Bei aller Betroffenheit über die Einzelschicksale, muss der Blick auf die statistischen Zahlen erlaubt sein. Und die widerlegen den Alarmismus der Rechtsmediziner: Ihre Behauptung, dass jährlich mehrere hundert Kinder von ihren Eltern getötet werden, entbehren einer seriösen Grundlage. Denn jährlich sterben in Deutschland etwa 350 Kinder an tödlichen Verletzungen. Zu den tödlichen Verletzungen zählen in der Todesursachenstatistik alle Arten von Unfällen (im Verkehr, in der Schule, beim Sport und zu Hause), Suizide und tätliche Angriffe sowie unbestimmte Fälle. Mehr als achtzig Prozent der Todesfälle machen Unfälle aus, die Zahl der Suizide und auch der Todesfälle durch tätliche Angriffe ist relativ gering. Nur etwa 40 Kinder im Jahr sterben durch tätliche Angriffe, wobei wohl die meisten, aber nicht alle diese Angriffe von den Eltern ausgehen. Schwer zu beurteilen sind die ca. 170 "Heim- und Freizeitunfälle" (5).
Vernachlässigung durch die Eltern kann zu manchen dieser Unfälle beigetragen haben. Die Zahl der statistisch erfassten Fälle von Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern mit Todesfolge liegt also nicht in den Hunderten, sondern deutlich unter hundert.
Nun ist immer davon auszugehen, dass es eine gewisse "Dunkelziffer" unentdeckter Fälle gibt, denn die Richtigkeit der Todesursachenstatistik hängt von den Angaben der Ärzte ab. Hier mag es im Blick auf die richtige Diagnose von Kindesmisshandlungen als Todesursache noch immer gewisse Defizite geben. Im Vergleich zu früher dürften sie aber geringer geworden sein, denn die Sensibilität gegenüber physischer Gewalt an Kindern ist gewachsen, seit 2000 ist sie auch gesetzlich geächtet (6). Damit ist die Neigung, Fälle von Kindesmisshandlungen anzuzeigen gestiegen. Trotzdem zeigt die Statistik eine positive, rückläufige Tendenz: Im Vergleich zum Jahr 2000 ist die Zahl der Kinder, die an tödlichen Angriffen starben, um mehr als die Hälfte gesunken (7). Das Risiko für Kinder, häuslicher Gewalt zum Opfer zu fallen, ist im Vergleich zu früheren Jahrzehnten stark gesunken: Um 1980 gab es bezogen auf 100.000 Kinder 1,5 Fälle von Kindestötungen, heute sind es etwa 0,5 Fälle (8). Trotz erschütternder Einzelfälle ist die generelle Tendenz zu sehen: Nie zuvor gab es weniger Gewalt in der Kindererziehung als heute und nie zuvor waren Eltern so besorgt um die Gesundheit ihrer Kinder. Sie sind die natürlichen Advokaten ihrer Kinder - der Staat ist (Art. 6 GG) Wächter, aber nicht Obererzieher, was manchmal in Vergessenheit zu geraten droht.
(1) So Michael Tsokos in seinem Buch "Deutschland misshandelt seine Kinder". Am 8.2.2014 erläuterte er im Deutschlandfunk-Interview seine Thesen: http://www.deutschlandfunk.de/... leid-der-kinder-kasse-machen.694.de.html?dram:article_id=276951. Sachlich-kritisch hierzu: Julia Schaaf: Jede Familie tickt anders. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 03.02, http://www.faz.net/....
(2) Vgl: "Herausnahmen aus Familien im Zeitvergleich" (Abbildung).
(3) Siehe hierzu: http://www.fruehehilfen.de/....
(4) http://www.bmfsfj.de/....
(5) Vgl.: Statistisches Bundesamt: Wie leben Kinder in Deutschland? Wiesbaden 2011, S. 36. Die letzten Zahlen beziehen sich hier auf das Jahr 2009. Die Schätzungen in der Nachricht geben diese Zahlen näherungsweise wieder, angesichts der längerfristig rückläufigen Tendenz dürften die, noch nicht vorliegenden, aktuellen Zahlen eher noch geringer sein.
(6) Siehe hierzu: http://altewebsite.i-daf.org/....
(7) Vgl.: Statistisches Bundesamt: Wie leben Kinder in Deutschland? a.a.O., S. 36.
(8) Helmut Thome/Christoph Birkel: Sozialer Wandel und Gewaltkriminalität. Deutschland, England und Schweden im Vergleich, 1950-2000, Wiesbaden 2007, S. 353-354.