In dieser kurzen Perspektive über die letzten Jahrzehnte erscheint die Debatte um die Oma als „Umwelt-und Nazi-Sau“ nur wie der Blick durch das Monokel kleinkariert-verbissener Ideologen, die offenbar gar nicht merken, wie sehr ihre Haltung dem eigenen System schadet. Wie gerechtfertigt und politisch vermittelbar ist es, jetzt eine Beitragserhöhung von einem alternden Publikum zu verlangen? Unabhängig davon: Die ganze Diskussion offenbart den eruptiv-pubertären, bisweilen auch totalitären Charakter der Umwelthysteriker ebenso wie den rechthaberisch-brusttrommelnden Gestus der Gegner des öffentlich-rechtlichen Systems. Von Diskussion oder Debatte kann man eigentlich nicht reden (Bemerkung am Rande: Was ist eigentlich mit den Opas?) Ein Austausch findet jedenfalls nicht statt. Dabei wäre es eine goldene Gelegenheit, über die missglückte und beleidigende Sendung hinaus, bei der es mit einer Abmahnung der Wortführer und Verantwortlichen vielleicht schon getan wäre, mal die Fragen zu diskutieren, wie es um die Generationengerechtigkeit steht oder was die Alten für diese Gesellschaft nicht nur geleistet haben, sondern auch heute noch leisten. Und wie ihre Zukunft in diesem Gemeinwesen aussehen soll. Dafür freilich bräuchte es einen kühlen Kopf, den Ideologen bekannterweise nur selten haben. Für eine Annäherung an diese Fragen wäre der Rückblick auf die letzten Jahrzehnte schon sinnvoll.
Dieser Rückblick findet nur scheuklappenmäßig statt. Allen oben genannten Phasen ist zum Beispiel gemeinsam, dass man die Alten medial meist als Störfaktoren und Objekte sieht: Als Revolutionäre, als anspruchslose oder zu anspruchsvolle Konsumenten, als Pflegefälle. Das ist ein Preis der medialen Single-Gesellschaft, wobei natürlich zu sagen ist, dass auch Singles oder Kinderlose Familienmenschen sein können und es vielfach auch sind. Das mediale Bild aber prägen die Ego-Typen. Nur ganz wenige Autoren sehen die Großeltern als handelnde Personen, die der Familie und Gesellschaft etwas geben. Das hat auch zu tun mit dem verengten Blick der Gesellschaft auf Produktionskraft und Effizienz. Das hat aber auch mit dem Blick aufs Ganze, mit dem Menschenbild an sich zu tun. Eine ebenso tröstliche wie herrliche Ausnahme ist da Christa Meves mit ihrem „Großeltern-ABC“, das wie viele ihrer Bücher vom Mainstream unbemerkt in immer neuen Auflagen erschienen und von Eltern wie Großeltern gleichermaßen mit Gewinn zu lesen ist. Man erfährt Charakteristisches über den Großvater und die Großmutter, wie man als solche Geschichten erzählt, Heimat gibt, Orientierung vermittelt ohne sich einzumischen, wie man Quengeleien abweist und Verwöhnung vermeidet. Kostprobe bei T wie Trösten: „Großeltern sind als Tröster ganz besonders gut geeignet, denn ihre lange Lebenserfahrung hat schließlich zur Folge gehabt, dass ihnen nichts Menschliches fremd blieb. Erfolgreiches Trösten setzt voraus, dass es dem Tröster gelingt, dem Trostbedürftigen die Hoffnung zu vermitteln, dass sein elender Zustand vorübergehen wird. Und gerade diese Erfahrung haben ältere Menschen, die sich ihren unverdrossenen Lebensmut bewahrten, immer wieder gemacht. Sie wissen auch längst, dass es unsinnig ist, eine Schwierigkeit zu eilig, zu rasch wegreden und wegpusten zu wollen. Sie wissen, dass auch der Schmerz seine Zeit braucht, dass er zunächst einmal angenommen sein will, dass der gute Tröster also zunächst nichts weiter schenkt als dieses eine: Nähe, Mitsein, Wärme, Zweisamkeit.“
Das ist eine Leistung, die leben hilft. Es sind in der Regel diese Leistungen, die die Gesellschaft nicht anerkennt. Auf einer Karikatur sagt eine ältere Dame mit dem Antrag auf Rente in der Hand einem leer und gelangweilt an ihr vorbeischauendem Beamten/Angestellten mit Ärmelschoner: „Erst hab ich meine vier Kinder großgezogen, dann die drei Enkel, dann hab ich mich um Obdachlose und Arme gekümmert und schließlich meinen alten Vater bis zuletzt gepflegt“. Die Antwort des Beamten: „Sie haben also nicht gearbeitet“. Die Karikatur ist dramatisch treffend. Sie illustriert die Schieflage des Leistungs- und Sozialsystems und veranschaulicht die Diskriminierung der familiär geleisteten Sorgearbeit in unserem lohnabhängigen Erwerbssystem. Diese Diskriminierung verweigert die Anerkennung einer Leistung, ohne die die Gesellschaft nicht leben kann. Die Mütter, auch Großmütter sind es vor allem, die die Voraussetzungen schaffen, von der der Staat lebt und die er selber nicht schaffen kann. Der größte Teil der Bruttowertschöpfung wird in Deutschland unbezahlt erbracht – in Privathaushalten, in, wie Norbert Bolz das nennt, „der Welt der Sorge“. Diese Welt zählt nicht, weil kein Geld fließt. „Weder für die Wirtschaft noch für den Sozialstaat ist Elternschaft ein relevanter Faktor. Sozialstaatliche Leistungen kann man aufgrund von Erwerbsarbeit beanspruchen – nicht aber aufgrund von Erziehungsleistungen. Erwerbsarbeit ist der gesellschaftliche Attraktor, der alles andere strukturiert“.
Wir leben in einer ökonomisierten, arbeitshysterischen Gesellschaft. Fast alles dreht sich um Produktion und Geldverdienen – oder das Gegenteil, Genuss und Freizeitgestaltung. Oder neuerdings um Umweltthemen, wobei wahllos Erderwärmung, malthusianische Bevölkerungsfragen (Mutter Erde statt Muttersein – Nein zum Kind aus ökologischer Verantwortung), CO2-Wirkungen und Plastikvermüllung in einen ideologischen Topf geworfen und gegen die Produktionswirtschaft in Stellung gebracht werden. Der Mensch und seine Innovationskraft bleiben links liegen. Diese anhaltende Mißachtung der Menschlichkeit, der Produktion von Humanvermögen, an der die Älteren mit ihrer Erfahrung und Weisheit einen hohen Anteil haben, kann aber nicht nur Wirtschaft und Wohlstand, sondern auch die Demokratie selbst gefährden. Schon die alten Griechen sahen diese Zusammenhänge, der Historiker Polybios hat es im zweiten Jahrhundert vor Christus so formuliert: Ein Staat sei dann keine Demokratie, wenn in ihm „eine beliebige Masse Herr ist, zu tun, was ihr beliebt“. Im Gegenteil sei die „Bezeichnung Demokratie da und dann am Platze“, wo man „Vater und Mutter ehrt, vor einem Älteren Respekt hat, den Gesetzen gehorcht“.
In der Psychologie und in den Erziehungswissenschaften weiß man heute, dass Großeltern eine besondere Rolle spielen. Sie haben ein anderes Verständnis für Zeit und kommunizieren anders. Der amerikanische Jugendpsychotherapeut Arthur Kornhauser siedelt die Bedeutung der Großeltern ganz oben an: „Sie sind wie lebende Bücher und Familienarchive. Sie vermitteln Erfahrung und Werte. In der Kinder-Hierarchie der Zuneigung stehen nur noch die Eltern über Oma und Opa“. Die Großeltern und ihre Beziehungs-und Bindungsfähigkeiten sollten heute neu entdeckt werden. Großväter sind große Väter, Großmütter große Mütter. Sie sind das Auge der familiären Geschichte, das Archiv der Familie, das den atemlos lauschenden Enkeln Geschichten von Mama und Papa erzählt, als die noch klein waren. Sie sind die Hand, die den Enkeln Weiten und Perspektiven zeigt, das Herz, das in Ruhe staunen lässt. Aus solchen Funktionen und Fähigkeiten im Herbst des Lebens erwächst eine Souveränität, die die väterliche und mütterliche Berufung sozusagen vergoldet, wie pralle Ähren in spätsommerlicher Sonne. Der unmittelbaren Verantwortung enthoben, können Großmütter und Großväter bedingungsloser und freier auf die wesentlichen Beziehungen und Ziele des Lebens hinweisen. Denn das ist es, worauf es letztlich bei der Suche nach dem gelingenden Leben ankommt: Auf die Beziehungen, die man hat, pflegt, im Herzen trägt. Deshalb ist „Freundschaft das Nötigste im Leben“ (Aristoteles) und gehört zum rückblickenden Bedauern von Sterbenden, dass man nicht genügend Zeit und Kommunikation mit den Liebsten verbracht haben.
All das gehört zum vergessenen Teil des christlichen Menschenbildes. Apropos: Der christliche Glaube hat in Osteuropa und auch in Russland überlebt, weil die Großeltern ihn an ihre Enkel weitergegeben haben. In der immer schneller ins Heidentum versinkenden Welt von heute kommt den Großeltern gerade hier eine besondere Bedeutung zu. Sie sollen sich nicht in die Erziehung einmischen, aber sie können die Eltern auch hier entlasten – und sogar ergänzen. Wie immer zählt vor allem das Beispiel. Das Bild der betenden Großmutter, des knieenden Großvaters gräbt sich ins Herz und ersetzt viele Lektionen.
Hinzu kommt, dass viele Großeltern gern und häufig auf ihre Enkel aufpassen, sie betreuen, mit ihnen spielen und Zeit mit ihnen verbringen. Nach Angaben des Deutschen Zentrums für Altersfragen (DZA) betreut fast jeder fünfte Deutsche im Alter zwischen 45 und 85 Jahren regelmäßig seine Enkelkinder und die Senioren wenden dafür immerhin 35 Stunden im Monat auf. Da die emotionalen Bedürfnisse von Kindern nicht planbar sind, sondern schlicht Präsenz erfordern, sind Konzepte wie „quality time“ zwar arbeitgeberfreundlich und an die Produktionsgesellschaft angepasst, aber auch „wieder eine Art, den Effizienzkult vom Büro auf das Zuhause zu übertragen“ wie Arlie Russel Hochschild in ihrem Buch „Keine Zeit“ schreibt. Und sie sind ziemlich realitätsfern und familienfremd. Gerade sie zeigen die wachsende Bedeutung der Großeltern. Oma und Opa lassen sich vom Effizienzkult jedenfalls nicht beeindrucken.
Viele, ja die Mehrheit der Rentner und Rentnerinnen sind Familienmenschen, mithin der Jugend zugeneigt. Sie helfen ihren Kindern. Sie schenken Zeit und Geld. Das wird in keiner Statistik festgehalten, ist also für Politiker und Medienleute nicht erkennbar und deshalb vielfach auch nicht existent oder relevant. Seriöse Schätzungen des DZA gehen davon aus, dass von der älteren Generation jährlich mehr als 30 Milliarden Euro zur jüngeren fließen. Das ist ein stiller Transfer, ein Transfer der Liebe und Solidarität, ohne den die Zahl der jungen Hartz-4-Empfänger noch mehr explodieren würde.
Die Familie lebt, es gibt sie nach wie vor, die immer wieder totgesagte Familie, auch die mit drei Generationen, weniger häufig als früher unter einem Dach aber doch in derselben Stadt. Im politisch-medialen Establishment allerdings wird sie seltener, schon weil dort, bei Journalisten und Politikern, nachweislich die Kinder fehlen und dieses Establishment schafft die veröffentlichte Meinung und bestimmt so den Eindruck von der Gegensätzlichkeit oder gar einem Krieg der Generationen.
Es handelt sich letztlich um eine alte Dichotomie. Es geht um die Gestaltung der Gesellschaft als solidarische oder als repressive. Das ist die Alternative der Zukunft: Eine repressive Gesellschaft mit der Kultur des Todes, der Ich-Mentalität und dem Diktat einer Ideologie oder eine solidarische Gesellschaft mit freundschaftlichen Formen des Zusammenlebens der Generationen, zu der auch die argumentative Auseinandersetzung gehören kann. Die Demographie spitzt diese Alternative immer schärfer zu. Wer sie vertagt auf die Zeit nach der Sintflut, kann schnell von derselben überrascht werden. Deshalb ist es demographisch sicher schon „dreißig Jahre nach zwölf“ (Herwig Birg), aber menschlich gesehen höchste Zeit für die Liebe. Teilhard de Chardin hat Mitte des vergangenen Jahrhunderts vorhergesagt, dass die Menschen eines Tages lernen würden, die Energien der Liebe nutzbar zu machen und dass dies ein ebenso entscheidender Entwicklungsschritt in der Menschheitsgeschichte sein werde wie die Entdeckung des Feuers. Diese Entdeckung steht noch aus. Die Weisheit der Alten könnte den Blick dafür schärfen.