Halten wir aber EU und Europa auseinander. Europa ist eigentlich kein geographischer Begriff mehr, wie er dies bei Herodot (484 bis 424 v. Chr.) war – damals als Bezeichnung für die Länder um das Mittelmeer. Kulturell, ideell aber ist das, was man mit Europa verbindet, global, wir finden es von den atlantischen Inseln bis nach Sibirien, von Australien bis Island und von Chile bis zu den Philippinen. Zu behaupten, wenn der Euro scheitere, dann scheitere Europa, ist jedenfalls eine völlig unhistorische Aussage, die nur von jemandem stammen kann, der keine historische Unterkellerung hat.
Es geht um das ideelle Band Europas. Dieses hatten die Begründer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Auge. Für Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Robert Schumann, Jean Monnet ging es um Europas Seele. Die vier fanden zueinander aufgrund ihrer gemeinsamen christlichen Überzeugungen und nicht zuletzt im Zeichen der Versöhnung nach dem 2. Weltkrieg. Dieser Anfangsenthusiasmus ist verblasst.
Europa ist heute von innen bedroht: von seinem Werterelativismus, vom mangelnden Konsens im Umgang mit Migrationsbewegungen, von seinen Selbstzweifeln. Und nun schrumpft Europa. Seine Fertilitätsrate liegt derzeit bei 1,4 (die notwendige Reproduktionsrate wäre 2,2). Zudem stecken wir inmitten einer Überalterung. Europas Vitalität scheint erschöpft. Folge: Während um 1900 rund ein Drittel der Weltbevölkerung europäischstämmig war (rund 550 Millionen von 1,6 Milliarden), beträgt deren Anteil an der Weltbevölkerung heute noch 12 Prozent, im Jahre 2050 wird er bei nur noch 6 Prozent liegen. Das hat schleichend eine dramatische Minderung des europäischen Einflusses auf das Geschehen in der Welt zur Folge. Zugleich erleben wir in Teilen einen Hyperindividualismus und einen dramatischen Funktionsverlust der Familie. Womit übrigens eine Institution bedroht ist, die in die Uranfänge der Menschheit zurückreicht. Dass man Vater und Mutter ehren soll, ist nicht nur ein Gebot des Alten Testaments, sondern Menschheitsüberlieferung.
Angesichts dieser Lage gilt es, über sieben Thesen nachzudenken.
1. Europa ist gewachsener Wertekosmos.
Vergessen wir nicht: Ohne Europas Wertekosmos und Leitkultur gäbe es keine universell geltenden Bürger- und Menschenrechte. Der frühere griechische Staatspräsident Konstantinos Karamanlis (+1995) hat das europäische Gemeingut 1978 unnachahmlich so beschrieben: Europäische Kultur ist die Synthese des griechischen, römischen und christlichen Geistes. Zu dieser Synthese hat der griechische Geist die Idee der Freiheit, der Wahrheit und der Schönheit beigetragen; der römische Geist die Idee des Staates und des Rechts und das Christentum den Glauben und die Liebe.“
Man könnte auch sagen: Europäischer Geist zeigt sich in einer „Ökumene“ aus Judentum, griechischer und römischer Antike sowie Christentum bzw. geographisch verortet aus Jerusalem, Athen, Rom bzw. Golgatha, Akropolis und Kapitol. Vor diesem Hintergrund hat sich in mehr als 2000 Jahren Geschichte das "Europäische" herauskristallisiert. Dazu gehören seit der Antike zum Beispiel der Erkenntnisdrang mit dem Ziel einer Welterklärung im Logos anstelle einer Weltdeutung im Mythos; das Christentum mit seinen Werten sowie mit den Kirchen als Bildungs- und Kulturträgern und als karitativen Einrichtungen; die Aufklärung mit dem Verzicht des Staates auf transzendente Kompetenz sowie mit der Entstehung der ersten modernen Demokratie in den USA (1776).
2. Europa muss christlich geprägt sein, oder es wird nicht sein.
Die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder hatten mit Gott ihre Probleme. 2004 konnten sie sich nicht auf einen Gottesbezug im Entwurf einer Europäischen Verfassung einigen. An die Stelle der Verfassung trat später der „Vertrag von Lissabon“. Das Ergebnis war ein Kompromiss ohne Gottesbezug. Es wird nur auf das „kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas Bezug genommen. Ein dezidiert christlicher Bezug fehlt. Hierzu Dostojewski der sagte: Ist Gott erst tot, dann ist alles erlaubt. Oder: „Wo keine Götter sind, walten Gespenster“, mahnt Novalis in seinem Aufsatz ‚Die Christenheit oder Europa’ von 1799.
Es geht aber schon darum, wie christliche Symbole, Bräuche, Traditionen aus falsch verstandener Toleranz zurückgenommen werden. Ein besonders unrühmliches Beispiel war das Auftreten der obersten Repräsentanten der christlichen Kirchen Deutschlands ohne Bischofskreuz auf dem Tempelberg. Papst Benedikt XVI. hat hingegen auf das Kreuz 2006 bei seinem Besuch der Blauen Moschee nicht verzichtet. Oder weitere Beispiele: Ende 2010 wurde in millionenfacher Auflage ein EU-Kalender an Schulen verteilt; sämtliche christlichen Feiertage fehlten. In vielen Schulen sind keine christlichen Weihnachtslieder mehr erwünscht. In Kitas findet der „Laternen-Umzug“ „kultursensibel“ ohne St. Martin statt. Dazu passt - zu Ostern - die Werbung der Buchkette Thalia zum „Hasenfest“ („Die spannendsten Geschenke fürs Hasenfest“). Oder denken wir an die sog. Kinderehen und Genitalverstümmelungen. Siehe etwa die Studie des Bundesfamilienministeriums vom 6.2.2017: In Deutschland sind 47.000 Frauen Opfer von Genitalverstümmelung.
In diesem Kontext eine Anmerkung zum Thema „Islam“: Der Islam ist nicht nur eine Religion, sondern mit Koran und Scharia, den Eckpfeilern des Islam, auch eine Rechts- und Gesellschaftsordnung. Insoweit ist der Islam nicht vereinbar mit dem Grundgesetz. Will sagen: Muslime gehören zu Deutschland, aber nicht der Islam! Der sog. „moderne Islam“ ist ein Mythos. Siehe Basam Tibi: Er ist Syrer, Moslem und weltweit renommierter Orientalist. Von ihm stammte die Idee von einem aufgeklärten Euro-Islam. Tibi hat diese Vision mittlerweile für gescheitert erklärt. Als Beleg mag genügen der dem Islam inhärente Antisemitismus und das frauenverachtende Menschenbild.
Man muss indes den Eindruck gewinnen, dass deutsche Politik davon nichts wissen will und „Unterwerfung“ im Sinne des Romans von Michel Houellebecq praktiziert. Dazu zählt auch die ständige Behauptung, die Gräueltaten von Al Quaida oder IS hätten nichts mit dem Islam zu tun. Natürlich haben sie damit zu tun. Diese Taten sind nicht unislamisch, sondern konsequent islamisch (siehe Sabatina James in ihrem Buch „Scharia in Deutschland“ von 2015 und andere namhafte islamische Schriftsteller).
Immer häufiger hat man den Eindruck, wir passen uns in einem falschen Verständnis von Toleranz, Vielfalt, Bereicherung und Kultursensibilität unter Preisgabe des uns eigenen Menschenbildes schleichend an. Unsere mittel- und osteuropäischen Partner sind diesbezüglich sensibler. In ihrer historischen DNA sind die Sorgen vor solchen Entwicklungen stärker verankert.
3. In Europa machen sich bedenkliche ersatzreligiöse (Groß-) Ideologien breit. Europa muss sich deshalb wieder auf Ideologiekritik besinnen.
Für viele sind das Soziale oder die Klimakatastrophe oder der Antifaschismus oder die Anti-Atomkraft-Bewegung zur Religion geworden. Auch sonst erleben wir alljährlich – selbst auf Kirchentagen – ein Patchwork an Religionsversatzstücken und einen bunten Synkretismus, der alle Gegensätze vereint: Astrologie, Kosmologie, Reinkarnation, Zen, Buddhismus, Esoterik, magische und okkulte Praktiken. Dazu kommt der quasireligiöse, sich in Schöpferpose gerierende Genderismus! Warum all dies? Weil der Mensch offenbar Religion braucht. Zumindest Religion light!
1989 verkündete Francis Fukuyama das Ende der Geschichte, und er meinte, dass jetzt die liberale Ordnung gesiegt habe, weil sich alle Ideologien erschöpft hätten. Fukuyama liegt falsch. Richtig liegt Joachim Fest: "Die vom Sozialismus gebundenen Bedürfnisse nach einem Glauben und einer Daseinsbotschaft sind mit dessen Ende ziellos geworden und werden nicht lange damit warten, neue Uniformen anzulegen und unter neuen Fahnen zu neuen Phantasiereichen aufzubrechen." Ersatzreligiöse Uniformen, könnte man sagen.
4. Europa muss reflektieren, woran große Kulturen scheiterten.
Europa ist gefährdet. Viele wollen davon nichts wissen. Für sie gilt, was Reiner Kunze in seinem Gedicht „Teurer Rat“ (2006) geschrieben hat: „Nicht ratsam ist´s, verfall / Verfall zu nennen / Vor der katastrophe.“ Alexander Demandt („Das Ende der Weltreiche“ bzw. „Der Fall Roms“) schreibt: „Dekadenz ist die Verbindung verfeinerten Lebensstils mit sinkender Lebenskraft, eines Zuviel an Subtilität mit einem Zuwenig an Vitalität.“ Für besonders folgenschwer ist nach Einschätzung von Demandt die Schwächung des militärischen Bereichs; es gab kaum noch Freiwillige. Karthago und Rom seien untergegangen, weil deren Bürger nicht mehr zur Selbstverteidigung bereit waren.
Samuel P. Huntington rüttelte den Westen mit seinem 1993 erschienenen Aufsatz und seinem dann 1996 veröffentlichten Buch „The clash of civilizations“ („Der Kampf der Kulturen“) auf. Laut Huntington sind die Anzeichen der „inneren Fäulnis“ des Westens unübersehbar: Geburtenrückgang, Überalterung, Zunahme der Asozialität, Auflösung der Familienbande, Zunahme egomanischer Attitüden, Schwinden der Autorität von Institutionen, Hedonismus, Rückgang des Sozialkapitals, d. h. der Mitgliedschaft in Vereinen, das Schwinden des zwischenmenschlichen Vertrauens, Nachlassen des Arbeitsethos und zunehmender Egoismus, abnehmendes Interesse an Bildung. Und der vormalige Kardinal Ratzinger und spätere Papst Benedikt XVI. im Jahr 2000: „Europa scheint in der Stunde seines äußersten Erfolgs von innen her leer geworden … Es gibt eine seltsame Unlust an der Zukunft … Kinder, die Zukunft sind, werden als Bedrohung der Gegenwart gesehen … Sie werden als Grenze der Gegenwart gesehen.“
Womöglich bedarf es der Herausforderung des Islamismus, damit die inneren Kräfte Europas sich wieder konstituieren. Zugleich gilt unvermindert Georges Santayana: Wer die Geschichte ignoriert, muss darauf vorbereitet sein, sie zu wiederholen.
5. Ein westlicher Masochismus dient weder Europa noch der Welt.
„Die ganze Welt hasst uns, und wir haben es verdient: Dies ist die feste Überzeugung der meisten Europäer, zumindest im Westen.“ Diesen provokanten Satz schreibt der französische Philosoph Pascal Bruckner in seinem 2008 auf deutsch erschienenen Buch „Der Schuldkomplex – Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa“. (Die Originalausgabe ist 2006 anders überschrieben, nämlich auf deutsch mit: „Die Tyrannei der Buße. Essay über den westlichen Masochismus“.) Übrigens: Auch Joseph Kardinal Ratzinger sprach im Jahr 2000 vom „Selbsthass des Abendlandes“.
Leider aber verhält sich die politische Klasse in Europa bisweilen wie Jakob Biedermann in Max Frischs Einakter „Biedermann und die Brandstifter“ von 1958. Darin nisten sich bei dem Haarwasserfabrikanten Jakob Biedermann der Ringer Josef Schmitz und der Kellner Eisenring im Dachboden ein. Biedermann will die Gefahr der Brandstiftung selbst dann noch nicht wahrhaben, als Schmitz und Eisenring Benzinfässer und Zündschnüre in den Speicher schleppen und bereits Nachbarhäuser brennen. Biedermann bietet sogar Streichhölzer an. Er will die Realität nicht wahrhaben: „Blinder als blind ist der Ängstliche, / Zitternd vor Hoffnung, es sei nicht das Böse, / Freundlich empfängt er`s, / Wehrlos, ach, müde der Angst, / Hoffend das Beste . . . / Bis es zu spät ist.“
6. Die Grenzen der Toleranz sind dort, wo Intoleranz beginnt.
Mit der Gesinnungsdiktatur einer „Political Correctness“ geben wir Europa preis. Das tun selbst die sog. Bürgerlichen in diesem unserem Lande. Es fehlt der Kompass, es fehlt ein Wertekanon; statt Prinzipien gibt es Situations-Ethik. Aus reiner Bequemlichkeit oder aus Sorge, einmal einen kritischen Kommentar eines „Gutmenschen“ zu bekommen, beugt man sich dem „Mainstream“. Damit aber wird die „Schweigespirale“ weitergedreht. Toleranz wird damit zur Farce. Dabei dürfte eines klar sein: Begegnen sich Toleranz und Intoleranz, siegt die Intoleranz. Oder mit anderen Worten: Toleranz endet dort, wo sie Intoleranz zu dulden beginnt.
Konkret: Eine schleichende Islamisierung bestimmter Gegenden und Stadtteile in Deutschland darf nicht mit dem naiven Argument der „Bereicherung“ geduldet werden. Für den Holocaust-Überlebenden Ralph Giordano wäre dies „Duckmäuserei“ (FAZ, 3.5.2009). Wir müssen auch aufräumen mit dem Mythos vom toleranten Islam, z.B. in Spanien (912 – 1031). Allein die Schädelminarette sind Beweis gegen die Annahme des toleranten Islams.
7. Identität entspringt konzentrischen Identitätskreisen. Der Kern von Identität schöpft aus der Familie. Darum herum folgt als erster und nächster konzentrischer Kreis die Heimat, dann die Nation, dann Europa, dann ggf. ein Weltbürgertum.
Mit anderen Worten: Europäische Identität und nationaler Patriotismus sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Europäische und nationale Identität sind zwei Seiten ein und derselben Medaille namens „Identität“. Ortega y Gasset beschreibt es 1929 so: „Machten wir heute eine Bilanz unseres geistigen Besitzes ..., so würde sich herausstellen, dass das meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern dem gemeinsamen europäischen Fundus entstammt. In uns allen überwiegt der Europäer bei weitem den Deutschen, Spanier, Franzosen ...; vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut.“
Dies bekommen die jungen Leute zu wenig vermittelt. Aber gerade die junge Generation braucht einen Impuls zur Entwicklung einer zugleich nationalen und europäischen Identität. Die Basis dafür wäre ein Verständnis von einem Europa der Vaterländer (de Gaulle).Hierzu würde sogar die Vorstellung von einem europäischen Patriotismus passen, nämlich europäische und nationale Identität nicht als Gegensatz, sondern als Ergänzung. Es ist auch ein Irrweg zu glauben, man könne Patriotismus auf Verfassungspatriotismus reduzieren. Denn Verfassungspatriotismus erfasst nur das bloße rationale Bekenntnis zu einem Rechtssystem. Damit aber sind keine emotionalen Bindungen gestiftet. Nur Verfassungspatriotismus, das wäre so, wie wenn man das Fußballspiel nur wegen seiner Regeln mögen dürfte.
Das impliziert, dass ein Staat, wie es die EU-Staaten sind, Grenzen haben darf. Peter Sloterdijk spricht davon, dass wir ein Lob der Grenze verlernt haben. Er kritisiert die typisch deutsche Haltung, eine Grenze sei dazu da, sie zu überschreiten. Sloterdijk weiter: Es gibt keine moralische Pflicht zur Grenzenlosigkeit oder gar zur Selbstzerstörung.
Jedenfalls wäre für Europa nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Entwicklungen in den USA und im Nahen Osten also das Motto angesagt: „Make Europe Great Again!“
Josef Kraus ist viel gefragter Bildungsexperte und Buchautor. Er war bis Juni 2017 mehrere Jahrzehnte Präsident des Deutschen Lehrerverbandes.