bloßes Zurückhalten und Abwarten reicht nicht mehr aus. Kleinmut ist kein Zeichen von Klugheit, er schadet. Leo XIII. schrieb in der Enzyklika über die christliche Weisheit (Sapientiae Christianae, 10. Januar 1890): „Nichts ermutigt die Kühnheit der Bösen mehr als die Schwäche der Guten.“ Um es deutlicher zu sagen: Die Feigheit der angeblich Guten. In Dantes Göttlicher Komödie sitzen die Feigen übrigens mit den Lauen in der Hölle.
Die Wahrheit braucht auch heute ihre Propheten und Verkünder. Man muss die Wahrheit auch wollen, meinte Max Weber. Die Politik aber lenkt nicht mehr in diesem Sinn. Es fehlen die werte-stiftenden Orientierungsmarken, und – so bemerkt der Verfassungsrichter Udo di Fabio in seinem Buch („Gewissen, Glaube, Religion“) – wo der Glaube versandet, verliert auch das Gewissen an Wirkkraft, „und zwar als eigenwillige, sittliche Steuerungsinstanz, zu finden in jedem einzelnen Menschen. Damit schwindet eine Voraussetzung dafür, dass die lenkenden Zügel und die Kontrollen der kollektiven Mächte bis auf ein Minimum zurückgefahren werden können und persönliche Freiheit herrsche“. Die persönliche Freiheit ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen stehen Glaube und Gewissen. Das ist die Münze, mit der die Gesellschaft ihren inneren Halt bewertet. Wer diese Währung entwertet durch massenhysterische Diffamation und Ächtung, der riskiert das Ende der Toleranz und damit den Zerfall der Gesellschaft.
Das ist eine Zukunftsfrage. Ratzinger hat sie schon vor 30 Jahren nahezu prophetisch behandelt in seinem Buch Auf Christus schauen – Einübung in Glaube, Hoffnung, Liebe. Dort schreibt er nach einer Betrachtung über Schein und Wirklichkeit, über die Diktatur der Meinungen und die Sklaverei der Unwahrheit, nachdem Glaube und Gottesfurcht verloren gegangen sind: „Vielleicht fällt es uns schwer, das Wort der Schrift praktisch auf unser Leben zu beziehen, dass Gottesfurcht der Anfang der Weisheit ist. Aber wenn wir das Wort umkehren, kommt sein praktischer Gehalt schnell zum Vorschein: Das Fehlen der Gottesfurcht ist der Anfang aller Torheit. Wo die Gottesfurcht nicht mehr herrscht, die im Inneren der Gottesliebe ihren rechten Ort hat, verliert der Mensch sein Maß, die Menschenfurcht tritt das Regiment über ihn an, es kommt zur Idolatrie des Erscheinenden, und so steht jeder Torheit die Tür weit offen“. Wir stehen an der Schwelle dieser Tür. Oder um es mit George Orwell zu sagen: „Je weiter sich eine Gesellschaft von der Wahrheit entfernt, desto mehr wird sie jene hassen, die sie aussprechen“. Natürlich ist es nicht zu spät, die Türen der Torheit zu schließen. Es bedarf allerdings des Mutes, im Diskurs auch wieder über Wahrheit zu reden – wenn sich die Gelegenheit bietet.