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Den Sozialstaatsabbau hat es nie gegeben: Das Klischee von der "neoliberalen Wende" - Schuldenmacherei zulasten der Jüngeren

(lifePR) (Sankt Augustin, )
Rückwärtsgewandt zu sein, Sehnsucht nach alten Zeiten zu haben, das sind vernichtende Vorwürfe in einer auf "positives Denken" geeichten Gesellschaft. Daher haben sie seit langem ihren festen Platz im Arsenal der Begriffswaffen, mit denen "Progressive" ihre Gegner bekämpfen. Aber dieser Vorwurf kann auf sie zurückfallen, wie ein analytischer Beitrag des Zeithistorikers Rödder vorführt. Der Mainzer Professor sieht bei "linken" Publizisten eine Sehnsucht nach der "alten Bundesrepublik" vor 1989, in der es mehr Gleichheit und Gerechtigkeit gegeben habe als in der - durch den "Neoliberalismus" verdorbenen - Gegenwart (1).

Der nostalgische Rückblick steht für einen bemerkenswerten Perspektivwechsel: Zu ihren Lebzeiten war diese Republik bei "Progressiven" alles andere als beliebt, galt vielmehr als "restaurativ", wenn nicht gar faschistoid. Erst durch die "68er" sei der Autoritarismus des Adenauer-Staats überwunden worden - so die oft erzählte Legende. Scharfsinnigere Zeitdiagnostiker erkannten schon früh, dass die "Fundamentalliberalisierung" (J. Habermas) ein Wohlstandsphänomen war, ermöglicht durch Massenkonsum und Technologie: Namentlich die "sexuelle Revolution" wäre ohne Automobil, Pille, Film und Fernsehen als Werbemedien für neue Lebensstile kaum vorstellbar, ja unmöglich gewesen (2). Später erkannten auch "progressive" Historiker diese Zusammenhänge: Rückblickend betrachten sie die Nachkriegszeit bis zur ersten Ölkrise 1973 als "Goldenes Zeitalter", das auch den unteren Schichten steigenden Wohlstand und damit sozialen Ausgleich brachte (3). Fortschrittsgarant war und ist für sie ein starker Wohlfahrtsstaat, der die Gesellschaft steuert und ihre Ressourcen umverteilt (4).

Mit diesem Wohlfahrtsstaat habe, so behaupten sie, seit den 1970er Jahren der "Neoliberalismus" gebrochen, als deren Exponenten Margret Thatcher und Ronald Reagan sowie in Deutschland Otto Graf Lambsdorff (FDP) gelten. Inspiriert von den Lehren Milton Friedmans ("Chicago School") hätten diese Politiker eine Politik der Deregulierung, des Sozialstaatsabbaus und der "Entsolidarisierung" durchgesetzt (5). Seit dem Kollaps der Finanzmärkte 2008 beherrscht diese Sicht den öffentlichen Diskurs; ihren Wahrheitsgehalt hinterfragt kaum noch jemand. Dabei ist der äußerst dürftig, denn den behaupteten "Sozialstaatsabbau" hat es nie gegeben. Im Gegenteil: Seit 1980 sind in der OECD-Welt die Sozialausgaben gestiegen und zwar auch in den "neoliberalen" angelsächsischen Ländern: In Großbritannien wuchs der Anteil der Sozialausgaben von 16,5% (1980) auf 23,8% (2013) des BIP, in den USA von 13% auf 20%. Das Niveau der Sozialausgaben ist damit noch immer niedriger als in den Niederlanden (24,3%), Deutschland (26,2%) oder Schweden (28,6%). Der Rückstand der Briten und Amerikaner hat sich aber verringert, denn die Sozialausgaben sind - trotz Thatcher und Reagan - stärker gestiegen als in Nordeuropa. Relativ konstant geblieben sind die Sozialausgaben in Schweden, das stets als Mustersozialstaat galt. Inzwischen ist die Sozialstaatsquote in Schweden aber deutlich niedriger als in Frankreich (33%), das hier an der Weltspitze steht (6).

Bemerkenswert hoch sind die Sozialausgaben auch in Italien (28,4%), das gemeinsam mit Frankreich gegen den (vermeintlichen) Sparkurs in der EU kämpft, um noch mehr Schulden machen zu können (7). Dabei wachsen die Schulden in Europa ohnehin schon unaufhörlich, wofür steigende Sozialausgaben eine zentrale Ursache sind (8). Die steigenden Soziallasten sind ihrerseits durch die demografische Alterung bedingt, also dadurch, dass immer weniger Jüngere immer mehr Ältere versorgen müssen. Das führt zu höheren Lasten für die Jüngeren, die außerdem auch die Zeche für die Schulden zu bezahlen haben. Gegen diese Zumutungen kann sich die jüngere Generation politisch kaum wehren, denn bei Wahlen zählen die Älteren, die schon heute die Mehrheit der Wähler bilden (9). Ihre Interessen bestimmen die Politik, wie die "Rente mit 63" zeigt. Wirklich progressive Gesellschaftskritiker müssten sich weniger gegen einen vermeintlichen "neoliberalen Sozialabbau", sondern vielmehr gegen eine zukunftsvergessene und reaktionäre Schuldenmacherei richten.

(1) Vgl.: Andreas Rödder: Die neue Liebe der Linken zur alten BRD, FAZ vom 05.9.2014, http://www.faz.net/....
(2) Vgl.: Stefan Fuchs: Gesellschaft ohne Kinder. Woran die neue Familienpolitik scheitert, Wiesbaden 2014, S. 228 ff. Grundlegend für diese Thematik: Daniel Bell: Die Zukunft der westlichen Welt - Kultur und Technologie im Widerstreit, Frankfurt am Main 1976.
(3) Ein Vordenker dieser Perspektive war der marxistische Historiker Eric Hobsbawm mit seinem Werk "Das Zeitalter der Extreme - Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts" (München 1995).
(4) Andreas Rödder: Die neue Liebe der Linken zur alten BRD, a.a.O.
(5) Eingehender hierzu: Stefan Fuchs: Rezension "Solidarisch, Frei, "Rheinisch", Kapitalistisch - Über Fundamente und Reformdiskurse des Sozialstaats, in: Die Politische Meinung, 59. Jg., Januar/Februar 2014, S. 120-124.
(6) Siehe hierzu: Steigende Sozialausgaben in der OECD-Welt: Frankreich mit höchstem Ausgabenvolumen (Abbildung).
(7) Zur Sozialausgabenquote ebd. Zur politischen Diskussion, in der sich die Position Italien und Frankreichs durchzusetzen scheint: http://www.welt.de/....
(8) Zur Entwicklung von Schulden und Sozialausgaben in der Eurozone: i-DAF Nachricht der Woche, 2013 / 30-31, 01.08.2013, Nachhaltig gespart hat vor allem Deutschland: Staatsverschuldung, Sozialausgaben und die Eurokrise, http://www.i-daf.org/...
(9) Siehe hierzu: Altersstruktur der Wähler in Deutschland (Abbildung).
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