Zunächst muss man anerkennen, dass Jean-Claude Juncker mit der Wahl des Datums der Veröffentlichung Mut beweist. Schließlich stehen in drei EU-Gründerstaaten Wahlen an. In den Niederlanden wird am 15. März gewählt und Geerd Wilders von der Partei für die Freiheit liegt in Umfragen vorne. In Umfragen führt auch Marine Le Pen in Frankreich, wo am 23. April und am 7. Mai 2017 die Präsidentschaftswahlen stattfinden. In Deutschland ist die AfD als drittstärkste Partei in den Umfragewerten etabliert. Wie ausgeprägt euro-kritisch diese drei Parteien auch sein mögen, den Realitätstest müssen sie erst noch bestehen. Das kann man aber auch von denjenigen sagen, die noch immer das Leitmotiv der erfolglosen zehn Barroso-Jahre verfolgen: „Mehr Europa ist die Lösung“. Man kann sich auf einen harten Schlagabtausch zur Zukunft der EU freuen und hoffen, dass die kleinen reformfreudigen Parteien auch aus ihrer Außenseiterrolle heraus konkrete und konstruktive Beiträge zur Zukunft der EU leisten. Von den traditionell EU-freundlich eingestellten Parteien hingegen darf man sich wünschen, dass nicht jeder Reform-Vorschlag sogleich als „EU-feindlich“ oder „anti-demokratisch“ abgestempelt wird.
Mutig oder nicht - Jean-Claude Juncker hat nichts mehr zu verlieren. Seinen Platz auf dem Schleudersitz im Raumschiff Brüssel hat er innerlich bereits gekündigt. Juncker nahm seinen Abschied als Kommissions-Präsident im Hörfunk vorweg - und niemand weinte dem Präsidenten der „Kommission der letzten Chance“ eine Träne nach. Im „Interview der Woche” im Deutschlandfunk gab der Kommissionspräsident am 12. Februar zu Protokoll: „Ich habe Wahlkampf geführt in vielen europäischen Ländern ... Ein schöner Wahlkampf war das. Es wird aber keinen zweiten in der Form geben, weil ich nicht noch einmal antreten werde. Und ich habe damals gemerkt, dass es an dem Grundeinverständnis fehlt, über die Dinge, die in Europa zu leisten sind. Wollen die Ungarn und die Polen genau das Gleiche wie die Deutschen und wie die Franzosen? Da habe ich erhebliche Zweifel. Also muss man irgendwo wieder den Grundkonsens herstellen. Das ist eigentlich eine Aufgabe für die nächsten zwei, drei Jahre: Während wir mit den Briten verhandeln, müssen wir uns, wenn wir Endzeitstimmung vermeiden möchten, über die endgültigen Vorstellungen des Kontinentes über sich selbst verständigen.“
„Ich werde nicht noch einmal antreten“ - Juncker will raus aus der Brüsseler Schlangengrube. Und niemand kommentierte seine Leistungen oder ermunterte ihn zum Weitermachen, weder Bundeskanzlerin Merkel (CDU) und nicht einmal sein Freund Martin Schulz (SPD). Das lässt vermuten, dass das Ende der kurzen Juncker-Ära sowieso schon beschlossene Sache ist. Juncker gab auch zu, dass es ihm als Kommissions-Präsidenten nicht gelang, ein gemeinsames Grundverständnis über die EU wiederherzustellen. Dass er jedoch ausgerechnet Polen und Ungarn als Beispiele nennt, legt nahe, dass er als Kapitän von Raumschiff Brüssel wirklich weit der Realität enthoben ist. Schließlich handelt es sich um zwei Mitgliedsstaaten, deren demokratisch legitimierten Regierungen von der Juncker-Kommission (unterstützt von den Mainstream-Medien) ununterbrochen als „Gefährder des Rechtsstaats“ traktiert werden, nur weil die wahlberechtigten Polen und Ungarn nicht die von Brüssel präferierten nationalen Parteien in die Regierung wählten, und weil deren Bevölkerung die gesellschaftspolitischen Vorgaben aus Brüssel überwiegend ablehnt. Kann man den Polen verübeln, dass sie nicht den Brüsseler Weisungen blind folgen, wenn Junckers erster Vizepräsident, Frans Timmermans, ihnen die "Erlösung von der immerwährenden Unterdrückung der katholischen Kirche" in Familienfragen wünscht? Kann man den Ungarn den kritischen Blick auf Brüssel verübeln, wenn Juncker ihren Regierungschef Viktor Orban beim Gipfeltreffen am 22. Mai 2016 mit „Hallo Diktator“ begrüßt - und gleichzeitig dem kubanischen Diktator Fidel Castro als „Helden für viele“ nachtrauerte? Kann man der EU-Kommission überhaupt Vertrauen schenken, wenn der erste Vizepräsident Frans Timmermans mit diesen Worten das Demokratieverständnis dieser Institution beschreibt: "Wir wollen unsere Sichtweise nicht denjenigen Europäern aufzwingen, die unsere Sichtweise nicht teilen. Aber wir glauben inbrünstig daran, dass das, was bereits in einigen Nationen Europas entdeckt wurde, allen anderen Nationen nicht vorenthalten werden darf."
Das ist die traurige Erkenntnis der letzten Jahre: Das Vertrauen in die EU-Institutionen ist schwierig geworden, vor allem für die diktaturerprobten zehn neuen Mitgliedsstaaten aus Mittel- und Osteuropa. Es ist aber nötig, dieses Vertrauen in die EU-Institutionen wieder aufzubauen - und die Feierlichkeiten in Rom zum 60. Geburtstag der Römischen Verträge könnten dafür einen neuen Impuls geben.
Das Verhalten der Parteien im Europa-Parlament gibt für Hoffnung allerdings wenig Raum. So wird zum Beispiel über das Erbe des ausgeschiedenen Parlamentspräsidenten Martin Schulz geredet, aufgearbeitet wird es nicht. Einen entsprechenden Antrag der EFDD-Fraktion lehnten CDU/CSU und SPD im Straßburger Plenum ab. Die Presse kann zwar ausführlich die unredliche Amtsführung von Martin Schulz dokumentieren, einen „Untersuchungsausschuss Martin Schulz“ werden CDU und CSU im EU-Parlament verhindern. Bei der SPD ist das nicht verwunderlich, bei CDU/CSU allerdings schon. Ist das schon das klammheimliche Eingeständnis, daß es in Deutschland auch nach der Wahl bei der Großen Koalition bleiben soll? So kann man auch Ämter sichern und durch taktisches Zocken Vertrauen zerstören.
Auch unser gutes altes Europa hat es nicht leicht mit seinen Politikern.