Nach wie vor liegt der Akzent auf ihrem asexuellen Auftritt. Das hat Christine Eichel in ihrem schönen Buch über das protestantische Pfarrhaus als Hort des Geistes und der Macht überzeugend herausgearbeitet: „Die modische Zurückhaltung der Kanzlerin wirkt auch deshalb adäquat, weil sie mit ihren immer gleichen farbigen Blazern und schwarzen Hosen im Grunde die Uniform der Dienenden trägt. Nicht die Staatslenkerin steht am Rednerpult, sondern die Staatsdienerin. Keine modische Übertreibung, keine Weiblichkeit, keine Koketterie lassen das Amt hinter der Person zurücktreten. Sie gibt sich so asexuell, wie man die Frauen in Pfarrhäusern gern hatte. Schon in der Schule hieß es, sie hätte keinem Jungen die Augen verdreht. Uniformen wie auch der Talar des Pfarrers vermitteln eine Botschaft: Ich nehme mich nicht wichtig, ich gehe in meinem Berufsstand auf und ordne ihm meine Persönlichkeit unter.“
Am Beginn ihrer politischen Karriere war Angela Merkel nicht nur eine uninteressante Erscheinung, sondern geradezu auffallend unauffällig.Ihr Image hatte deshalb nur zwei Entwicklungsdimensionen: Fleiß und Selbstbeherrschung. Dass dies von den Deutschen als authentischer, überzeugender Auftritt empfunden wurde, kann man aber nur verstehen, wenn man sich daran erinnert, gegen wen sich das Pfarrhausmädchen aus der DDR durchgesetzt hat. Angela Merkel hatte das Glück, einen doppelten Kairos zu erwischen. Zum einen gab es mit dem Spendenskandal der CDU die unverhoffte Möglichkeit, den Koloss aus Oggersheim zu stürzen. Zum anderen hatte die Agenda 2010 die rot-grüne Regierung in die Krise gestürzt.
Die Mutti eines neuen Biedermeiers
Durch diese Krise wurden zwei Figuren demontiert, die bisher souverän die politische Szene beherrschten. Gerhard Schröder und Joschka Fischer waren Glamour Boys mit männlichem Sex-Appeal, denen das Regieren Spaß machte. …. Angela Merkel war die exakte Gegenfigur zu diesen Machos. Nach den Rock’n’Rollern und Streetfighting Men kam die Mutti eines neuen Biedermeier. Mit ihr betritt ein analytischer Kopf die politische Bühne. Sie ist fleißig und diszipliniert, kinderlos, geschieden und, seien wir ehrlich, manchmal hässlich. Aber gerade das schützt sie vor der Eitelkeit, die Schröder und Fischer zu Fall gebracht hat. Unter den kommunistischen Diktatur war Merkel keine Widerstandskämpferin. Aber sie hat den Zusammenbruch des Kommunismus sofort entschlossen für einen Sprung in die Politik genutzt. Angela Merkel stammt nicht nicht nur aus einem protestantischen Pfarrhaus, sondern aus einem in der DDR. Von Kindesbeinen an hat sie einen intelligenten Opportunismus im Verhältnis zur DDR eingeübt. Man könnte auch sagen: Die Kunst des Überlebens. Und deshalb ist ihr Machiavelli genauso nah wie die Bergpredigt.
Dafür gibt es ein interessantes Symptom. Wenn wir davon ausgehen, daß in der Medienwirklichkeit der Auftritt, die Performanz zählt, dann muss sich unsere Aufmerksamkeit auf Merkels berühmte eingefrorene Geste richten: Die Raute. De facto resultiert sie aus dem Versuch, einen stabilien Platz für die Arme zu finden, mit denen sie nichts anzustellen weiß. Mittlerweile aber ist sie zum international bekannten Symbol geworden. Für was? Für Ruhe und Kraft, Harmonie und Zusammenführung, Besonnenheit und Status quo – you name it!
Für die CDU war die Raute schließlich das Nonplusultra des Wahlkampfs. Aber man kann in Angela Merkels Raute auch eine Demutsgeste sehen, die ihren Machiavellismus verdeckt. Der Aufstieg von Kohls „Mädchen“ zur mächtigsten Frau der Welt ist deshalb so verblüffend, weil man Angela Merkel aufgrund ihres bescheidenen, unprätentiösen Auftretens eines am allerwenigsten zugetraut hätte: Einen gewaltigen Willen zur Macht.
Angela Merkel hatte vor ihrem Sprung in die westdeutsche Politik nur unter der SED-Diktatur gelebt. Da konnte sich Freiheitsverlangen bilden, aber kein alltägliches Demokratieverständnis. Demokratie hat sie sich buchstäblich angelesen. Ihre analytische Schärfe und ihre Durchsetzungskraft werden weltweit bewundert, aber sie gehen mit der autoritären Attitüde einher, stets die absolut richtige Entscheidung getroffen zu haben. Wer das in Zweifel zieht, wird aus dem Verkehr gezogen oder mundtot gemacht. Diese Rhetorik der Alternativlosigkeit hat natürlich für viele Menschen einen Entlastungseffekt. Man muß nur Mutti folgen, dann ordnet sich die Welt. Aber diese Rhetorik hat auch den Effekt, dass sich innerhalb der CDU und der Regierung gar kein Alternativenbewußtsein mehr bilden kann. Deshalb war es garnicht überraschend, daß sich angesichts der Euro-Krise und des Griechenland-Debakels, als Angela Merkel penetrant behauptete, es gebe zu ihrer Politik keine Alternative, eine neue Partei bildete, in deren Namen schon das ganze Programm steckte: Alternative für Deutschland. Was auch immer aus dieser neuen Partei bis heute geworden sein mag – ihr Gründungsimpuls war zutiefst demokratisch.
Alternativlos präsentiert sich aber nicht nur Merkels Politik, sondern auch ihre Person. Die seltenen Talkshows mit ihr, in denen sie natürlich der einzige Gast ist, verwandeln sich sofort in unterwürfige Hofberichterstattung. In Peter Altmaier verfügt sich über eine unwiderstehliche rhetorische Dampfwalze, die den Weg ihrer alternativen Politik planiert. Und wer sonst noch als Christdemokrat öffentlichkeitswirksam auftreten will, muß sich der Schar der Schmeichler und Mutti-Anhänger anschließen. Niemand wagt es, gegen sie aufzustehen. Auch CSU-Chef Seehofer bildet da keine Ausnahme.
Es ist Merkels größte Stärke, ihre Schwächen in Stärken verwandeln zu können. Wie geschickt sie ihre Unscheinbarkeit als Statement von Sachlichkeit und Glaubwürdigkeit inszeniert, haben wir bereits gesehen. Ähnliches gilt für eine weitere Schwäche, die für einen Politiker eigentlich fatal sein müsste: Angela Merkel kann nicht gut reden. Max Weber hatte ja noch die Vorstellung, Politik sei Kampf und dieser Kampf werde als Redeschlacht im Parlament ausgetragen. Davon haben wir uns mit der Pfarrerstochter aus der DDR unendlich weit entfernt. Es gilt eher Sokrates. Er hat die Rhetorik der Anti-Rethorik erfunden: Ich kann nicht gut reden, ich kann nur die Wahrheit sagen. Und genauso präsentiert sich Angela Merkel. Zu ihrem Kult der Einfachheit gehört auch das Schweigen als Waffe. Es erstickt jede Debatte im Keim – ob innerparteilich, parlamentarisch oder kulturell. Viele empfinden dieses neue Biedermeier als durchaus angenehm. Mutti schwebt über den Parteien und behält mit der Raute das letzte Wort.
Radikaler Umbau der Traditionspartei
Am Anfang war der Vatermord. Helmut Kohl hatte Angela Merkel als sein „Mädchen“ aufgezogen und musste plötzlich erfahren, daß er eine Schlange an seinem Busen genährt hat. Den tief in die CDU-Parteispendenaffäre verstrickten Altkanzler, der sein Ehrenwort über das Aufklärungsinteresse des Parlaments gestellt hatte, hat Merkel im Alleingang politisch ermordet. Das war scheinbar motiviert von protestantischer Rechtschaffenheit, aber gnadenlos machiavellistisch exekutiert. Seither liebt sie es, Alpha-Tiere abzuservieren. Es kann deshalb nicht überraschen, daß es seit Jahren für sie keinen Herausforderer mehr gibt, weder in der Partei noch im Parlament. Und daran wird auch Martin Schulz nichts ändern, der von den SPD-Fans nur deshalb so enthusiastisch gefeiert wurde, weil er ein unbeschriebenes Blatt ist, auf das jeder seine Sehnsüchte projizieren kann. …. Nach dem politischen Vatermord hat Angela Merkel eine rigorose Strategie der Modernisierung der CDU verfolgt – mit so durchschlagendem Erfolg, dass man heute beim besten Willen nicht mehr sagen kann, was konservativ an dieser Partei sein soll. Seither sind die konservativen Bürger in Deutschland heimatlos. Durch eine konsequente Sozialdemokratisierung und Vergrünung hat Merkel die CDU entkernt. Machtpolitisch betrachtet war das ein genialer Schachzug. Da die SPD-Basis immer schon größte Vorbehalte gegen Schröders Agenda 2010 gezeigt hat, war es für Merkel ein Leichtes, sich selbst als deren Verteidigerin zu positionieren. Dies – und nicht erst die Große Koalition – hat es in der SPD fast unmöglich gemacht, sachliche Kritik an der Kanzlerin zu artikulieren, die praktisch sozialdemokratische Politik exekutiert. Gleichzeitig hat Merkel den Grünen alle wesentlichen Themen weggenommen. Mit der Entscheidung, aus der Atomenergie auszusteigen, ist das jedem deutlich geworden. Es ist daher nicht verwunderlich, daß die Kanzlerin gerade unter Grünen-Politikern viele Fans hat.
Ein derart radikaler Umbau einer Traditionspartei war nur möglich, weil Angela Merkel immer ein Fremdkörper in der CDU gewesen ist. Die bürgerlich-konservative Geschichte dieser Partei ist für sie unverbindlich.
Auf der Suche nach dem Erfolgsgeheimnis von Angela Merkel stoßen wir schließlich auf den Mythos von der nüchternen Naturwissenschaftlerin. Daß sie an der Karl-Marx-Universität in Leipzig zur Physikerin ausgebildet wurde und heute mit einem Physikochemiker verheiratet ist, weckt die Erwartung von Sachlichkeit und analytischer Intellektualität. Und tatsächlich steht sie für eine durchaus ideenfreie Politik des Opportunismus…. und der Fähigkeit, auf Unvorhergesehenes geistesgegenwärtig und elastisch zu reagieren. Es spricht also vieles für Charles Lindbloms Definition der Politik als Wissenschaft vom Sichdurchwursteln. …. Doch alles änderte sich am 11. März mit der Reaktorkatastrophe in Fukushima. Fügen wir hier gleich hinzu, daß schon zuvor und verstärkt dann 2012 in Griechenland Merkel aufgrund ihrer Euro-Politik mit Hitler verglichen wurde. Beides muss sie traumatisiert haben. Denn von nun an startet sie ihre Alleingänge in Europa, ja in der Welt – Alleingehen, das natürlich als Vorausgehen interpretiert wird. Mit der Energiewende nach Fukushima und der Willkommenskultur, die mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gebracht hat, sind zwei emotionale Großentscheidungen gefallen, die unser Land in unabsehbarer Weise verändern werden. Wohgemerkt: emotionalen Großentscheidungen. Denn man kann nicht von Strategie, sondern nur von Hysterie sprechen, wenn ein Land aufgrund einer Havarie auf der anderen Seite des Globus plötzlich entscheidet, aus der Atomenergie auszusteigen, während die restliche Welt weiter Atomkraftwerke betreibt, und zwar gerade auch die Nachbarn Deutschlands, und eben auch nach wie vor Japan. Dieser deutsche Alleingang zwingt uns zu der Interpretation, daß wir die einzig Vernünftigen in einer Welt von Verblendeten sind. Das Gleiche gilt für die Flüchtlingskrise. Kein anderes Land denkt auch nur im Traum daran, Flüchtlinge in ähnlicher Zahl wie Deutschland aufzunehmen. Müssen wir daraus schließen, daß wir die einzig Guten sind, der Rest der Europäer aber herzlos ist?
Weltmeister im Guten
Man müsste tief in der deutschen Nachkriegsseele loten, um zu erklären, warum diese emotionalen Großentscheidungen fast widerstandslos akzeptiert wurden. Was sie Merkel politisch gebracht haben, ist allerdings leicht zu sagen. Mit der „Energiewende“ hat sie das stärkste grüne Oppositionssymbol „Atomkraft? – Nein Danke“ aus der Welt geschafft. Und mit der „Willkommenskultur“ hat sie sich an die Spitze der Gutmenschenbewegung gesetzt. Die asexuelle Physikerin entpuppt sich als Mutter Teresa. Dass sie genau das kommunizieren will, machen die berühmten Selfies mit Flüchtlingen klar.
Mit ihren emotionalen Großentscheidungen hat Angela Merkel den Deutschen das größte Selbstopfer seit dem Zweiten Weltkrieg zugemutet. Wer nach den Gründen fragt, wird zwangsläufig zum Hobbypsychologen. …. Spekulierte sie auf den Friedensnobelpreis? Es ist ja leicht erkennbar, daß der Spruch „Wir schaffen das“, mit dem sie in die Geschichte eingehen wird, eine deutsche Kopie von Barack Obamas Wahlkampfslogan war. Aus dem „Yes, we can“, das dem amerikanischen Präsidenten schon kurz nach Amtsantritt, also ohne dass er schon etwas geleistet haben konnte, den Friedensnobelpreis einbrachte, wurde das merkelsche „Wir schaffen das“. … Der Merkel-Slogan möchte suggerieren, daß nicht die Kanzlerin allein, sondern wir alle diese Jahrhundertentscheidungen getroffen haben, eine Million Flüchtlinge weitgehend unkontrolliert ins Land zu lassen. „Wir schaffen das“ ist das Spitzenprodukt einer Rhetorik der Alternativlosigkeit.
Natürlich gab es auch kritische Stimmen. Aber sie waren in den Mainstream-Medien kaum öffentlichkeitswirksam. Die politische Korrektheit hat sie von Anfang an als „rechtspopulistisch“ marginalisiert – und das gilt bis zum heutigen Tag nicht nur für die AfD, sondern auch für die Regierungspartei CSU. Dennoch ist es erstaunlich, daß auch die prominenteste dieser kritischen Stimmen kaum Gehör fand. Auf Veranlassung des Freistaats Bayern legte der Verfassungsrechtler Udo di Fabio ein Gutachten vor, das Merkels Politik fortdauernden Rechtsbruch bescheinigt. Indem sie die in Ungarn befindlichen Flüchtlinge nach Deutschland schleuste, setzte Angela Merkel das Dublin-Verfahren der EU und eine wirksame Kontrolle der eigenen Landesgrenzen außer Kraft. Als hätte die Pfarrerstochter über die Realpolitikerin gesiegt, galt humanitaristische Moral mehr als Verfassungsrecht.
Wir können dahingestellt sein lassen, ob di Fabios Gutachten zutreffend ist oder nicht. Viel wichtiger ist die Frage, warum dieser gravierende Vorwurf des Rechtsbruchs keine ernsthafte öffentliche Diskussion auslöste. Warum ließen sich die Massenmedien die Chance einer Skandalisierung entgehen? Die Antwort kann man an ähnlichen, aber kleinformatigeren Fällen ablesen, zum Beispiel Manfred Stolpe, der mit seiner Stasi-Vergangenheit konfrontiert wurde, und Joschka Fischer, dem man die aktive Teilnahme an gewalttätigen studentischen Demonstrationen nachweisen konnte. Der Medienwissenschaftler Hans Mathias Kepplinger hat sehr schön gezeigt, dass die Skandalisierung in diesen Fällen scheiterte, weil ihr die politischen Interessen der Journalisten selbst im Weg standen. Das gilt eben auch für Angela Merkel. Sie repräsentiert die humanitaristischen Positionen der meisten Journalisten. Dafür gibt es weltweit Beifall, der allerdings von Heuchelei kaum zu unterscheiden ist. Wer hierzulande naiv genug ist, sonnt sich seither in dem Wohlgefühl: Wir sind Weltmeister im Guten.
Buchhinweis: Philip Plickert (Hrsg.), Merkel - Eine kritische Bilanz. Mit Beiträgen von Thilo Sarrazin, Necla Kelek, Norbert Bolz, Cora Stephan, Roland Tichy und anderen. FinanzBuch Verlag (FBV, www.finanzbuchverlag.de), München, 2017, 254 S. hier: 18-27.