Im Sommer erbrachte die Kommission den Beweis, dass sie und die Mitgliedsstaaten das Prinzip der selektiven Toleranz jetzt auch im Bereich der Kernkompetenz der Gemeinschaft anwendet, nämlich bei der Wirtschafts- und Währungspolitik. Hier ersetzt das Prinzip der selektiven Toleranz die euro-gemeinschaftlichen Regeln. Sanktionen werden zwar angedroht, aber nie umgesetzt. Während schon Griechenland und Frankreich aus vermutlich parteitaktischen Gründen von Vertragsverletzungsverfahren wegen der Haushaltsdefizite verschont blieben, wurden die geltenden Regeln nun ebenfalls für Spanien und Portugal einfach ausgesetzt. Beide Mitgliedsstaaten halten seit Jahren die primäre Vorgabe des Stabilitäts- und Wachstumspakts nicht ein, das nationale Haushaltsdefizit liegt seit Jahren über der Grenze von drei Prozent der Wirtschaftsleistung. Der Euro-Stabilitätspakt erlaubt eine Neuverschuldung von höchstens drei Prozent der Wirtschaftsleistung. Spanien hat 2015 ein Defizit von 5,1 Prozent, Portugal von 4,4 Prozent. Eigentlich müssten 2016 automatisch die in den Verträgen von allen Mitgliedsstaaten anerkannten Prozduren greifen. Das liessen die Finanzminister der EU-Mitgliedsstaaten jedoch nicht zu und überstimmten die von der Kommission vorgeschlagenen Sanktionen, womit man in der Kommission auch gerechnet hatte.
Noch im Frühjahr diesen Jahres hatte die EU-Kommission Sanktionen mit Verweis auf die Parlamentswahl in Spanien Ende Juni abgelehnt. Zwischen Brüssel und den Hauptstädten geht es also gar nicht mehr um die Zukunft der Union und ihrer Währung, sondern um Entscheidungen je nach politischer Konjunktur und Opportunität. Das Argument, nationale Politiker würden die Schuld fürMisserfolge in ihren Mitgliedsstaaten immer auf die EU-Behörden in Brüssel schieben, spielt dabei sicher eine Rolle. Federführend im Falle Spaniens war Valdis Dombrovskis, der für den Euro zuständige Vizepräsident der Kommission, er gehört wie der spanische Rgierungschef Rajoy zur christdemokratischen Parteienfamilie (EVP).
Während man also im Kernbereich Milde walten lässt, ist man im sozialen Bereich umso härter. Der Erste Vizepräsident der EU-Kommission, der Sozialdemokrat Timmermans, lässt nichts unversucht, den konservativen Regierungen in Polen und in Ungarn den Willen (massgeblich linksliberal orientierten) EU-Behörden aufzudrücken. Das ist eben selektive Toleranz, manche würden es vielleicht diplomatisch unkorrekt ideologisch gesteuerte Willkür nennen. Fakt ist : Wenn die Kommission sich weiter im Kernbereich der EU fahrlässig und opportunistisch zeigt und sich gleichzeitig im gesellschaftspolitischen Bereich an einzelnen Mitgliedsstaaten auszutobt, deren demokratisch gewählte Mehrheiten ihr Wahlprogramm umsetzen, dann darf sie sich nicht wundern, daß sie immer weniger ernst genommen wird. Die eigentlich fatale Wirkung aber ist die : Diese selektive Toleranz untergräbt die Rechtsgemeinschaft und ohne funktionierendes Recht kann es auch keine politische Gemeinschaft geben. Die führenden Politiker wie EU-Präsident Martin Schulz und Jean Claude Juncker, die ständig nach « mehr Europa » rufen, gleichzeitig aber diese selektive Toleranz üben, zerstören genau das, was sie verlangen. Und das Schlimmste ist : Sie merken es noch nicht einmal.